Naturphilosophische Emergenz. Maximilian Boost
Auftreten eines Exemplars eines zuvor noch nie realisierten Typs bezeichnet. Hierbei kann es sich um das Auftreten einzelner neuer Eigenschaften oder auch eines neuen (komplexen) Systems mit neuen Eigenschaften und Verhaltensweisen handeln.102 Das System kann dabei Eigenschaften aufweisen, die entweder mindestens eines seiner Bestandteile hat oder solche, die nur dem System als Ganzem zukommen. Letztere werden als systemische Eigenschaften bezeichnet.103 Die Formulierung des Merkmals der systemischen Eigenschaften findet sich in expliziter Weise bei Broad:
„Let us call properties which belong to a compound substance as a whole, and not to any of its constituents “Collective Properties”.“104
Nur die systemischen Eigenschaften in einem komplexen System können genuin neu sein. Denn über die nicht-systemischen Eigenschaften verfügen per definitionem bereits eines oder mehrere der Systembestandteile. Doch nicht jede systemische Eigenschaft ist neu. So ist die Fähigkeit von Vögeln zu fliegen zwar eine in der Naturgeschichte entwickelte systemische Eigenschaft. Sie ist aber nicht neu, da bereits Millionen Jahre zuvor Insekten die Eigenschaft des Fliegens ausgebildet hatten.105 Auch Gesetze werden als emergent bezeichnet. Hier ist ‚neu‘ aber nicht in einem starken Sinne gemeint, da sich aus Sicht der Britischen Emergentisten die Naturgesetze in der Evolution nicht fundamental ändern können. Mit ‚neu‘ soll an dieser Stelle vielmehr gesagt werden, dass ein zuvor noch nicht instantiiertes Gesetz das erste Mal auftritt.106
Das Merkmal der systemischen Eigenschaften findet sich nur bei Broad in expliziter Form, bei den anderen Britischen Emergentisten folgt es logisch aus der Neuartigkeitsthese.107
4.4.3 Hierarchie der Existenzstufen
Die Hierarchiethese beschreibt die Auffassung, dass die Vielfalt im Universum in eine bestimmte Anzahl hierarchisch angeordneter Existenzstufen108 einzuteilen ist. Demnach gehören die in der Natur vorkommenden und entstehenden Dinge – entsprechend ihren charakteristischen Merkmalen – zu einer der verschiedenen Existenzstufen. Diese sind, gemäß der Reihenfolge ihrer Herausbildung in der Evolution, hierarchisch angeordnet. Dabei werden besonders die Bereiche des Anorganischen (Unbelebten), des Biologischen (Belebten) und des Geistigen (Mentalen) unterschieden. Die ‚höheren‘ Stufen gehen aus den ‚niederen‘ Stufen durch einen Zuwachs an Komplexität hervor, wodurch sie als komplexere Phänomene in der Natur eine höhere Stufe in der Hierarchie einnehmen:109
„Higher in what sense? […] When two or more kinds of events, such as I spoke of before as A, B and C, co-exist on one complex system in such wise that the C kind involves the co-existence of B, and B in like manner involves A, whereas the A-kind does not involve the co-existence of B, nor B that of C, we may speak of C, as, in this sense, higher than B, and B than A. Thus, for emergent evolution, conscious events at level C (mind) involve specific physiological events at level B (life), and these involve specific physico-chemical events at level A (matter).“110
Wie Stephan schreibt, vertreten Alexander und Morgan, nicht aber Broad, hierbei die These, dass die Bausteine der komplexeren Dinge zeitlich früher da waren als die komplexeren Dinge selbst. Er kritisiert dabei zu Recht, dass hier die Schwierigkeit besteht zu bestimmen, welche Bausteine eines komplexen Systems in diesem Zusammenhang als die relevanten Bestandteile angesehen werden sollen. So könne man nicht davon ausgehen, dass ein Organ eines komplexen Organismus (z.B. die Leber) bereits vor seinem Auftreten in besagtem Organismus für sich existiert hätte. Dagegen könne aber davon ausgegangen werden, dass die Makromoleküle, welche in allen Organismen vorkommen, bereits vor den ersten Lebensformen existierten. Makromoleküle sind entsprechend diesem Verständnis als Bausteine für komplexere Organismen anzusehen, die diesen zeitlich vorangehen, Organe hingegen nicht, da sie sich erst in dem komplexen Organismus konstituieren.111 Die Hierarchie der Existenzstufen ist bei den Britischen Emergentisten somit durch zwei Merkmale charakterisiert: Einmal ein qualitatives Merkmal, da höherstufige Dinge in der Evolution komplexer sind als niederstufige. Zum anderen (mit Ausnahme von Broad) durch ein zeitliches Merkmal, da die Bausteine der komplexeren Dinge diesen selbst zeitlich vorangehen.112
