Tilman und die Nackten. Christoph Pitz
Sprache keine Worte. Diese so klar und einfach transportierte Botschaft, die faszinierende Leiblichkeit der Körper, die unfassbare Leichtigkeit der Gewandung. Während er mit Tränen in den Augen rang, umfing er den jungen Mann in einer innigen Umarmung. Dieser stieß den Älteren von sich.
„Narr aus einem fremden Land, siehst du denn nicht, wie missraten das Werk ist? Die Hände meiner Madonna spotten der Schöpfung unseres Herrn. Ich weiß nichts über des Menschen Gestaltung! Gar nichts!“ Der junge Michelangelo lief wutentbrannt über sich selbst und ob der Bewunderung des Fremden davon. Bertoldo machte einige Schritte weiter eine Geste, als sei ihm das Verhalten seines Schülers nicht ganz fremd. Tilman Riemenschneider aber fuhr mit den Fingerspitzen vorsichtig über die Konturen des vor ihm stehenden Reliefsteins und beschloss seine eigene Kunst fortan zu erneuern.
2
„Anna, komm, wir dürfen den Prächtigen nicht warten lassen.“
Anna Riemenschneider stand im Wandelgang des Innenhofes und betrachtete das Arrangement aus kunstvollen Säulenjochen, Nischenfiguren und vor allem die im Gegensatz zur trutzigen Straßenfront hier nun so leicht getragene, fast schon schwebende Architekturgestaltung, während ihr Mann, der Bildhauer, kein Auge für diese Kunstfertigkeit fand, sondern ungeduldig an der Seite eines Dieners von einem Bein auf das andere trat.
„Nun drängel halt nicht so. Eine solche Stadt und diese Pracht hier überall werden wir nie wieder sehen.“
„Du weißt doch, was es mich gekostet hat, den Hoppinger zu dieser Empfehlung zu überreden. Jetzt eil dich.“
„Ich komm ja schon.“
Sie folgten dem Diener eine lange Treppe hinauf in das erste Obergeschoß und einen umlaufenden, breiten Gang voller Bildwerke an den Wänden entlang, bis in eine kleine Halle. Dort bat der Diener darum, dass sie sich kurz gedulden mögen und verschwand durch eine doppelflügelige Holztür. Anna nahm auf einem der bequemen Armstühle Platz, um ihre vom vielen Laufen geschundenen Füße ausruhen zu lassen. Tilman sah sich ungeduldig um, ein Bild an der gegenüberliegenden Wand zog seine Aufmerksamkeit auf sich.
„Anna, sieh nur! Diese Farben, diese Leiber, die Gewandungen! So leicht und weich dahin fließend. Kaum ein kantiger Faltenwurf. Sieh doch nur!“
Anna hob nur leicht den Kopf, blieb aber sitzen. „Bah, nix wie nackte Weiber. Da guckste wieder hin.“
„Aber nein, da ist keine so richtig nackt. Du schaust ja gar nicht her. Der Stoff umfängt sie nur wie ein leichter Wind. Diese Bildung der Körper, der Ausdruck in den Gesichtern, die Haare. Keine Figur gleicht der anderen und doch finden sie in Anmut zusammen. Was es wohl darstellt? Was meinst du, könnte es sich in der Mitte um eine Mutter Gottes handeln? Weil sie die Hand segnend erhebt …“
Die Flügeltür öffnete sich und der Diener forderte sie auf einzutreten.
„Komm schon, Til. Wir dürfen den Prächtigen nicht warten lassen.“
Das Kabinett Lorenzo de Medicis war ein überraschend kleiner, vollständig in Holz getäfelter Raum. Ein großer Arbeitstisch voller Papiere, Regale mit Büchern und noch mehr Papieren, eine gepolsterte Sitzgruppe mit mehreren kleinen Beistelltischen. Zwei große, offen stehende Fenster ließen viel Licht hinein und führten nicht etwa zum Innenhof des riesigen Palazzo, sondern zur Straße hinaus, sodass die Geräusche der lebhaften Stadt gedämpft ein wenig hereindrangen.
‚Ah, Meister Tilman. Seid willkommen. Mein Freund und Agent Hans Hoppinger hat mir Euch mit den wärmsten Worten anempfohlen, damit Ihr Euch mit den schönen Künsten unserer Meister vertraut machen könnt. Hat man Euch denn alles gezeigt zu eurer Zufriedenheit?“
Mit ihrem Eintreten hatte sich Lorenzo von seinem Stuhl erhoben und war ihnen durch den Raum gar einige Schritte entgegengekommen. Zu Tilmans Erstaunen trug der Prächtige die zwar fein gewirkte, aber doch nur gewöhnliche Tracht eines italischen Kaufmanns. Auch die Gestalt und Erscheinung des eher schmächtigen und von schlechter Gesundheit wirkenden Mannes ließen auf den ersten Blick nicht an einen Prächtigen denken. Schon gar nicht an einen der Mächtigsten ihrer Zeit. Die Stimme indess begrüßte sie mit warmer und einer sich selbst bewussten Freundlichkeit.
