Gottes Weg mit den Menschen. Jin Man Chung
Verheißungen Israels verbindet (Mt 1,23; 28,20): Für Matthäus ist Jesus nicht nur der Irdische, sondern auch der Erhöhte. Er ist der messianische Gottessohn, der die Verheißung des rettenden Beistandes Gottes erfüllt. Nach der Auferweckung setzt er seine Allmacht ein (Mt 28,18-20), „nicht um die Menschen zu überwältigen, sondern um ihnen beizustehen“3. Die durch die Propheten zugesprochene Heilstreue Gottes beginnt sich mit der Geburt Jesu eschatologisch zu erfüllen (Mt 1,18-25) und verwirklicht sich mit seiner Sendung, die in seinem Tod kulminiert und durch seine Auferstehung eschatologisch transformiert wird.
Weil Matthäus den Weg Jesu als den Heilsweg Gottes erschließt, stellt sich die Frage der Kommunikation: Wie kann auf dem Weg Jesu das Heil Gottes diejenigen erreichen, die gerettet werden sollen? Die Frage stellt sich nicht nur im Rückblick auf die Geschichte Jesu, sondern auch im Blick auf die Gemeinde des Matthäus und im Ausblick auf die Zeiten bis zur Vollendung. Deshalb ist nicht nur die Erinnerung an das Wirken und Leiden Jesu wesentlich, an die Art und Weise, wie er das Evangelium verkündet und geradezu verkörpert hat, es ist vielmehr auch wesentlich, wie er nach Matthäus die Distanzen in Raum und Zeit überwindet, die sich notwendigerweise in der Spannung zwischen dem Einen, den Gott gesandt hat, und den Vielen, die er retten will, auftun. Das entscheidende Mittel, das Jesus nach Matthäus wählt, ist die Sendung seiner Jünger. Vorösterlich weitet er durch sie seine Präsenz in Israel aus (Mt 10), nachösterlich für alle Zeit auf alle Völker (Mt 28,16-20). „Die Jünger erfahren den Beistand des allmächtigen Gottes in der Person Jesu Christi nicht so, dass ihre eigene[n] Allmachtsphantasien beflügelt, sondern so, dass sie auf den Weg der Nachfolge geführt werden: wenn sie das Vaterunser beten; wenn sie sich, und seien es nur zwei oder drei, im Namen Jesu versammeln (Mt 18,20); wenn sie sich um die Armen kümmern, mit denen Jesus sich identifiziert (Mt 25,31-46).“4 Die Jünger leben nach Matthäus allezeit von der Immanuel-Verheißung; sie tragen sie weiter, indem sie dem Nachfolgeruf Jesu folgen und durch ihre Sendung ihn als Heiland verkündigen und repräsentieren. In unbedingter Bindung an die Person und die Lehre Jesu erlangen die Jünger die „überfließende Gerechtigkeit“ (Mt 5,20) und realisieren die rettende Gegenwart Gottes. Im Rahmen ihrer Kräfte prägen sie „Modelle gelebten Glaubens für alle Zeiten“5, sie bilden die „Kirche“, die von Jesus auf dem Felsen Petrus gebaut ist (Mt 16,18). Für das Matthäusevangelium sind die Christologie des Immanuel und die Ekklesiologie der Nachfolge konstitutiv. Die vorliegende Arbeit ist auf die Dynamik der Verhältnisbestimmung zwischen Jesus und seinen Jüngern fokussiert, wie sie im Evangelium nach Matthäus erzählt wird, hat aber die Gegenwart der matthäischen Gemeinde im Blick, die zur Wirkungsgeschichte dessen gehört, was Matthäus in seinem „Buch“ (Mt 1,1) beschreibt, und sich deshalb kritisch und konstruktiv auf diesen Anfang beziehen muss, um ihre Sendung zu entdecken.
Zu untersuchen ist deshalb, wie Matthäus Christologie und Ekklesiologie, basaler: die Sendung Jesu und die seiner Jünger unter dem Aspekt verbindet, die Gegenwart der Kirche mit der Verheißung und dem Anspruch Jesu zu konfrontieren. Die entscheidende Verbindung ist jene, mit der Matthäus den Weg Jesu als Weg Gottes zum Heil Israels und der Völker darstellt. Es ist ein Weg; deshalb ist Nachfolge wesentlich. Es ist ein Heilsweg; deshalb ist die Teilhabe der Jünger an der Heilssendung Jesu entscheidend. Es ist der Weg Jesu selbst; deshalb ist das Wirken Jesu durch seine Jünger der Schlüssel.
Dieses Wirken Jesu durch seine Jünger ist im Matthäusevangelium nicht nur instrumentell, so als ob die Jünger nur Mittel zum Zweck wären; der Ruf in die Nachfolge ist vielmehr selbst der intensivste Ausdruck gerade jener Gottesverkündigung, mit der Jesus das Heil Gottes nahebringt. Die Jünger sind auf dieses Wort der Erwählung und Sendung angewiesen, weil sie sich nicht selbst senden und erlösen können, sondern der Bevollmächtigung und der Vergebung bedürfen. Jesus seinerseits geht über die Jünger mit ihren Fragen und Schwächen, Hoffnungen und Erfahrungen nicht hinweg, weil er in seiner Sendung gerade die Armen seligpreist (Mt 5,3-12).
