Gottes Weg mit den Menschen. Jin Man Chung
sich die historisierende Akzentuierung wider, die aber durch das Petrusbild in ekklesiologischem Sinn typologisiert wird. Die Sendung der Jünger an alle Völker (Mt 28, 16-20) sei der Anfang der Kirche, so dass die Verbindung mit der heilsgeschichtlichen Periode gesichert ist. Die Ekklesiologie erlange eschatologische Qualität dadurch, dass die Gemeinde sich an den ethischen Forderungen Jesu ausrichte; sie solle in der Nachfolge Jesu die eschatologische Gerechtigkeit erfüllen. Sie sei aber fortwährend von der Versuchung der Sünde bedroht. Ihre christliche Existenz werde „durch eine ständige Bewegung zwischen Bejahung und Verneinung, Erfüllung und Nichterfüllung des eschatologischen Imperativs“76 charakterisiert. Für die Vollkommenheit hat deshalb dieses corpus mixtum die Paränese notwendig.
Auswertung: Streckers Untersuchung zielt auf die Rekonstruktion der Heilsgeschichte ab. Das irdische Leben Jesu – von der Geburt über sein öffentliches Wirken bis zum Tod und zur Auferstehung – vollzieht sich auf der historischen Ebene. Das Heilsgeschehen durch Jesus entfaltet sich mit der Sendung der Kirche weiter, jedoch unter der Voraussetzung der Ablehnung Jesu durch Israel. Die Zeit der Kirche ist am letzten Gericht Gottes orientiert. Die ethischen Forderungen an die Jünger als Gegenstand der Basileia-Verkündigung Jesu sind schon eschatologisch ausgerichtet. Bei Strecker ist die Heilsgeschichte von der Historisierungstendenz bestimmt. Christologie und Ekklesiologie bewegen sich auf der historischen Ebene. Die Geschichte Jesu beruht aber m. E. nicht nur auf der historischen Erinnerung, sondern hat einen bleibenden Gegenwartsbezug. Sie gewinnt ihre Bedeutung dadurch, dass sie durch die Sendung der Kirche fortbesteht und damit transparent bleibt.
Eduard Schweizer
Die Frage, welches Verhältnis von Christologie und Ekklesiologie im Matthäusevangelium besteht, leitet auch Eduard Schweizer für seine Matthäus-Forschung77. Im Vorwort erwähnt er explizit, ihn habe besonders der „Zusammenhang der Ekklesiologie des Matthäus mit seiner Christologie interessiert“78. Als Schwierigkeit erkennt Schweizer jedoch, dass „Matthäus nie seine Theologie oder Christologie bewußt darlegt“, während bei Markus „schon der Aufriß des Evangeliums als ganzes eindeutig auf die Christologie zugespitzt“79 ist. Nach Schweizer zeige das Matthäusevangelium mehr das ekklesiologische Interesse als das christologische. Er sehe das Verständnis der „Gemeinde“ (Mt 16,18; 18,17) als sein zentrales Thema an.
Vor dem Hintergrund, dass das Matthäusevangelium eine stark judenchristliche Prägung hat, denkt Schweizer an eine Gemeinde, „die in einem noch ganz vom Judentum bestimmten Bereich lebt und die jüdische Synagoge quer über der Straße stehen sieht“80. Die christliche Gemeinde sei an die Stelle Israels getreten, aber nicht so, dass sie sich als das „neue Israel“ verstände, sondern als das „andere Volk, dem jetzt der Weinberg Gottes übergeben ist“81. Sie sei die (neue) Gemeinde Jesu, die Jüngerschaft, die angehalten ist, den Willen des himmlischen Vaters zu tun. Sie höre niemals auf, sondern gehe mit der Verheißung des Auferstandenen (Mt 28,20) durch die Zeit weiter. Die Zugehörigkeit zu ihr bedeute aber nicht die Garantie des Heils. Die „Gemeinde“ sei ihrem Wesen nach ein corpus mixtum, eine Größe, in der Gute und Böse zusammenleben. Die Gemeindeglieder bedürfen deshalb der ethischen Weisung des Gesetzes Gottes in den Geboten Jesu und der Vergebung der Sünden, so dass sie – im Unterschied zu Israel – Früchte bringen. Ansonsten drohe auch ihnen das letzte Gericht Gottes, wenn der Menschensohn als Richter kommt.
