Die Omega-Spur. Raimund Badelt
immer mehr in den Hintergrund zu drängen, Gott und Religion wurden für viele zum Rückzugsfeld für Fragen, die wissenschaftlich (leider) noch nicht geklärt waren. Materialistische, zum Teil sehr kämpferische Theorien gewannen an Boden, während andere, sich konzilianter gebende Strömungen einfach das allmähliche Aussterben von Religion erwarteten.
Insbesondere die letzten 150 Jahre waren durch rasante Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik gekennzeichnet gewesen, gleichzeitig aber auch durch eine sehr defensive Grundtendenz im Lehramt der römisch-katholischen Kirche. Hier versuchte man, durch dogmatische Festschreibungen, verbunden mit energischen disziplinären Maßnahmen das gefährdet scheinende Glaubensgebäude abzusichern: Im Jahre 1854, einige Jahre vor dem Erscheinen von Darwins berühmtem Buch über die Entstehung der Arten, wurde das Dogma der unbefleckten Empfängnis Mariens formuliert, 1870 auch die Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubensfragen. Einstein publizierte 1905 seine Relativitätstheorie, kurz danach verpflichtete der Vatikan seine Kleriker zum Anti-Modernisten-Eid. Die Dogmatisierung der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel erfolgte 1950 einerseits zu einem Zeitpunkt, zu dem Hubbles Entdeckung der Natur der Andromeda-Galaxie und ihrer Entfernung von unserem Sonnensystem (ca. zwei Millionen Lichtjahre) schon fast 30 Jahre zurücklag, und erfolgte anderseits, was wohl niemand geahnt hatte, drei Jahre vor dem Start des ersten Weltraumsatelliten Sputnik. 1969 betrat dann der erste Mensch den Mond.
Das naturwissenschaftliche Weltbild wurde ständig größer, komplexer, veränderlicher, aber auch schwerer vorstellbar. Gleichzeitig versuchten kirchliche Autoritäten, christliche Glaubenssätze immer präziser, konkreter, enger zu formulieren. Mitte des 20. Jahrhunderts musste man sich dann fragen, wie Weltraumfahrt und leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel wohl zusammenpassen. – Es verwundert nicht, dass jemand, der sich als Wissenschaftler gerade in so einer Epoche mit der Verbindung von Naturwissenschaft und Theologie befasste und sich mit deren Auswirkungen auf spirituelles Leben beschäftigte, in Schwierigkeiten geriet. Religionen generell schienen nur auf Grundlage eines Weltbilds vorstellbar, das offensichtlich nicht mehr stimmte: In allen uns bekannten Kulturtraditionen machten sich Menschen sowohl Vorstellungen über die Entstehung bzw. den Ursprung der Welt als auch über höhere Wesen, deren Macht man fürchtete oder deren hilfreiches Eingreifen man erhoffte. Die Schöpfungsberichte der Bibel mit der bekannten Sieben-Tage-Erzählung drücken die Vorstellungen im Volk Israel vor etwa 3000 Jahren aus. Aus heutiger Sicht bedeuteten sie damals insofern einen Fortschritt (etwa im Vergleich zu den Gottesvorstellungen im alten Ägypten), als Himmelskörper (Sonne, Sterne), aber auch die Tiere eindeutig als Geschöpfe Gottes qualifiziert werden, nicht aber selbst als Götter gesehen wurden. Aber noch Anfang des 20. Jahrhunderts, also vor rund 100 Jahren, bestand man seitens des Lehramts der katholischen Kirche auf der wörtlichen Wahrheit dieser Berichte; in manchen Kreisen anderer christlicher Kirchen besteht diese Ansicht noch heute.
Schon seit dem Altertum haben Generationen von Denkern versucht, die Existenz Gottes zu beweisen oder zu widerlegen; uns ist heute klar geworden, dass diese Frage im Letzten nicht logisch zwingend zu beantworten ist, es kann nur um Plausibilitäten oder aber persönliche Erfahrungen gehen. Religion kann man als ein zusammenpassendes System deuten, zu dem neben rituellen Vorschriften vor allem eine Welterklärung, eine Handlungsanweisung (Ethos) und eben Spiritualität gehören. Mit Spiritualität ist hier die Art gemeint, in der Glaubenstraditionen individuell und in Gemeinschaft gelebt werden. Wenn es gelingt, Religion auf die Basis einer zeitgemäßen Welterklärung zu stellen, so hat dies wichtige Auswirkungen auf ethische Verhaltensweisen und Spiritualität – ein Brückenschlag zwischen der Welt der Naturwissenschaft und jener der Religion, ein Brückenschlag zwischen Alltagsleben und Sonntagsleben wird möglich.
