Familienstellen mit Symbolen. Optimale systemische Lösungen auf dem Papier entwickeln. Roswitha Stark

Familienstellen mit Symbolen. Optimale systemische Lösungen auf dem Papier entwickeln - Roswitha Stark


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      Die erste Phase des familiensystemischen Denkens reicht bis in die 50er-Jahre zurück. Ihr Schwerpunkt lag damals in den USA. Die bekannte Psychologin Virginia Satir und zahlreiche ihrer männlichen Kollegen waren in dieser Zeit Pioniere und Verfechter einer neuen Vorgehensweise in der Behandlung von psychisch erkrankten Einzelpersonen, nachdem deren alleinige Behandlung nicht mehr die erhofften Fortschritte zeigte. Bisher war die Einzeltherapie die einzig akzeptierte Form innerhalb der psychotherapeutischen Praxis gewesen. Das, was heute für uns selbstverständlich ist, nämlich auch das soziale Umfeld, das »Milieu«, allen voran die Familie, auf der Ebene der Ursachen für Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten mit einzubeziehen, war damals noch nicht gängige, geschweige denn anerkannte Praxis. Je weniger jedoch die oft recht zahlreichen Einzelsitzungen bei den Patienten fruchteten, desto mehr holte man jetzt die anderen Familienmitglieder in die Beratung mit hinzu, zumindest versuchte man dies.

      Aus der Einzeltherapie wurde die Familientherapie, die in der psychologischen Praxis heutzutage ein anerkanntes und wichtiges Element ist.

      Die Erfahrungen, die die Therapeuten damals machten, waren sehr vielversprechend und für viele beratende Berufe sogar ziemlich revolutionär. Der Erfolg gab ihnen jedenfalls recht, da es gerade bei der Behandlung junger Patienten jetzt wesentlich weniger Rückfälle gab als vorher. Endlich waren durch das neue Vorgehen wieder bessere Fortschritte zu erzielen.

      So verlagerten die Therapeuten also ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf die Familien ihrer Patienten. »Systemisch« im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtungsweise aller beteiligten Faktoren war dies jedoch noch immer nicht. Das geradlinige Denken in Ursache und Wirkung wurde jetzt eher vom Einzelklienten auf das »System Familie« verlagert. Das heißt: Vorher suchte man die »Schuld« für die Schwierigkeiten und Symptome beim einzelnen Menschen, und jetzt war eben oft die ganze Familie schuld an der Misere des Einzelnen. Das »gestörte Verhalten« der Familienmitglieder musste jetzt therapiert werden, in der Hoffnung, dadurch den Klienten zu heilen. Diese Vorgehens- bzw. Denkweise führte aber lediglich zu einer Verschiebung der Ursache und damit von der Schuld des »kranken« Individuums auf die »krank machende« Familie. Die Gefahr hierbei war, dass man versucht hatte, es sich einfacher zu machen, weil sich Vorgänge und Interaktionen zwischen Familienmitgliedern naturgemäß besser von außen beobachten lassen als psychisch-seelische Zustände innerhalb eines Menschen. Dieses Verhalten interpretierte man dann durchaus leichtfertig als richtig oder falsch im Hinblick auf eine gesunde geistige Entwicklung des auffälligen Klienten.

      Mich erinnert das aus Sicht der Heilpraktikerin an das Konzept des geschädigten »Milieus« in Bezug auf körperliche Beschwerden, wenn zum Beispiel Pilze im Körper überhandnehmen und dann körperliche Symptome auftauchen. Hier, also im geschädigten Milieu, vermutete zum Beispiel der Hauptvertreter der Theorie »Das Milieu macht die Erkrankung«, Prof. Dr. Enderlein, dem wir die Methode der Dunkelfeldmikroskopie verdanken, den Schuldigen für die Ausbreitung von Pilzen und anderen Erkrankungen. Die Sichtweise war und ist, dass ein saures Milieu Krankheiten Vorschub leisten und ein ausgeglichenes, eher basisches Milieu Krankheiten verhindern kann. Therapiert wird auf dieser Vermutung mithilfe gezielter basischer Ernährung und bestimmter Präparate. Ähnlich wie beim »ungesunden Milieu Familie« wird also hier der Schuldige beim ungesunden Milieu Körper gesucht. Die Schuldfrage verschiebt sich also wieder von einem zum anderen.

      Vor einigen Jahren hatte ich mich etliche Wochen lang vegan ernährt, um mein »Milieu« in den basischen Bereich zu bekommen. Der Anlass war eine Hauterkrankung, und ich vermutete als »Schuldigen« meine allzu weizenhaltige Ernährung in dieser Zeit – gepaart mit nervlicher Belastung. Also versuchte ich über eine vernünftigere, in dem Fall vegane Ernährung meinen Säure-Basen-Haushalt wieder in den grünen Bereich zu bekommen. Jeden Tag benutzte ich ein Teststäbchen, um den ph-Wert festzustellen. Jeden Tag kam das gleiche Ergebnis heraus: sauer! Nach drei Wochen unverändertem Ergebnis kasteite ich mich nicht länger mit dem Thema Milieuveränderung und genoss wieder mein gewohnt »unvernünftiges« Essen. Symptomatisch hatte sich bislang nichts verändert.

