Freestyle Religion. Uwe Habenicht
„‚Enttraditionalisierung‘ meint: kollektive Religion zerfällt. Wie, in was? In all das, was in der Kirche zusammengebunden war: Riten, Lebensführung, Kollektividentität, Moral, subjektiver Glaube. Diese Komponenten verselbständigen sich und werden teilweise unabhängig voneinander organisiert, nachgefragt und individuell neu kombiniert.“18
Das große Leintuch der Religion, auf dem geboren und unter dem gestorben, an dem gegessen und geteilt, gemeinsam gesungen und gebetet, Fülle erlebt und Leere ertragen wurde, dieses große Leintuch hat die Spätmoderne in viele Einzelflicken zerschnitten, die nun denen zum Verkauf angeboten werden, die dafür Verwendung haben.
4. Die Kirchen auf der Suche nach einer neuen Rolle
Durch die beschriebenen Wandlungsprozesse hat sich auch die gesellschaftliche Verortung der Kirchen radikal verändert. Bereits durch die Reformation hatte nicht nur die katholische Kirche ihren exklusiven Heilsvermittlungsanspruch verloren. Im reformatorischen Verständnis war sie zwar als Rahmen individueller Frömmigkeit nach wie vor wichtig, denn in ihr wurde getauft, Abendmahl gefeiert und in der Predigt die Heilige Schrift ausgelegt. Doch ihre heilsnotwendige Funktion hatte sie verloren. Seitdem, so könnte man es etwas überspitzt formulieren, sucht sie nach ihrer Rolle. Ist sie Insider-Club für die Hochmotivierten? Servicestation für Trauungen und Beerdigungen? Anlaufstelle für alle, die beim Psychologen keinen Termin mehr bekommen haben? Wie immer sie sich versteht, sie tut sich schwer damit, ihre Führungsrolle, die sie einmal innehatte, abzugeben. Nicht selten fühlen sich auch ihre Repräsentanten und Angestellten als Opfer gesellschaftlicher Veränderungsprozesse und kämpfen innerlich mit ihrer neuen Verliererrolle.
Gibt es Alternativen zur jammernden Opferrolle? Wie könnte es den Kirchen gelingen, wieder zu fröhlichen Akteuren zu werden, die sich mit einem neuen Selbstverständnis als religiöse Akteure auf einem konkurrenzorientierten und wachsenden Religionsmarkt einbringen?
Möglicherweise beginnt eine Neuorientierung damit, dass die kirchlich Verantwortlichen sehen lernen, dass die oben beschriebenen Prozesse die Menschen heute dazu zwingen, eigenständige religiöse Wege einzuschlagen.
5. Sehnsucht und Notwendigkeit – „der eigene Gott“
Der Soziologe Ulrich Beck hat auf ein wichtiges Missverständnis hingewiesen, das im Zusammenhang mit dem Begriff der „Individualisierung“ immer wieder auftaucht. Unstrittig ist auf jeden Fall, dass die gesellschaftlichen Umwälzungen zu dem geführt haben, was gemeinhin mit „Individualisierung“ bezeichnet wird: Der Einzelne sucht sich seinen eigenen Weg durch das labyrinthische Wirrwarr der Möglichkeiten, Waren, Lebensentwürfe und Religionen. Was zunächst als positive Lust des Auswählens erscheint, entwickelt sich allerdings zunehmend als Last des Auswählen-Müssens. Individualisierung, so Beck, beschreibt eben nicht nur das freiwillige Wählen, sondern auch den Zwang zur Wahl. Wenn Lebensentwürfe und Rollen nicht mehr traditionell vorgegeben sind, muss man sich für eine Möglichkeit entscheiden und die entsprechenden Konsequenzen einer missglückten Wahl tragen. Der falsche Ehepartner und der falsche Beruf lassen sich nicht so einfach „verdauen“ wie ein falsch gewähltes Abendmenu. Und auch wer nichts wählt, trifft eine Entscheidung, die Konsequenzen nach sich zieht. Kurz: Lust und Frust, Traum und Alptraum, Höhenflug und Absturz können sehr nah beieinanderliegen und sind zum Zeitpunkt der Wahl noch nicht voneinander zu unterscheiden.
Neuzeitliche Frömmigkeit, also das, was wir heute Spiritualität nennen, bekommt in dieser existentiellen Risikosituation ihre wichtigste Funktion: Sie soll Halt geben, den eingeschlagenen Weg bestätigen, die auseinanderdriftenden und nicht selten widersprüchlichen Lebensbereiche auf einen grundsätzlichen Lebenssinn zentrieren und nicht zuletzt Krisen abfedern. Damit Spiritualität diesen anspruchsvollen Anforderungen genügen kann, muss sie passgenau sein. Meine Spiritualität muss eben zu meinem Leben passen. Individualisierte Spiritualität ist nicht nur meine Spiritualität in dem Sinn, dass ich sie gewählt, arrangiert und zusammengebaut habe. Meine Spiritualität kann nur dann auch wirklich meine sein, wenn sie zu meiner Persönlichkeit, meinen Lebensbereichen und meiner Sinnsuche passt. Das Erntedankfest vereinigte im 19. Jahrhundert die agrarisch geprägte Dorfgemeinschaft. Weil jeder mindestens ein Schwein im Stall, ein Feld zu bestellen und eine Reihe von Obstbäumen hatte, entsprach der Dank für die eingebrachte Ernte den Lebensumständen der in den Kirchenbänken Sitzenden. Die meisten Hände, die sich zum Dankgebet an diesem Tag falteten, hatten die gleichen Schwielen und Risse vom Ausmisten, Graben und Melken.