Neueste Ansätze, sowohl von naturwissenschaftlicher Seite als auch von theologischer bzw. spiritueller Seite, erkennen zunehmend, dass das Auseinanderleben von Naturwissenschaft und Spiritualität ein Fehler war. Die Wege mögen unterschiedlich sein, aber je weiter die menschliche Erkenntnis fortschreitet, je näher wir dem Gipfel kommen, desto enger führen diese getrennten Wege wieder zusammen. Auch Einstein strebte nicht nur ein physikalisches, sondern im besten Sinne interdisziplinäres, umfassendes Weltbild an, wie er in seinem bekannten Satz formuliert: „Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind.“
Einsteins Theorien waren zwar schwer verständlich, konnten sich aber schon zu seinen Lebzeiten zumindest in der Fachwelt durchsetzen, Teilhards innovative Ideen durften überhaupt erst nach seinem Tod für eine breitere Öffentlichkeit publiziert werden. Aber für ein umfassendes heutiges Weltbild sind beide unverzichtbar. Dieses Buch soll eine Einladung sein, Teilhards Ideen im Lichte der gesellschaftlichen, kulturellen und technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte weiterzudenken und in die Lebensweise der modernen Menschen einfließen zu lassen.
1. Von Hildegards Ei zum verschwundenen Mittelpunkt
Die Geschichte der christlichen Theologie und auch der christlichen Mystik ist reich an Abhandlungen über das Verhältnis Gott und Mensch oder auch Gott und Welt. Die Erde und alles, was man an belebten und unbelebten Elementen auf ihr erfahren konnte, war nicht eigentlich Thema der Theologie, sondern Lebensraum, der den Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies zugewiesen war. Die Verhältnisse schienen langfristig unveränderlich zu sein. Das Ertragen von mühsamer Arbeit, Leid, Unglück, Krankheiten und Tod war Strafe Gottes, die wir wegen unserer Sünden zu erleiden hatten. Das Ertragen von Leid und Schmerz „in diesem Jammertal“ konnte nur insofern wichtig sein, als man sich damit Schätze im Himmel erwerben konnte. Werke der Barmherzigkeit waren vom einzelnen Menschen gefordert, später auch als Kollektivauftrag von organisierten Gemeinschaften, wie etwa den Orden. Christliche Sozialeinrichtungen, wie Spitäler und Obdachlosenhäuser, wurden zu positiven Modellen für spätere Einrichtungen des Staates.
Dazwischen gab es aber immer wieder Pioniere, die religiöse Motivation mit systematischer wissenschaftlicher Forschung auf den verschiedensten Gebieten verbanden. In manchen Fällen ging es dabei um die Verbindung von systematischer Theologie mit „profaner“ Wissenschaft, in anderen Fällen um Persönlichkeiten, die mystische Erfahrungen mit Bemühungen um systematische Welterkenntnis vereinten.
Ein markantes und bis heute sehr bekanntes Beispiel dafür ist Hildegard von Bingen (1098–1179). Sie lebt im Rheinland des 12. Jahrhunderts als Nonne, wird Äbtissin, Klostergründerin, beschäftigt sich viel mit Natur, mit Heilkräutern – ihre Hildegard-Medizin ist bis heute für weite Kreise ein Begriff, ebenso wie ihre Ansichten zu Ernährungsfragen. Sie engagiert sich in Kirche und Gesellschaft. Sie ist Mystikerin, hat zahlreiche Visionen, durch die sie zur religiösen Autorität wird.
In Hildegards erster großer Kosmos-Vision (3. Schau im Buch Scivias) hat der Kosmos eine eiförmige Gestalt – das Ei ist in einer traditionellen Agrargesellschaft ein Bild für Entwicklung („Evolution“). Die vielfältigen Symbole im Bild deuten darauf hin, dass der Kosmos als Leib Gottes zu sehen ist; sie selbst deutet in einer Erläuterung die dort enthaltene Sonne als Christus, diverse andere Symbole deuten auf die Summe der physischen und moralischen Kräfte hin.
In ihrer Schau des Kosmos-Rades (1. Schau aus „Welt und Mensch“) wird dieses von einer menschlichen Gestalt gehalten, bei der nach ihrer eigenen Erklärung die Kräfte der Seele stärker sind als jene des Körpers. Sowohl Licht als auch Dunkel (dieses in geringerem Umfang) sind in dem Rad enthalten. Sie sagt: „aus dem Hauch jener Gestalt, in deren Brust sich das Rad zeigte, ging ein Licht mit … Strahlen aus, heller als der klarste Tag …“ In einer anderen Vision spricht eine gewaltige kosmische Gestalt: „… in aller Wirklichkeit ruhe ich als verborgene und feurige Kraft … allem hauche ich Leben ein … Denn ich bin das Leben.“
Wie Teilhard de Chardin 800 Jahre später moderne Naturwissenschaft und Mystik zusammenzuschauen vermag, sieht die mittelalterliche Naturforscherin und Mystikerin eine einheitliche Kraft in Mikro- und Makrokosmos, die sie „heilige Grünkraft“ (sancta viriditas) nennt. Unwillkürlich wird man hier an den umfassenden Energiebegriff bei Teilhard erinnert. Der Kosmos wird in ihren Visionen von göttlichem Feueratem durchwirkt; man könnte sagen, er erscheint als Leib Christi. In der Beschreibung ihrer Visionen fällt auf, dass nicht, wie sonst oft in der Mystik, die Verbindung der einzelnen Seele mit Gott das zentrale Thema ist,