Das Ende des Tunnels. Dr. med. Daniel Dufour

Das Ende des Tunnels - Dr. med. Daniel Dufour


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hat unter Zuhilfenahme aller rechtlichen Mittel auf legalem Weg versucht, das Recht auf ein Wiedersehen mit seinem Sohn zu bekommen. Er ist viele Male nach Kalifornien gereist, um eine Entspannung herbeizuführen, und hat sich bei diesem Kampf, der immer noch andauert, völlig verausgabt. Es besteht keinerlei Hoffnung darauf, dass sich die Lage bessert. Vor einem halben Jahr konnte er seinen Sohn wiedersehen, der vom Vater seiner Ex-Frau begleitet wurde. Diese hatte in der Zwischenzeit ein neues Leben begonnen. Das Treffen dauerte knapp eine Stunde. Danach war Yves völlig verzweifelt, da sein Sohn ihn nicht einmal erkannt hat. Auch wenn er die Situation intellektuell nachvollziehen kann, trifft das in emotionaler Hinsicht nicht zu: Es gelingt ihm einfach nicht, das Vorgefallene zu akzeptieren.

      Nach dieser Reise wurde Yves allmählich klar, dass er den Kampf verloren hat. Er versank in „heftigen Depressionen“, was ihn dazu veranlasste, einen Psychiater zurate zu ziehen, bei dem er seither in Therapie ist und der ihm ein Antidepressivum und Schlafmittel verschrieben hat. Derselbe hat ihm auch unlängst mitgeteilt, dass es aufgrund der „Symptome einer Depersonalisierung“ („Ich bin da und doch nicht da, ich bin bei Ihnen und doch woanders“) und seiner Vermeidungshaltung sein könne, dass er eine Borderline-Störung habe oder bipolar sei.

      Yves hat diese Diagnose nicht einfach hingenommen. Zu mir sagt er, dass er sich weder in psychischer Hinsicht instabil fühle noch irgendeine Persönlichkeit x oder y habe, sondern einfach erschöpft sei von all dem, was er seit der Entführung seines Sohnes durch seine Frau durchgemacht habe.

       Yves hat weder eine Borderline-Störung noch ist er bipolar; er leidet an einer PTBS.

      Diese wenigen Beispiele, die aus meiner über dreißig Jahre währenden Tätigkeit als Allgemeinmediziner stammen, geben einen Einblick in die vielfältigen Ursachen, die zu einer PTBS führen können. Sie zeigen aber auch die zahlreichen Facetten der Symptome. Jeder kann von einer PTBS betroffen sein, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Kultur und Vorgeschichte. Man muss nicht beim Militär sein oder ein Kriegstrauma haben, um an einer PTBS zu leiden. Man muss auch nicht geschwächt oder von anderen spezifischen Traumata betroffen sein. Die Beispiele erklären auch eine der großen Schwierigkeiten, mit denen die Betroffenen zurechtkommen müssen: die mangelnden Kenntnisse der Ärzteschaft über diese vielgestaltige und komplexe Krankheit.

      Kapitel 2

      Die Ursprünge der PTBS

      Zu einer PTBS kommt es immer infolge eines Traumas, das bei einem Ereignis erlitten wird, das Elemente der Gewalt aufweist. Sie ist die direkte Folge davon. Was aber ist ein Trauma?

      Laut Definition hat das Wort „Trauma“ zwei Bedeutungen: eine medizinische und eine psychologische.

      ► Wird es im medizinischen Sinn verwendet, steht es synonym für „körperliche Verletzung oder Verwundung“.

      ► Wird es im psychologischen Kontext verwendet, handelt es sich um einen „heftigen emotionalen Schock“. Parallel spricht man von seelischer Verletzung, Aufruhr, Erschütterung oder Störung.

      Betrachten wir zunächst einmal die unterschiedlichen Bedeutungen der Wörter „Trauma“ und „traumatisiert“:

      ► Ein Trauma ist eine physische oder psychische Verletzung, die einem Körper zugefügt wird, oder die Einzelverletzung, die daraus resultiert. Diese Einzelverletzung oder Läsion kann durch mechanische oder andere Einwirkung zustande kommen.

      ► Spricht man von traumatisiert, sind damit die lokalen oder allgemeinen Folgen eines Traumas gemeint.

