Gesegnet, um Segen zu sein. Martin Wirth
Wirth (Dipl.-Biol., Dipl.-Theol.)
Mein Lebensweg begann 1972 in der Grenzstadt Helmstedt als jüngstes von fünf Kindern. Die innerdeutsche Grenze prägte meine Kindheit und Jugend und ein Teil unserer Verwandtschaft lebte in der DDR. Von Geburt an bin ich sehbehindert, was sich im Laufe der Zeit immer weiter verstärkte. Erst entdeckte ich die Flugzeuge am Himmel nicht mehr, dann konnte ich nicht mehr von der Tafel lesen und mit 13 Jahren musste ich das Fahrradfahren sein lassen. Seit 2002 bin ich voll erblindet.
Mit acht Jahren trat ich bei den Georgs-Pfadfindern ein. Das Miteinander in dieser Gruppe hat mir viel Selbstvertrauen geschenkt und hat mir gezeigt, dass gemeinsam sehr viel möglich ist. Nach der sechsten Klasse kam ich ins Internat im Landesbildungszentrum für Blinde in Hannover, wo ich meinen Realschulabschluss machte. Dann zog ich weiter nach Marburg an der Lahn, um dort an der Blindenstudienanstalt das Gymnasium zu besuchen. Nach dem Abitur 1993 nahm ich das Biologiestudium an der Technischen Universität Braunschweig auf. Hier wurde ich Mitglied der Katholischen Deutschen Studentenverbindung Niedersachsen MCV. Nach dem Biologiestudium arbeitete ich im Naturschutz, wofür ich wieder anderthalb Jahre in Helmstedt lebte.
In dieser Zeit lernte ich meine Frau Franka kennen, die als Sozialpädagogin bei der Caritas in Helmstedt arbeitete. Meine ehrenamtliche Arbeit in der Kirche als Leiter bei den Pfadfindern und als Firmkatechet ließ in mir den Wunsch immer stärker werden, Theologie zu studieren. Im Februar 2000 heirateten Franka und ich kirchlich und im April desselben Jahres zogen wir gemeinsam ins Rheinland nach Troisdorf, damit ich an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Steyler Missionare in St. Augustin das Theologiestudium aufnehmen konnte. Biologie und Theologie verbindet derselbe Betrachtungsgegenstand – das Leben. Es war für mich sehr bereichernd, durch die Internationalität der Ordenshochschule gemeinsam mit Studierenden aus China, Indonesien, Afrika und Lateinamerika im Hörsaal zu sein.
In Troisdorf kamen unsere ersten beiden Kinder zur Welt. Parallel zum Theologiestudium ließ ich mich in Hildesheim zum Diakon ausbilden. Im Jahr 2005 zogen wir nach Stade, wo ich zunächst als Diakonatsanwärter arbeitete und ab 2007, nach meiner Weihe durch Bischof Norbert, als Diakon. In Stade kam unser drittes Kind zur Welt. Seit August 2013 leben wir gemeinsam in Göttingen.
Als Diakon bin ich hier überpfarrlich eingesetzt. Ich möchte gemeinsam mit vielen Menschen gute Orte der Glaubensweitergabe und Glaubensvertiefung erschließen und gestalten. Ich möchte mit ihnen gemeinsam die Nöte der Menschen wahrnehmen und ihnen hilfreich begegnen. Ich möchte für die Menschen ein Seelsorger sein, den sie auch erreichen können und der sich Zeit für sie nimmt.
Ich bin nicht Diakon geworden, um mitzuhelfen, eine Kirche abzuwickeln, die in der Gesellschaft ihre Bedeutung verloren hat. Ich bin nicht Diakon geworden, um den notleidenden, armen und kranken Menschen sagen zu müssen: Tut mir leid, aber für euch hat bald niemand mehr Zeit. Ich bin nicht Diakon geworden, um im Sinne eines Klerikalismus eine neue Wirklichkeit einer partizipatorischen Kirche im Keim zu ersticken.
1.2 Zu diesem Buch
Mit dem Konzil von Trient (1545–63) hat die katholische Kirche das Pfarrprinzip flächendeckend und verbindlich durchgesetzt. Dazu ist die Residenzpflicht der Priester gekommen. Diese Maßnahmen sind vor dem Hintergrund eines Mangels an seelsorglicher Begleitung der Gläubigen sowie einer gewissen Willkür der Priester in der Häufigkeit der Feier der heiligen Messe durchgeführt worden.
Gemeinde wird seitdem strikt territorial definiert. Die Katholiken, die innerhalb der festen Grenzen einer Pfarrei leben, bilden die Gemeinde. Alleiniger Leiter und Hirte ist ein Priester, der Pfarrer.
Das Wort „Pfarrgemeinde“, welches im Zuge der Würzburger Synode (1971–75) geprägt worden ist, beschreibt dagegen nicht nur eine Struktureinheit, eine Verwaltungsebene der katholischen Kirche, sondern auch die Gemeinschaft von Gläubigen als lebendige Steine der Kirche.
