Gottes Weg mit den Menschen. Jin Man Chung

Gottes Weg mit den Menschen - Jin Man Chung


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beispiellos.24 Seine Versuche, die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte in die Exegese zu integrieren, sind von der Problematik der historisch-kritischen Exegese angeregt, dass „sie einen Text in seiner eigenen Zeit und in seiner eigenen Ursprungssituation isoliert und ihn so daran hindert, etwas zur Gegenwart zu sagen“25. Luz räumt dem Problembewusstsein der Wirkungsgeschichte einen besonderen Stellenwert ein. Nach seinem Begriffsverständnis sei Wirkungsgeschichte „das Gesamte der Spuren, welche ein Text in seiner Nachgeschichte durch seine Lektüren hinterlassen hat, und zwar in allen Bereichen des Lebens, also z. B. in der Theologie, in der Kunst, in der Politik, im Recht, in der Frömmigkeit, in der Literatur, in der Philosophie usw.“26. Im Unterschied zur Rezeptionsgeschichte, die die aktive Rolle der Rezipienten bei der Sinngebung betont, zeichne die wirkungsgeschichtliche Exegese die Wirkkraft des Textes und dessen Wirkungen im Wandel der Zeit nach. Sie zeuge von möglichst allen Auslegungsmöglichkeiten, die durch den Text (und dessen Lektüre) freigesetzt sind. Demgegenüber fokussiere die Auslegungsgeschichte sich restriktiv auf die mannigfaltigen Interpretationen in Kommentar- und Predigtwerken im Verlauf der Geschichte. So sei die Wirkungsgeschichte unter die Auslegungsgeschichte subsumiert.27

      Entsprechend seiner hermeneutischen Interessen begreift Luz die Texte „nicht so sehr als Reservoir, sondern als Produzenten von Sinn in neuen Situationen“28, und die damit „als das Ganze der Relektüren, Rezeptionen und Aktualisierungen des Evangeliums in neuen geschichtlichen Situationen“29 verstanden werden. Durch die textorientierte Aufarbeitung der matthäischen Texte versucht er, „ihre eigenen Aussagen, ihre Offenheiten und ihre Sinnpotenzen herauszuarbeiten und ihren Richtungssinn im Gespräch mit der Wirkungsgeschichte und im – oft nur impliziten – Blick auf die eigene heutige Situation vorsichtig zu positionieren“30. Dabei dient die historisch-kritische Exegese, die in der biblischen Forschung über hundert Jahre lang vorherrschend war, nicht als ein marginaler Gegenstand, sondern bleibt Teil der wirkenden Geschichte. Die Wirkungsgeschichte hilft das Defizit der historischen Kritik auszugleichen, insofern sie nicht nur die historisch-kritisch zu untersuchende Aussage des Textes hervorhebt, sondern seinen Wortsinn in jeweils neuer Situation erschließt und damit ihn an die Gegenwart übermittelt. Ihre Beziehung zur historisch-kritischen Exegese kann daher „im Sinne einer Erweiterung des Methodenangebotes“31 gedeutet werden.

      Durch die wirkungsgeschichtlich orientierte und dadurch exegetisch bereicherte Textauslegung wird das Problembewusstsein der Exegese geschärft. Die wirkungsgeschichtliche Exegese gewinnt ihre Bedeutung nicht im bisherigen Paradigma von Diachronie und Synchronie32. Sie richtet sich „gegen alle mithilfe von Textinterpretationen legitimierten Absolutheitsansprüche“33 und weist eine Vielfalt von Interpretations- und Applikationsmöglichkeiten nach. Das gesamte Spektrum aller möglichen Deutungsvarianten zeigt die Erweiterung des Verstehenshorizonts. Positiv heißt das, dass die Auslegungsgeschichte sich nicht nur mit der Vergangenheit beschäftigt, sondern schon im Prozess der Textauslegung immer auch auf die Zukunft ausgerichtet ist. Die Texte werden in einer jeweils neuen Erfahrungswelt des Interpreten rekontextualisiert und reaktualisiert. Sie werden auf eine dialogische Kommunikationsebene der wirkenden Geschichte gehoben, die nicht nur Potenziale auslotet, sondern Bedeutungen generiert.

      Wirkungsgeschichtliche Exegese bringt aber nicht nur die positive Seite der Textauslegung hervor. Sie hat auch den Nachteil, dass die kritische Funktion des Textes gegenüber der Auslegung strukturell reduziert wird. Insofern jeder einen Text anders interpretieren kann, gibt es nicht nur keine endgültig richtige Auslegung; es stellt sich auch die Frage, ob und wie richtige von falschen Auslegungen unterschieden und missbräuchliche Verwendungen biblischer Texte kritisiert werden können. Für die Unterscheidungen sind bestimmte Kriterien nötig, so dass wirkungsgeschichtliche Spurensuche nicht als bloßer Stimmenwirrwarr angesehen werden kann. Vor der Debatte um die Normativität und Relevanz der Textauslegungen diskutiert Ulrich Luz, wie die verschiedenen Interpretationsweisen der dreidimensionalen Wahrheitsfrage gerecht werden: 1) Inhaltlichtheologisch sind neutestamentliche Texte Christuszeugnisse. Christus gibt der Textinterpretation die Leitlinie. 2) Für die Identität der Kirche wird eine ekklesiologische Deutungshoheit für Interpretationen beansprucht. 3) Die Wahrheit biblischer Texte ist mit der Frage nach ihren Folgen verbunden. Pragmatisch beschäftigt sich die Textinterpretation mit den Auslegungen, die die Nachgeschichte der Texte hinterlassen hat.34 Alle drei Aspekte sind für die Fragestellung dieser Studie virulent und müssen kritisch in ein konstruktives Verhältnis zueinander gebracht werden.

