Gotthardfantasien. Lars Dietrich

Gotthardfantasien - Lars Dietrich


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der NEAT kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Zukunft fast besser als die Vergangenheit zu erfassen ist. Eine gute Prognostizierbarkeit ergibt sich aus dem einfachen Mittel der linearen Extrapolation. Um zum Eingangsbild zurückzukehren: Wie die Dampfzüge mit einer Maximalgeschwindigkeit von 50 Kilometer je Stunde den Gotthard-Scheiteltunnel bei der Eröffnung 1882 passieren durften und sich dieser Wert allmählich auf mehr als das Doppelte steigern liess, so ist Ähnliches vom Basistunnel zu erwarten: Die Strecke, die aus sicherheits- und bahntechnischen Gründen jetzt noch auf maximal 230 Kilometer je Stunde Betriebsgeschwindigkeit ausgelegt ist, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit in hundert Jahren auch mit doppelter Geschwindigkeit befahrbar sein. Doch die Geschwindigkeit allein ist nicht ausschlaggebend. Eine wesentlichere Rolle spielen Taktung und Haltestellen. Dies ist jedoch nur eine Frage des Bedarfs und ist von der Entwicklung des Rollmaterials abhängig. Die jetzige Auslegung des Tunnels spielt daher nur eine untergeordnete Rolle, ist aber Bestandteil eines europaweiten Netzes. Das Tessin rückt zeitlich genau bestimmbar näher an die Deutschschweiz, Zürich an Lugano, Genua an Rotterdam heran. Die «Zeit-Raum-Verdichtung» erhöht sich im Zuge der Globalisierung.20 Europa wird chronometrisch kleiner.

      Dennoch ist die lineare technische Beschleunigung kein Garant dafür, dass sich die verschiedenen Regionen auch kulturell annähern. Die Vergangenheit belehrt uns eines Komplizierteren: Weil jede Unifizierung und Internationalisierung mit Diversifizierung, Regionalisierung und Peripherisierung Hand in Hand geht, ist der kulturelle und ökonomische Effekt des technischen Fortschritts nicht extrapolierbar. Exemplarisch lässt sich die Nichtvoraussehbarkeit anhand des Gebiets aufzeigen, welches unterquert wird: anhand der Alpen. Die Tendenz ist unübersehbar, dass die breiten, zentrumsnahen Alpentäler jetzt schon zur Agglomeration mutieren, die touristischen Ressorts zusehends nur noch potemkinsche Kulissenerlebnisse anbieten und die Artenvielfalt der jahrhundertealten kleinbäuerlichen Bewirtschaftung in der Verwaldung zivilisationsferner Gegenden verloren geht.21 Die «alpine Brache», wie sie das Städtebauliche Portrait der Schweiz unter der Federführung der Stararchitekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron vor zehn Jahren definierte,22 degradierte das Gebirge und insbesondere das Gotthardgebiet nolens volens nicht nur zur schweizerischen Peripherie, sondern – wenn überhaupt – zum eigentlichen non-lieu des reinen Transits, wovon die NEAT beredtes Zeugnis ablegt.

      Gleichzeitig entstehen aber in den Alpen Modelle der ökologischen Nachhaltigkeit, die sich auf die jahrhundertalte Tradition berufen können. Die Landwirtschaft in den Alpen ist nur schon aus rein topografischen Gründen nicht industrialisierbar. Die Zulieferer, welche heute einen Nischenmarkt in den Städten zu entdecken beginnen, könnten in Zukunft ein Modell für eine dekarbonisierte Landwirtschaft mit geschlossenen Kreisläufen bilden. Die ökologische Vielfalt erfordert nicht mehr industrialisierte monotone Arbeiten, sondern bringt vielfältige Beschäftigung zwischen Alpwirtschaft, Landschafts- und Umweltschutz, Verwaltung und Tourismus, ortsabhängigen und ortsunabhängigen Arbeiten. Dass in einem solchen visionären Kontext der Ausbau der Gotthard-Autobahn quer in der Landschaft steht, ist zumindest zu bedenken – da die NEAT ja ein Grossteil des Transits übernehmen kann. Genau dafür wurde sie auch gebaut, wie wir aus der Geschichte lernen.

      Aus diesem Grund lohnt sich immer ein genauerer Blick zurück, um die Frage nach der Bedeutung von Geschichte für unsere Gegenwart und Zukunft zu beantworten. Warum wird die NEAT eigentlich für absolut notwendig erachtet, sodass man diese Rieseninvestition auch wirklich wagt? Dazu sind die bundesrätliche «Alptransit-Botschaft» und die parlamentarischen Beratungen der Jahre 1990/91 zu zentral.23 Bereits in den späten 1980er-Jahren sah man sich «zwei Hauptsorgen» ausgesetzt: «der Sorge, umfahren, und der Sorge, überrollt zu werden».24 Noch lange hielt man an den Partikularinteressen der einzelnen Schweizer Regionen fest – was dazu führte, dass zum Beispiel die Splügen-Variante als ebenso valabel verhandelt wurde. Die Lötschberg-Simplon-Ergänzung wurde auch in die NEAT eingebunden, damit eine sichere Mehrheit in der Bevölkerung für den Gotthardbasistunnel gewonnen werden konnte. Doch letztlich lenkten die regionalpolitischen Geplänkel nur davon ab, dass es sich um eine Transitachse von europäischer Dimension handelt.