      Die Frage ist doch: Was beeinflusst wiederum das Milieu bzw. die Familie in einer derart ungesunden Art und Weise, dass sich das Milieu in Richtung »sauer« – Streit, Konflikte, Rechthaberei und Gewalt –verändern muss, um über diesen Weg Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten hervorzurufen, die so auffallend sind, dass sie nicht mehr negiert werden können? Wir Menschen neigen ja sehr dazu, erst dann etwas zu verändern, wenn das Symptom zu hartnäckig und unangenehm wird.

      In den 60er-Jahren hatte man also versucht, die Probleme einzelner Personen aus dem Kontext von Familie und Gesellschaft herauszugreifen, zu verstehen und daraus Behandlungsschlüsse zu ziehen. Die Begeisterung über die neue familientherapeutische Methodik war überall spürbar und verbreitete sich in der Psychotherapeutenszene der USA sehr schnell. Und die Welle schwappte alsbald auch nach Europa über. Auch hier versuchte man jetzt verstärkt, »abnormales« oder schizophrenes Verhalten der Patienten im Zusammenhang mit dem Verhalten der übrigen Familienmitglieder zu interpretieren. Die Therapie mit der ganzen Familie wurde mehr und mehr selbstverständlich. Auf den Erfahrungen der Pioniere aufbauend hatte sich eine sehr ausgeprägte Form der Praxis entwickelt, die auch begann, die Grenzen der klassischen Psychotherapie zu überschreiten. Familientherapie wurde in Erziehungsberatung und Jugendhilfe zu einem selbstverständlichen Instrument, und auch in anderen Feldern setzte sich systemisches Denken und Handeln mehr und mehr durch.

      Die Begeisterung für diese Art von systemischer Arbeit ist verständlich, hatte man sich doch bisher viele Jahre lang die Zähne ausgebissen in dem Versuch, das Innerste des Klienten zu durchleuchten – auf der Suche nach der oder den Ursachen. Da erschien es doch einfacher und Erfolg versprechender, das Interaktionssystem Familie zu therapieren, das man schließlich besser beobachten konnte als das verborgene Innere eines Individuums. Die psychisch-seelischen Vorgänge eines Menschen, seine Gedanken und Gefühle hatte man bislang lediglich mithilfe sehr unsicherer hypothetischer Konstrukte zu erschließen versucht. Das war wohl ein Ausweichversuch vor allzu anstrengender Seelenklempnerarbeit einerseits, andererseits konnten die Therapeuten aber auch überraschende Erfolge damit erzielen, die gekoppelten anderen Teile des Systems zu beobachten, zu beachten und die Interaktion bzw. Kommunikation zwischen den Mitgliedern zu verändern.

      Der Durchbruch zu einer wirklich neuen Methodik kam zu der Zeit, als in den 80er- und 90er-Jahren nicht mehr das bisher gewohnte Kausalitätsdenken »Ursache-hat-Wirkung« im Vordergrund stand, sondern sich eine Wissenschaft, Forschung und Therapie in Richtung allumfassender Vernetzung in den Vordergrund rückte, in der man nicht mehr so selbstverständlich das Täter-Opfer-Prinzip sah, sondern auch Rückkoppelungen der Wirkung auf die Ursache und noch viel mehr Verknüpfungen untereinander. Plötzlich sprach man vom »Flügelschlag des Schmetterlings«, der auf der einen Seite der Erde geschieht und große Veränderungen auf der anderen Seite der Welt verursachen kann. Und es rückte in den Vordergrund, dass wir alle miteinander verbunden seien, auch diejenigen außerhalb der eigentlichen Familie. Das Netzwerk des allumfassenden Bewusstseins und die Möglichkeit, dass alle Menschen irgendwie mit allen anderen Menschen auf der Erde verbunden sind – und wer weiß mit welchen anderen Wesen noch – schaffte sich mehr und mehr Raum.

      Die Quantenphysik war geboren, und das Ursache-Wirkungs-Prinzip machte einem offenen Denken immer mehr Platz: dem Wir-sind-alle-eins-Bewusstsein oder dem Alles-ist-im-Hier-und-Jetzt-Bewusstsein.

      Nachdem ich jedenfalls meinen Hautausschlag weder durch die Ursache »schlechte Ernährung bzw. saures Milieu« noch durch die Ursache »emotionale Blockade« (Ich bin sauer = Wut!) noch durch vielfältige Versuche mit meinen zahlreichen erlernten Methoden noch durch wunderbare alternative Medikamente beseitigen konnte, fiel mir auch gar nichts Gescheites mehr ein, und ich machte schlicht NICHTS mehr. Ich fuhr zwei Wochen an die Ostsee, um den Stress loszulassen und mich selbst zu therapieren – im Sinne von »Ich will die Symptome loshaben«. Jetzt genoss ich den wunderbaren frischen Fisch und schmiss mein veganes Stelldichein über Bord. Ich akzeptierte die Situation – und hatte in dieser Nacht einen Heiltraum, der deutlicher war als alle meine


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