      Gewalt wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO wie folgt definiert: „Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“2

      Das Nachschlagewerk Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen (kurz: DSM) definiert mentale Störungen und wird von der Vereinigung der amerikanischen Psychiater (APA) herausgegeben. Hier wird ein seelisches Trauma definiert.

      Folgende Kriterien werden aufgelistet:

      ► Erleben eines traumatischen Ereignisses mit Todesgefahr, ernsthafter Verletzung oder jeder anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit

      ► Beobachten von Tod, ernsthafter Verletzung oder jeder anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit von anderen

      ► Kenntnis erhalten vom plötzlichen, gewaltsamen Tod, einer ernsthaften Verletzung oder einer anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit eines Familienmitgliedes oder Nahestehenden

      Als Reaktion auf dieses Ereignis muss der Betroffene intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Schrecken empfunden haben. Handelt es sich um ein Kind, muss seine Reaktion sich in übererregtem, desorientiertem Verhalten äußern.3

      Es existieren auch andere Definitionen für psychische Traumata, unter anderem die von Louis Crocq, Honorarprofessor an der Universität René Descartes (Paris V): „Zusammenbruch der Psyche und Überforderung ihrer Verteidigungsmechanismen durch gewaltsame Übererregung im Zusammenhang mit dem Auftreten eines Ereignisses, bei dem das Leben oder die (körperliche oder psychische) Unversehrtheit eines Menschen in Gefahr ist, der Opfer, Zeuge oder Handelnder bei diesem Ereignis ist.“4

      Für dieses Buch halten wir uns an folgende Definition eines psychischen Traumas: „Die Gesamtheit der unmittelbaren, mittelbaren und später chronischen Symptome, die ein Mensch nach einem traumatischen Ereignis entwickelt, das seine körperliche oder psychische Unversehrtheit bedroht hat. Diese Symptome können über Monate, Jahre oder sogar ein Leben lang anhalten, wenn sie nicht behandelt werden.“5

      Wie bereits in der Einleitung erwähnt, habe ich beschlossen darzulegen, was die Medizin unter einer PTBS versteht, indem ich den DSM-5 verwende, denn dieser wurde 2013 veröffentlicht und ist damit aktueller als die Klassifikation, die von der Weltgesundheitsorganisation verwendet wird. Außerdem wird im DSM-5 die PTBS in einer eigenen Kategorie von Störungen aufgelistet, die einem Trauma oder posttraumatischem Stress folgen (trauma and stress related disorders). Sie gehört nicht länger zu den Angststörungen, denen sie zu lange zugeordnet war. Denn auch wenn Angst eines der Symptome ist, das Betroffene zeigen, so steht sie doch keineswegs im Zentrum dieses Krankheitsbildes.

      Hier einige Daten und Fakten über die PTBS, die überraschen könnten.

      ► Schätzungen zufolge ist jeder Zehnte von einer PTBS betroffen. Sie gehört zu den verbreitetsten gesundheitlichen Problemen, wird aber immer noch viel zu selten erkannt.

      ► Man trifft sie genauso häufig bei Erwachsenen wie bei Kindern.

      ► Frauen haben ein beinahe zweifach erhöhtes Risiko, an einer PTBS zu erkranken.

      ► Fast neunzig Prozent der Bevölkerung durchleben mindestens einmal im Leben ein traumatisches Ereignis.6

      ► Laut jüngsten Studien erleben vierzig Prozent der Menschen einen körperlichen Übergriff, neunundzwanzig Prozent sind anwesend, wenn jemand anderes stirbt oder ernsthaft verletzt wird, achtundzwanzig Prozent haben einen schweren Autounfall und siebzehn Prozent werden Opfer einer Naturkatastrophe.

      ► Eine von drei Frauen und einer von fünf Männern sind in ihrer Kindheit Opfer sexuellen Missbrauchs geworden.

      ► Wie zu Beginn des Buches erwähnt, sind Menschen bei der Ausübung bestimmter Berufe anfälliger für eine PTBS. Bei diesen Risikoberufen handelt es sich um folgende: Militär, Polizei, Feuerwehr, Gefängniswärter, Sanitäter, Notarzt, Pflegepersonal, Mitarbeiter von humanitären Hilfsorganisationen, Busfahrer, Lokführer genau wie alle Menschen in der Justiz und im Sozialwesen, die mit Problemen wie Vergewaltigungen


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