Gotthardfantasien. Lars Dietrich
Rückbesinnung auf eine mythische, naturnahe Solidargemeinschaft und dem Fortschrittsglauben. Die alpine Sagenwelt, wie sie etwa Eduard Renner mit dem Goldenen Ring über Uri 1941 heraufbeschwört,13 steht gegen eine Publikation wie die von Walter Angst im «Schweizerischen Jugendschriftwerk» von 1944: Mit 12 000 PS durch den Gotthard. Technische Reise eines jungen Eisenbahnfreundes.14 Diesen Widerspruch kann man gerade am Gotthard im Zeichen der eingeübten Bewältigungsstrategien von Naturgefahren aufheben. Das versuchen auch weitere Gottharderzählungen der Zeit.15 Am formvollendetsten Meinrad Inglin mit seiner Novelle Die Lawine.16 Der Titeltext der gleichnamigen Sammlung erscheint 1947. Jener Lawine im Reusstal, die er zum Titel erhebt, setzt er eine Eisenbahnbrücke entgegen, die schliesslich einen Triumph der Technik und ein fast unverschämtes Liebesglück ermöglicht, in dem sich auch die vom Krieg verschonte Schweiz erkennen kann – eine geniale literarische Ingenieursleistung.
Der verschüttete Gotthardexpress und Friedrich Dürrenmatts Einspruch gegen den helvetischen Katastrophenkonsens
Zum heroischen Technikdiskurs der Geistigen Landesverteidigung gehört auch der Roman Gotthard-Express 41 verschüttet des schreibenden Lokomotivführers Emilio Geiler, der bereits 1942 ins Italienische und ins Französische, dann ins Dänische und Norwegische übersetzt wird.17 Er imaginiert, wie ein Bergsturz im Tessin einen Nachtschnellzug in einem Kehrtunnel der Gotthard-Strecke verschüttet. Die Menschen im Zug sind unverletzt, bleiben aber während mehrerer Tage im Tunnel eingeschlossen. Dank der Organisationskraft im Tunnel – für die Eingeschlossenen, darunter viele ausländische Touristen, werden sogar Vorträge zur Schweizer Geschichte und zur Eisenbahntechnik organisiert – und der Entschlossenheit der Retter von aussen kann die Schweiz die Katastrophe souverän meistern. Wie bei Inglin kann diese positive Katastrophenfantasie auch als eine Wunschfantasie des Landes im Krieg verstanden werden, von dem im Text nicht explizit die Rede ist.
Nach dem Krieg kann man die gleiche Gotthardfantasie auch anders lesen: Friedrich Dürrenmatt wird 1953 vom Schauspieler und Filmregisseur Max Haufler aufgefordert, ein Drehbuch zu Geilers Roman zu schreiben, vermutlich unter dem Eindruck von Dürrenmatts Novelle Der Tunnel, die eben erschienen war. Haufler hatte schon zehn Jahre zuvor erfolglos eine entsprechende Verfilmung geplant.18 Nach kurzer Arbeit tritt Dürrenmatt jedoch von dem Projekt zurück. Es wird nie publiziert und praktisch vergessen; auch die Forschung hat sich damit nicht beschäftigt. Der Dürrenmatt-Nachlass enthält nur einen Ansatz zu einem Filmskript, einige ausgeführte Dialogszenen und ein über 20-seitiges Treatment, das allerdings schon vor der Halbzeit der Handlung abbricht.19
Trotzdem wird erkennbar, wie Dürrenmatt die Vorlage interpretiert. Zur Eröffnung malt er den Gegensatz zwischen der bedrohlichen Natur und der Technik in einer grellen Gefahrenästhetik aus:
«Die Hochgebirgslandschaft stürzt heran, gefährlich, gespenstisch. Eine Station taucht auf, verschwindet.
Die Perspektive auf die zwei Geleise, die geometrischen, zerbrechlichen Konstruktionen der Masten, der Leitungsdrähte, das Aufleuchten der Signale,
unwirkliche, spielerische Abstraktheit der Technik in der wilden Natur.
Das Dröhnen, das Singen der Maschine.
Von Ferne ein Tunneleingang, ein schwarzer Mund, der sich weitet, ein Tauchen in Finsternis.
Der Berg (den der Zug nun durcheilt), die steilansteigende Wand aus Stein,
ein ungeheuerlicher Bergrücken, überhängend,
rote rostige Felspartien, Gletscherzungen, verwitterte Bäume,
immer höher, immer drohender,
einige Steine, die sich lösen,
Das Heranschieben dunkler Wolkenmassive,
tief unten der Zug, der eben den Kehrtunnel verlässt.