Worauf ich hinauswill: Mit der Vervielfachung der Lebensentwürfe und den zunehmend in sich abgeschlossenen Lebensbereichen erreicht die traditionelle Religionsausübung nicht mehr alle. Am Abend hat jeder 500 Fernsehprogramme zur Auswahl. Und am Sonntagmorgen sollen alle den gleichen Gottesdienst feiern?
In einer ausdifferenzierten Gesellschaft müssen religiöse Menschen notwendigerweise ihre eigene Spiritualität formen, soll diese für sie tragfähig sein. So entspricht der Sehnsucht nach Religion, deren Bedeutung in einer säkularen Gesellschaft eben nicht abnimmt, sondern zunimmt, weil das Bedürfnis nach Risikoabfederung steigt, der Notwendigkeit, eine eigene Spiritualität zu formen. Last und Lust der Individualisierung spiegeln sich so in der Sehnsucht und der Notwendigkeit eigener Spiritualität.
Ich empfinde es zunehmend als unbarmherzig, wenn von kirchlicher Seite die – zugegebenermaßen oft erstaunlichen – Spiritualitäten unserer Zeitgenossen verunglimpft werden. Wer die Not sieht, die sich hinter diesen Formen verbirgt, wird mit Sicherheit sehr viel behutsamer darüber urteilen und sprechen. Einen Ertrinkenden wird man wohl kaum auf seinen ungenügenden Schwimmstil hinweisen.
Wie eine solche zeitgenössische Spiritualität konkret aussehen könnte, darauf werfen wir anhand eines konkreten Beispiels im nächsten Abschnitt einen genaueren Blick – auch um zu sehen, ob dieses tatsächlich zu einer sinnvollen und tragfähigen Spiritualität führt.
6. „Urban mystix“
Die Kieler Theologieprofessorin Sabine Bobert hat eine postmoderne Spiritualität für „Stadteremiten“ entworfen. Unter dem Label „urban mystix“ versucht sie einen zeitgemäßen Frömmigkeitsstil zu beschreiben. Mit Hilfe eines „mentalen Wendepunkts“ (MTP – Mental Turning Point), der sich in drei Übungen vollzieht, möchte sie „Klosterübungen im Westentaschenformat“ anbieten, für die es kein abgeschiedenes Kloster braucht. Vielmehr wird der Alltag zum Übungsfeld. Die drei praktischen Übungen vollziehen sich auf den drei Ebenen, die menschliches Leben ausmachen: auf der Gefühls-, Willens- und Denkebene. Damit der Einzelne spürt, dass er autonom und selbstbestimmt handeln kann, schlägt Sabine Bobert vor, eine zweckfreie Handlung mehrmals täglich auszuführen. So kann ich erfahren, dass ich nicht ganz im z. T. fremdbestimmten Alltagsgefüge untergehe, sondern für einen kurzen Moment aussteige und tue, was ich will. Auf der Gefühlsebene geht es darum, durch bildliche Vorstellungen positive Gefühle wie Liebe oder Frieden hervorzurufen. Eine bildliche Szenerie verbindet sich mit einem Gefühl, das durch eine Imagination jeder Zeit aufgerufen werden kann. Die eigenen Gedanken werden durch ein einfaches und wiederkehrendes Mantra gezügelt und auf Wesentliches gelenkt. Durch diese drei Übungen kann der Einzelne, so Bobert, in Stufen zur Selbsterkenntnis gelangen.
Wie ist diese Spiritualität einzuordnen? Was leistet sie und was fehlt? Mir scheint, dass die von Sabine Bobert verwendete Sprache ihre Intentionen am besten spiegelt. Ich zitiere einige Stellen und kommentiere diese kurz.
„Sie können die Leistungsfähigkeit Ihres Gehirns durch MTP-Techniken nachhaltiger steigern als durch chemische Unterstützung und die Dauer-Abhängigkeit von Medikamenten“19 (25).
Offenbar geht es bei dieser Form der Spiritualität um Leistungssteigerung. Lieber meditieren als Medikamente nehmen. Ist das die Alternative? Es verwundert deshalb auch nicht, dass die Autorin von Erfolg spricht: „Erst wenn Sie die Willens-Übung längere Zeit mit der Haltung einer liebevollen Selbstwahrnehmung geübt haben, können Sie damit beginnen, erfolgsorientiert zu üben.“ Wohin führt dieser Erfolg? Begrüßt den Erfolgreichen am Ende der Stufenleiter Gott selbst?
„Die Gefühls-Übung befähigt Menschen zur selbständigen Krisenbewältigung“ (53).
Das moderne Subjekt ist krisenanfällig.