Doch Stephan weist mit Charles Baylis auf ein grundlegendes Problem der Hierarchie der Existenzstufen hin: Geht man – wie es die Definition der Britischen Emergentisten nahelegt – von einer durchgängigen Hierarchie der Existenzstufen in der Evolution aus, also davon, dass in der Evolution die Entwicklung linear von einfachen zu komplexeren Dingen verläuft, so läuft man Gefahr, eine unüberschaubare Zahl von Existenzstufen zu erhalten. Es ist nämlich nicht nur so, dass die Bestandteile eines komplexen Systems eine niedrigere Existenzstufe darstellen als besagtes System und diese Hierarchie sich in zahllose ‚niedere‘ Stufen fortsetzt, sondern es kommen noch zusätzliche Fälle hinzu, nämlich solche der Submergenz von Eigenschaften.113 In den Ausführungen über Mill wurde bereits beschrieben, dass heteropathische Gesetze in einem komplexen System in einer ersten Variante die alten Gleichförmigkeiten und Gesetze ‚ablösen‘ und somit ersetzen können. In einer zweiten Variante hingegen können die alten Gesetze auch innerhalb des komplexen Systems neben den neuen heteropathischen Gesetzen fortbestehen.114 Um Submergenz handelt es sich nach Stephan in Fällen der ersten Variante, weil hier Entitäten einige ihrer Eigenschaften verlieren, wenn sie Bestandteil eines komplexeren Ganzen werden. Die Fälle der Submergenz von Eigenschaften bilden somit wiederum weitere ‚niedere‘ Existenzstufen neben den ‚niederen‘ Existenzstufen der Bestandteile eines komplexen Systems und wiederum deren Bestandteilen und submergenten Eigenschaften und so fort. Wendet man diese Betrachtung auf eine durchgängige Hierarchie, also die Stellung eines komplexen Systems – wie z.B. des menschlichen Organismus – auf die gesamte evolutionäre Entwicklung, an, so kommt es zwangsläufig zu einer unübersehbaren Anzahl von Existenzstufen. Nach Stephan ist es daher sinnvoller, von einer relativen Hierarchie auszugehen, die nur die Hierarchie innerhalb eines zu untersuchenden Systems thematisiert. Dieses Konzept wird von den Britischen Emergentisten jedoch nicht vertreten.115
4.4.4 Diachrone und synchrone Determiniertheit
Die These der Determiniertheit und Unvorhersagbarkeit ist besonders für die evolutionären Emergenztheorien charakteristisch. Zur Zeit der Britischen Emergentisten galt häufig, dass ein Sachverhalt nur dann als determiniert gelten kann, wenn er prinzipiell vorhersagbar ist. Es ist jedoch vorstellbar, dass ein Sachverhalt determiniert ist, aber dennoch das Wissen des Betrachters nicht ausreicht, seinen Verlauf vorherzusagen. In diesem Fall wäre er, obwohl determiniert, unvorhersagbar. Da Lloyd Morgan und Alexander jeweils eine evolutionäre Emergenztheorie vertreten und im Rahmen dieser an der Determiniertheit emergenter Phänomene festhalten, gleichzeitig aber die Unvorhersagbarkeit emergenter Phänomene behaupten, ist die Gleichzeitigkeit von Determiniertheit und Unvorhersagbarkeit ein signifikanter Standpunkt emergentistischer Theorien.116 So schreibt Alexander in Bezug auf mentale Prozesse als emergente Phänomene:
„[D]eterminism is compatible with unpredictability […]. Not only may mental action be determined and yet unpredictable, it may be free and yet necessary.“117
Die Unvorhersagbarkeit emergenter Phänomene liegt dabei nicht in mangelnder Kenntnis des Betrachters begründet, sondern darin, dass es keine allgemeine Theorie geben kann, die das Entstehen neuartiger (emergenter) Phänomene vorhersagen kann.118
Spricht man im Rahmen emergentistischer Theorien von Determiniertheit, so lässt sich nach Stephan darunter zweierlei verstehen119:
1. Unter gleichen Bedingungen entstehen gleiche Strukturen und Systeme.
2. Baugleiche Systeme weisen dieselben Dispositionen und Eigenschaften auf.
Für den ersten Fall hat Stephan den Begriff der diachronen, für den zweiten Fall den der synchronen Determiniertheit vorgeschlagen.120 Dieser begrifflichen Unterscheidung soll hier weiterhin gefolgt werden, da sie, wie sich im Fortgang zeigen wird, für die weitere Diskussion um den Emergenzbegriff besonders geeignet ist.