Ein riesenhafter Sonnenball, der unter den Horizont rollt.»20
Auch hier: Gefahr gehört zum Gotthard, die Dürrenmatt in diesem ersten Textstück in recht konventioneller, expressiver Weise aufbaut. Origineller ist Dürrenmatt jedoch, wenn er den Eisenbahnzug, der durch den Bergsturz eingeschlossen werden wird, mit einer bunten Passagiermasse füllt, vom Stargeiger bis zum Emmentaler Abstinentenbund. Die Hauptfigur ist jedoch ein Heroin schmuggelnder Kriminalschriftsteller, der im Zug zufällig auf seine ehemalige jüdische Geliebte trifft, die aus Deutschland fliehen musste. Mit seinem Liebesverrat wird der Schatten der schweizerischen Flüchtlingspolitik in das Szenario der positiven Katastrophenbewältigung eingeschmuggelt. Gleichzeitig wird auch der Konsens über die Bewältigung der Bedrohung im Zeichen der Katastrophensolidarität unterminiert. In einer Auflistung von 29 Punkten, welche in gewisser Hinsicht die 21 Punkte über Die Physiker (1962) vorausnimmt, entwickelt Dürrenmatt Parameter dafür, wie eine Katastrophe darzustellen sei. Dürrenmatt hebt vor allem die sozialen Organisationsformen hervor, die sich in der Katastrophe zeigen:
«22. Die Verschütteten müssen ein Abbild der Menschheit sein.
23. Durch die Katastrophe werden die Verschütteten in eine Gemeinschaft verwandelt.
24. Die Rettung löst diese Gemeinschaft wieder auf.
25. Die Rettung ist daher nicht nur ein positives, sondern auch ein negatives Resultat.»21
Ob und wie sich Dürrenmatts höchst heterogener Passagierhaufen im Tunnel zu einer solchen «Gemeinschaft» formieren kann, das wissen wir nicht. Doch dass diese spätestens mit der Rettung auseinanderbrechen wird, das ist schon von der Anlage her evident. Und auch die verratene Liebe wird kaum in dieser Prüfung wieder gekittet werden. Genau entgegengesetzt zu Inglins Lawine stiften Katastrophen, selbst mit positivem Ausgang, weder Ehen noch solidarische Gemeinschaften. Das ist ein fundamentaler Einspruch gegen den helvetischen Bedrohungs- und Katastrophenkonsens, wie ihn die Geistige Landesverteidigung so gerne in ihr Zentralmassiv, den Gotthard, projiziert.
Grotesker Gegengotthard: Hermann Burgers Die künstliche Mutter
Einen solchen Einspruch, wenn auch in ganz anderer Form, erhebt auch Herrmann Burger mit seinem 1982 publizierten Roman Die künstliche Mutter.22 Genau zum 100. Jubiläum der Tunneleröffnung liefert Burger das groteske Satyrspiel zum modernen Gotthard-Diskurs, ebenso vielschichtig wie dieser. Zwar steht in seinem Zentrum die Geschichte einer individuellen Katastrophe und ihrer Therapie: der Versuch des Germanisten und Glaziologen Wolfram Schöllkopf, im Gotthard vom Selbstmord seiner Geliebten, von seiner «Unterleibsmigräne» (S. 42) und von seiner Mutterbindung zu genesen.23 Umso ironischer, dass Schöllkopf, der Held mit der Gotthard-Schlucht im Namen und im Schädel, erst in jener österreichischen «Kur-Enklave» (S. 165) Heilung findet, die Burger mitten ins helvetische Kernmassiv hinein fantasiert. Die literarische Abzweigung des Gotthardtunnels nach Österreich, wie sie Spitteler nur andeutet, wird von Burger realisiert, als Satire auf das Verhältnis der Schweiz zum historischen Erbfeind und als ironische Reminiszenz an die eigene Katastrophenkultur. In der «thermischen Wärme des Österreichischen Gotthards» (S. 195) hört Schöllkopf die «Stimme des Gletschers», die «sein Katastrophengedächtnis» auffrischt mit älteren und neueren Naturkatastrophen (S. 180f.). Und er verliebt sich in die «katastrophenbergende Stimme» einer deutschen Tagesschausprecherin (S.226). Überall, selbst in der Sprache des Romans, stecken die latenten Katastrophen. Wortschöpfungen wie «Lawinenkegelbahnen» (S. 130) oder «Gebirgstrichterschwermut» (S. 188) zeugen von Burgers mutwilligen Abschweifungen zu jenen Abgründen, vor denen früher die Reisenden zurückschreckten. Burger spielt mit den Katastrophen, so wie er in jener Modelleisenbahn-Anlage, die als Mise en abyme der Gotthardbahn im Kirchlein von Wassen wiederum die Gotthardbahn nachstellt, einen Zugszusammenstoss in einem Tunnel inszeniert (S. 110).
Doch sowohl als souveräner Regisseur am Steuerpult seiner literarischen «Gegengotthardbahn» (S. 110) wie auch als leidender Schöllkopf bleibt Burger radikal allein. An jenen Katastrophen, die in der Geschichte der Schweiz und auch der Gotthardbahn immer wieder neu die Solidargemeinschaft begründen sollen, erlebt Schöllkopf gerade seine Vereinzelung. Gelegentlich erscheint der Roman