      Das Matthäusevangelium ist bereits ein Teil der Wirkungsgeschichte der Jesus-Überlieferung, mit der die Auslegungsgeschichte der Kirche einsetzt.35 Es gibt aber keinen wirkungsgeschichtlichen Versuch in der Weise, dass das Verhältnis von Christologie und Ekklesiologie an den entscheidenden Stellen im Licht der Auslegungstradition erschlossen wird. Denn die Problematik ist eine spezifisch moderne, die nur unter den Bedingungen der historischen Kritik in voller Schärfe aufbricht. Aber indem die Studie das Verhältnis von Christologie und Ekklesiologie erörtert, geht sie an den Anfang dessen, was überhaupt „Wirkungsgeschichte Jesu“ genannt werden kann, zurück. Sie fragt nach den – der Überlieferung zufolge – von Jesus selbst gegebenen Impulsen, die zuerst dem Jüngerkreis überliefert und von diesem dann weitergegeben wurden. Auf diesen Anfang muss sich die vorliegende Studie beschränken.

      Eine weitgehend offene Frage ist das Verhältnis der wirkungsgeschichtlichen zur historisch-kritischen Exegese. Die bei Ulrich Luz angefertigte Dissertation von Moisés Mayordomo-Marín36 bringt am Beispiel des Prologs des Matthäusevangeliums (Mt 1-2) den Ertrag einer konsequent rezeptionskritischen Fragestellung ein. Die Position der historisch-kritischen Exegese verbindet er mit literaturtheoretischen und rezeptionsästhetischen Entwürfen. Mayordomo-Marín unternimmt allerdings diese stark leserorientierte Arbeitsweise37 „keineswegs als Ersatz für historisch-kritische Exegese, sondern viel eher als einen Versuch, die Möglichkeiten auszuloten, die verschiedene moderne literaturwissenschaftliche Rezeptionsmodelle für eine Methodenintegration bieten können“38. Mit seiner rezeptionskritischen Untersuchung erweitert sich der Raum für die methodenkritischen Reflexionen, so dass eine Pluralität der hermeneutischen Disziplinen zur Bibelauslegung ermöglicht wird. Aber angesichts der Fokussierung auf die Leserwelt bleibt die Frage nach dem geschichtlichen Sinn des Textes.

      Narratologie

      Als Gegenbewegung zur historisch-kritischen Arbeitsweise der Exegese entstand die stark synchron orientierte Methode, u. a. die narrative Analyse. Dieser Methodenschritt verfolgt einen „Primat der Synchronie“ gegenüber der Diachronie. Er untersucht nicht den Ursprung der Texte; er sieht von ihrer Entstehungsgeschichte und -situation ab. Gegen die situative Orientierung der Exegese richtet sich sein Augenmerk „auf die literarische Integrität der Endfassung, d. h. kanonische Form der Texte, und auf die Textwelt“39. Die in sich abgeschlossenen, erzählerisch-literarisch kohärenten Texte sind Gegenstand dieser Erzählforschung. Ebenso wie das Markusevangelium wird auch das Matthäusevangelium mit Hilfe narratologischer Analyseverfahren aus der modernen Sprach- und Literaturwissenschaft exegesiert, vor allem im englischsprachigen Raum entwickelt und verbreitet.40

      Beachtenswert ist in der deutschsprachigen Exegese für das Matthäusevangelium eine narratologische Studie von Uta Poplutz.41 Sie arbeitet in ihrer Untersuchung den narrativen Charakter des Evangeliums heraus. Sie liest – angeregt durch Luz’ Werk „Die Jesusgeschichte des Matthäus“ – das Matthäusevangelium in erster Linie „als kontinuierliche Erzählung, mit anderen Worten als die Geschichte Jesu, welche einen sinnvollen Spannungsbogen bildet“42. Für sie ist die narratologische Theoriebildung der Ausgangspunkt für ihre Auslegung des Evangeliums. Sie zeigt Vorzüge des narratologischen Ansatzes für die Bibelexegese auf. Die erzähltheoretische Lektüre könne „mit einem vergleichsweise geringen methodischen Aufwand und ohne weitere Hilfsmittel“43 durchgeführt werden. Die narrative Analyse weist auf die Notwendigkeit hin, die Logik der Erzähltexte zu erhellen. Dafür sei die Grundkenntnis der Sprache unbedingt relevant – weniger die wissenschaftlichen Bemühungen. Erzählungen reichen über die geschichtliche Realität hinaus. Sie fungieren „als ein vordergründiger, auf den ersten Blick objektiv erscheinender Tatsachenbericht: Erzählungen


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