„Ja, Eure Exzellenz. Man behandelt uns zuvorkommend und erfüllt unsere Wünsche. Ich kann nicht genug zum Ausdruck bringen, wie dankbar ich bin, die Kunstfertigkeit eurer Stadt studieren zu dürfen. Auch entbietet Euch Herr Hoppinger die allergnädigsten Grüße. Ich habe die Ehre Euch dieses Schreiben zu überbringen.“
Mit einer leichten Verbeugung überreichte Tilman den Brief des mit dem verstorbenen ersten Mann seiner Frau befreundeten Tuchhändlers aus Nürnberg, Anna deutete unsicher einen Knicks an. Lorenzo schmunzelte.
„Habt die Güte und sagt nicht Exzellenz. Nennt mich Lorenzo, so wie es die Kunstfertigen und Freunde an unserem Hof tun. Setzen wir uns einen Moment.“
Tilman schwindelte etwas, ihm war unsicher zumute. Anna zog ihn zu der gepolsterten Bank der Sitzgruppe.
„Ihr seid zu gütig, Ex… – Lorenzo.“
„Ach was. Wir halten es hier mit der Familie. Die Meister der schönen Künste und die Platoniker gehören dazu. Ohne sie wären wir Sterblichen nichts als Staub der Geschichte.“ Lorenzo klingelte ein Glöckchen. Ein Diener trat lautlos durch eine beinahe unsichtbare Tür, von der Tilman auch jetzt nicht sah, dass sie überhaupt da war. Lorenzo gab ihm ein Zeichen. „Kostet ein wenig von unserem Wein, es ist der edelste der Welt.“
„So wie es die schönen Künste in eurem Land sind“, sagte Tilman.
„Ihr seid sehr freundlich in eurem Urteil, Meister Tilman. Aber ich bitte Euch, erzählt mir von den Schätzen der Kunst in eurer Stadt Würzburg. Ich hörte, es soll ein Ort des wahren Glaubens und der kunstfertigen Meisterschaft sein.“
Also berichtete Tilman dem Prächtigen von den Werken und der Geschichte Würzburgs und davon, was in ihrer eigenen Zeit er hoffte, selbst erreichen zu können. Der Diener kam mit Karaffe und drei Pokalen aus Glas zurück, welche er mit dem roten Wein der Toskana füllte. Tilman und Lorenzo tranken einander zu, Anna nippte nur ein wenig. Als Tilman zum Ende seiner Schilderung kam, nutzte er die Gunst des Momentes, denn die Scheu war nun von ihm abgefallen.
„Sagt bitte … Lorenzo, das große Gemälde dort vor der Türe, gerade vor diesem Raum, wer hat es geschaffen? Es ist einzigartig in Farbe und Licht, in der Figurenbehandlung, den Körpern und Gewandungen. Was stellt es dar?“
Und wieder schmunzelte Lorenzo: „Oh, Ihr meint La Primavera, den Frühling und die Jugend. Meister Boticelli hat es für mich geschaffen“, Lorenzo legte den Kopf etwas schief und zeigte dann ein Lächeln, als sei ihm gerade ein lustiger Gedanke gekommen. „Wo seid Ihr untergebracht?“
„In dem Pilgerhaus von Santa Croce“, antwortete Tilman etwas irritiert.
„Das kommt ja gar nicht in Frage. Als Meister eurer Kunst seid Ihr selbstverständlich meine Gäste hier im Palast. Macht mir die Freude und seid zur siebten Abendstunde zurück, um am Nachtmahl teilnehmen zu können, das wir hier alle gemeinsam einnehmen.“
Tilman stockte der Atem. „Exzellenz, Ihr seid zu …“
„Lorenzo!“
„Lorenzo …, mein Weib und ich, wir fühlen uns geehrt.“
Die Audienz war beendet.
3
Im Ratssaal des Grünbaums zu Würzburg wurde es laut. Hatte die Fertigstellung der gewaltigen Turmhaube der riesigen Bürgerkirche am neuen Markt wenige Jahre zuvor denn nicht schon genügend hart in ihrer aller Säckel der Stadt gewütet? Kostete der Anteil des Rates an der Neuerrichtung der großen Brücke die braven Bürger nicht schon genug? Brauchte es an der Kirche da wirklich auch noch eine Figurengruppe entlang der hoch aufragenden Strebepfeiler, die so geschickt den Schub des Netzgewölbes im Innern aufnahmen?
„Zu den Themen der Maria und des Weltengerichtes an den Portalen passen nun einmal die Heiligen Apostel unseres Herrn. So seht das doch ein“, sagte Johann von Allendorf mit erhobener,