Matthäus hat die Beziehung Jesu zu seinen Jüngern und der Jünger zu ihm genau gestaltet, intensiver als Markus, von dessen Evangelium er ausgeht. Auf der einen Seite hat er die Vollmachtschristologie durch das Immanuel-Motiv in einer Weise weiterentwickelt, dass die bleibende Gegenwart Jesu im Jüngerkreis theologisch gedacht werden kann. Auf der anderen Seite hat er die Beziehung der Jünger zu Jesus in größerer Differenziertheit und Farbigkeit als Markus gestaltet; im Spannungsfeld von Kleinglaube und Nachfolgebereitschaft zeichnet sich ab, wie die Jünger bleibend auf Jesus angewiesen sind, aber gerade deshalb Jesu Heilssendung weiterführen können.
1.1.2 Die Problematik des Themas
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Christologie und Ekklesiologie ist prekär, nicht nur, weil gegenwärtig in vielen Regionen die Kirchenbindung schwindet und das Christusbekenntnis in der Öffentlichkeit verblasst. Entscheidend ist vielmehr, dass sich ein theologisches Grundproblem stellt, das nicht ohne Weiteres aufzulösen ist. Die katholische Theologie betont traditionell die Kooperation zwischen Jesus und der Kirche6 – nicht als gleichberechtigte Partner, die einander ergänzen, aber als Wirken Jesu durch die Kirche. Die Kirche ist keineswegs mit Jesus gleichzusetzen; Jesus ist aber in der Kirche wirksam gegenwärtig. Die Kirche kann nur ein Werkzeug Gottes bei der Vermittlung des göttlichen Heils für die Menschen sein; aber ihr Wesen und ihre Sendung ist es, dieses Sakrament zu sein. Mit Anspielung auf die Deuteropaulinen schreibt Walter Kasper: „Durch die Kirche und in ihr bezieht Gott in Christus das All in sein Pleroma ein.“7 Bei der Betonung der untrennbaren Verbindung zwischen Jesus und der Kirche in der katholischen Ekklesiologie bleibt aber die Frage nach dem qualitativen Unterschied zwischen Jesus, dem Erlöser, und der Kirche, der Gemeinschaft der auf Hoffnung hin Erlösten, der gerechtfertigten Sünder, notorisch unbestimmt. Ohne die Differenzierung würde aber ein ekklesialer Triumphalismus herrschen, der blasphemisch wäre.
Die evangelische Theologie betont demgegenüber traditionell die Differenz zwischen Christus und der Kirche8 – nicht als Gegensatz, aber in der Weise, dass die Kirche gerade das „extra nos“ des Heiles bezeuge. Eine Heilswirksamkeit der Kirche wird damit nicht ausgeschlossen. Aber der Fokus liegt angesichts des Christusbekenntnisses, das, wenngleich im Kern identisch, geschichtlich bedingt und zeitlich variabel ist, beim Wirken des Heiligen Geistes in den einzelnen Gläubigen. Bei der Betonung der Differenz zwischen Christus und der Kirche bleibt die Frage nach der qualitativen Verbindung in der evangelischen Theologie notorisch unterbestimmt. Ohne die Verbindung würde aber ein Individualismus herrschen, der die gemeinschaftsstiftende Funktion des Glaubens unterschätzt und damit ihn selbst halbiert.
Die spezifisch konfessionellen Differenzen können im Rahmen einer Matthäusexegese nicht rekonstruiert und transformiert werden. Sie zeigen aber die Zusammenhänge und Hintergründe, die in die Matthäusforschung hineinspielen und mit denen sich die Auslegung des Matthäusevangeliums theologisch befassen muss. Die Aufgabe besteht darin, das Verhältnis zwischen Christologie und Ekklesiologie differenziert zu bestimmen, so die essentielle Differenz ebenso wie den essentiellen Zusammenhang zu erhellen.
1.1.3 Das Beispiel des Matthäusevangeliums
Das Matthäusevangelium ist eine wegweisende Reflexion über die Sendung der Kirche in der Nachfolge Jesu. In der systematischen Theologie wird die matthäische Theologie in ihrem spezifischen Profil kaum je reflektiert. Daraus, dass der Evangelist Matthäus unter den Evangelisten als einziger den Begriff ἐκκλησία (Mt 16,18; 18,17)9 verwendet, lässt sich aber das besondere Interesse dieses Evangeliums an der „Kirche“ erkennen. Die ekklesiologische Konzeption des Evangeliums orientiert sich an der Jüngerschaft. Die „Jünger“ sind bei Matthäus nicht nur eine historische Größe in ihrer Beziehung zu Jesus; indem sie den vorösterlichen Nachfolgekreis Jesu bezeichnen, gehen sie vielmehr über „eine geschichtliche Kontinuität“10 mit der nachösterlichen Kirche hinaus. Matthäus verbindet mittels des Missionsauftrags des Auferstandenen (Mt 28,18-20) den vorösterlichen Jüngerkreis mit dem nachösterlichen, so dass die Jünger als „Ausdruck einer inhaltlichen Programmatik“11 den erweiterten Horizont für die Glaubensgeschichte der Kirche öffnen. Sie repräsentieren die Kirche, die Jesus selbst gebaut hat (vgl. Mt 16,18), „ihre Darstellung ist transparent für die Gegenwart der Gemeinde (Mt 18,1-35)“12. Die vorösterliche