      Mit diesem Bauwerk konnte die Schweiz in erster Linie ihre finanzielle Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen. Ging man anfangs noch davon aus, dass das Riesenunternehmen nur mit der Unterstützung der EG/EU gestemmt werden könne, hat die Schweiz sämtliche Kosten allein übernommen – und dies ganz im Unterschied zum Gotthard-Scheiteltunnel, dem Jahrhundertwerk des 19. Jahrhunderts, das vor allem Italien, Deutschland und Private finanzierten, während die Schweiz nur einen Bruchteil dazu beitrug. Doch letztlich handelt es sich um ein europäisches Projekt, in das sich die Schweiz mit allen Kräften involvieren liess. Blickt man weiter zurück, lässt sich die Internationalität des Projekts zusätzlich belegen. Dazu gehört die Ausarbeitung des «fertigen Baukonzepts» für eine Flachbahn durch die SBB zu Beginn der 1970er-Jahre,25 aber auch das von Ingenieur Eduard Gruner 1947 vorgeschlagene Projekt «Europa-Afrika-Express» mit den entsprechenden Zügen von Berlin nach Karthum, die technische Vision als gross angelegtes Friedensprojekt kurz nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs.

      Fantasien

      Wie kann man den Gotthard erzählen, ohne in den nationalen Tunnelblick der 1930er- und 1940er-Jahre und der Folgezeit des Kalten Kriegs zurückzufallen, in denen wichtige historische Tatbestände ausgeblendet werden mussten, um die mythische Kohärenz und Durchschlagskraft zu behaupten? Der «moderne Mythus», an den der Gotthardbasistunnel problemlos anschliessbar wäre, lässt sich nur mit losen Versatzstücken ausstatten, welche die Komplexität der gesamten Gemengelage nicht in den Blick bekommen. Die Urgeschichte der Schweiz – wie im Übrigen jeder anderen Nation auch – gibt es nicht. Es kann uns also nicht nur darum gehen, «den Gotthardmythos [zu] lesen […], [zu] erleben und zugleich [zu] verstehen».26 Was wollen wir hier verstehen – ausser der Konstruiertheit von Natürlichkeit? Mit den Gotthardfantasien lade ich Sie ein, einen Schritt weiter zu gehen.

      Die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels nehmen wir zum Anlass, die neu-alte mythische Gemengelage aus verschiedenen Blickwinkeln zu untersuchen. Dabei soll der Gotthard nicht nur physisch ein drittes Mal (nach dem Eisenbahntunnel 1882 und dem Autobahntunnel 1980) untertunnelt werden, sondern ebenso metaphorisch in seiner Symbolik: Wie entwickelt sich das nationalistische Eigenbild der Schweiz nach 1945 am Gotthard? Welche Fragestellungen, die sich am Gotthard entzünden, finden wir in der Literatur – aus der Schweiz, aus Europa, aus der ganzen Welt? Wie überkreuzen sich europafreundlicher und weltoffener Umweltschutzdiskurs und konservativer Mobilitätsdiskurs im Gotthard? Gibt es vergleichbare, vielleicht auch nicht realisierte Réduit-Modelle in anderen Nationalprojekten? Wofür steht der Stachel (alias Tunnel oder russische Ansprüche) im Herzen der Schweiz? Welche Sehnsüchte kanalisiert der Tunnel – nur Richtung Süden oder auch Richtung Norden?Bedeuten die Transitrouten und -waren denn auch etwas? Welche Fantasien setzt heute der Gotthard bei Autorinnen und Autoren, bei Historikern, Politologen, Kultur- und Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern frei?

      Für die Beantwortung dieser Fragen ist ein spezifischer Blick gefragt, der aktuelle Debatten historisiert und historische Diskurse wiederum kontextualisiert und aktualisiert. Dieser Blick impliziert eine Perspektive von aussen wie von innen, aus der Nähe wie aus der Fremde, einen spezifischen europäischen oder globalisierten Blick. Wichtig dabei ist sowohl eine topografisch-kulturelle als auch eine methodische Transversalperspektive, welche das kulturelle Erbe des Gotthards vor dem Hintergrund und dennoch jenseits der altbekannten Mythen befragt. Dadurch soll die Rolle einer europäischen und zugleich globalisierten Schweiz in Bezug zur ganzen Welt neu belichtet werden. Die mythische Überhöhung von Natur – welche die Naturalisierung der technischen Errungenschaft bereits miteinbezieht – soll zugunsten von Analysen des Zusammenspiels zwischen Natur- und Zivilisationsgewalt im ersten Teil «Infrastruktur, Natur» konsequent hinterfragt werden. Der eindimensionalen Mythologisierung werden im zweiten Teil historische «Kontrapunkte» und damit Alternativgeschichten und im dritten Teil «Bilanzen, Szenarien» die Vielfalt, aber auch die Dringlichkeit von Fragen an die Gegenwart entgegengesetzt.

      Der Gotthard ist nicht nur in seiner technischen Materialisierung27 – wie man sie in Zukunft trotz gegenwärtigen Zweifeln am Willen der SBB28 sicherlich noch touristisch


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