In volkskirchlichen Zeiten hat sich das Pfarrprinzip bewährt. Die Zuständigkeit eines Priesters ist auf eine Pfarrgemeinde beschränkt, womit die eher versorgende Kirchenpraxis (Sakramentenspendung, Gottesdienste und Beerdigungen) gesichert ist.
Die Individualisierung, Pluralisierung und Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft hat auch das kirchliche Leben stark geprägt. Seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts sind in der Bundesrepublik Deutschland die volkskirchlichen Strukturen aufgebrochen und bisweilen gänzlich verschwunden. Der christliche Glaube, das Sinnangebot der Kirche, ist nur noch eines unter zahlreichen anderen. Viele Menschen wählen sich das aus, was ihnen persönlich am besten passt. Ein gemeinsames Glaubensbekenntnis, das sich in der Feier von Gottesdiensten und einem darüber hinausgehenden Gemeindeleben abbildet und dadurch für andere Menschen sichtbar wird, spielt für die nicht an einem solchen Gemeindeleben Teilnehmenden eine immer geringere Rolle. Es ist das personale Gottesbild, das von vielen Menschen nicht angenommen werden kann. Oft kommen Menschen damit gar nicht mehr in Berührung, was sich direkt im kirchlichen Leben niederschlägt. Die Zahl der Gottesdienstbesuchenden ist nur noch eine Minderheit unter den Katholiken, und das ehrenamtliche Engagement geht vielerorts zurück. Viele Menschen identifizieren sich nicht mehr mit ihrer Gemeinde. Sie suchen nicht den Kontakt oder haben ihn abgebrochen, häufig aufgrund enttäuschender und entmutigender Erfahrungen mit der kirchlichen Praxis oder kirchlichen Entscheidungen.
Der viel beklagte Mangel an Priestern ist eine der Folgen der hier einleitend skizzierten Entwicklungen und Prozesse in Gesellschaft und Kirche. Die Frage ist nun, wie die Kirche, wie die Gemeinden vor Ort darauf reagieren. Bei der Suche nach geeigneten pastoralen Strukturen sollte eines deutlich werden: Der Mensch ist nicht für die Strukturen da, sondern die Strukturen für den Menschen. Die Aufgabe von Pfarrstrukturen ist es, Bedingungen zu schaffen, die dem Aufbau, dem Erhalt und der Entwicklung eines lebendigen Gemeindelebens förderlich sind. Ist dies nicht mehr gewährleistet, müssen strukturelle Veränderungen durchgeführt werden. Aufgrund der Zusammenführung mehrerer einst selbstständiger Pfarrgemeinden handelt es sich bei einer Pfarrei nun um einen größeren pastoralen Raum mit mehreren Gemeinden und Kirchorten. Mit dem Prozess der Lokalen Kirchenentwicklung versucht das Bistum Hildesheim, die beiden großen Bewegungen des Christseins nicht aus dem Blick zu verlieren: die Sammlung und die Sendung. Ehrenamtlichen Gemeindeleitungsteams kommt dabei eine besondere Rolle zu.
Bei all den Herausforderungen, die wir täglich beispielsweise in Familie, Schule und Beruf zu bewältigen haben, soll das kirchliche Leben hilfreich sein und Freude machen. Gemeindeglieder und Personal dürfen die Strukturen, in denen sie sich bewegen, nicht als schwere Last und als lähmend erfahren, sondern sollten sie vielmehr als sinnvoll und gut erleben.
Da die Ressourcen des Personals begrenzt sind und ebenso die Ressourcen der Gemeindeglieder, die das Gemeindeleben mitgestalten wollen, ist es eine Pflicht, darauf zu achten, dass nur so viele Strukturelemente wie nötig und so wenige wie möglich gebildet werden.
2. Biblisch-theologische Impulse
Jede Gesellschaft, jede Gemeinschaft von Menschen braucht gute Strukturen und Ordnungen, damit das Miteinander gelingen kann. Nur durch die Zehn Gebote konnte das Volk Israel am Sinai überleben und seinen Weg nach Kanaan fortsetzen. Gute Strukturen haben durchweg dienenden Charakter. In guten Strukturen werden keine Menschen übersehen. Die persönlichen Charismen und Fähigkeiten werden erkannt, wertgeschätzt und kommen zum Einsatz. Gute Strukturen geben einen Rahmen, der einer Gemeinschaft Orientierung bietet. Sie schützen vor Überforderungen, lassen keinen Leistungsdruck entstehen und beugen Versagensängsten vor. Gute Strukturen sind transparent und werden als sinnvoll erfahren. Sie sind für die Menschen also lebensnotwendig, ja überlebensnotwendig.
Gute Strukturen eröffnen Lebensräume, in denen Beziehungen möglich werden und Gemeinschaft wachsen kann. Es sind Räume, in denen sich Menschen gut zurechtfinden können, die Sicherheit und Geborgenheit geben. Menschen brauchen Räume, in denen sie sich entfalten und die sie mitgestalten können, damit sie ihnen gerecht werden. Deshalb müssen wir uns in der Kirche im Blick auf die pastoralen Räume mit Strukturfragen befassen.