In seiner Untersuchung legt Schweizer das Hauptgewicht auf die Darstellung des Wesens und der Rolle der Gemeinde. Er erklärt die Ekklesiologie des Matthäus durch seine Christologie. Nach ihm bestehe im Aufriss des Evangeliums eine „enge Zusammengehörigkeit des Schicksals und Handelns Jesu mit dem seiner Jüngerschar“82. Matthäus stelle Jesus als den kommenden Menschensohn-Richter und als die „inkarnierte Weisheit“83 vor. Insofern aber Gottes Weisheit in Israel mit dem Gesetz gleichgesetzt worden ist (vgl. Sir 24,23; Bar 4,1), sei in Jesus Gottes Gesetz Fleisch geworden. Nach Schweizer macht Matthäus allerdings keine Aussage über Jesu Präexistenz wie Paulus und Johannes. Er spreche von Jesu „Tätigkeit als des vollmächtigen und abschließenden Interpreten des Willens Gottes, wie dieser im Gesetz schon ausgedrückt ist“84. Jesus ermögliche durch sein Vorausgehen die Nachfolge. Die Ekklesiologie sei ihrerseits Christologie, wenn die „Gemeinde“ in der Nachfolge Jesu durch ihren prophetischen Verkündigungsdienst das Gesetz, das Gebot der Liebe, wirklich erfüllt.
Auswertung: Schweizer legt eine stark ekklesiologisch orientierte Arbeit vor, wobei besonders das matthäische Gemeindeverständnis im Mittelpunkt steht. Dennoch gibt er seine Aufgabe, den Zusammenhang von Christologie und Ekklesiologie zu erschließen, nicht auf, sondern kommt ihr nach, indem er die Ekklesiologie in einen deutlichen christologischen Bezug stellt. Die „Gemeinde“ gewinnt ihre existenzielle Identität in der Nachfolge Jesu dadurch, dass sie – wie die Jünger – in Beziehung zu ihm steht. Die thematisch-sachliche Entfaltung der Arbeit geht darauf zurück, dass die matthäische Christologie gegenüber der markinischen abgewertet wird. Aber die Tatsache, dass Schweizer die Christologie des Matthäusevangeliums wenig beachtet, ist zu kritisieren. M. E. enthält das Matthäusevangelium gegenüber dem Markusevangelium eine hohe, eigenständige Christologie.
Georg Künzel
Die Erlanger Dissertationsschrift von Georg Künzel „Studien zum Gemeindeverständnis des Matthäusevangeliums“85 weist in ihrem Titel darauf hin, dass diese Abhandlung sich dem ekklesiologischen Thema widmet. Welches Gemeindeverständnis im Matthäusevangelium vorherrscht, ist die Grundfrage der redaktionsgeschichtlich angelegten Arbeit. Die Darstellung der matthäischen Ekklesiologie bezieht sich auf 1) das Selbstverständnis, 2) die Funktion und 3) die Vollmacht der Gemeinde.
Zu 1): Der Autor legt dar, die Gemeinde lebe „zwischen zwei Polen: der Offenbarung des Gottesrechtes, die sich im Jesus-Geschehen vollzogen hat, und der Durchsetzung des Gottesrechtes, die sich bei der Ankunft des Menschensohnes vollziehen wird“86. Sie werde von den „Jüngern“ repräsentiert. Sie ständen dem Volk gegenüber, insofern sie die Basileia-Verkündigung Jesu verstehen. Das „Verstehen“ komme ihnen zu; es bedeute „die Einsicht, die dazu befähigt, anders als das Volk, dem die Erkenntnis der Geheimnisse des Himmelreiches nicht gegeben ist, das Wort vom Reich zu hören und Frucht zu bringen“87. Die Jüngerschaft sei an der Verbundenheit mit Jesus erkennbar. Durch Nachfolge, Leidensbereitschaft und Gehorsam gewinne sie ihr Kennzeichen.
Zu 2): Die Gemeinde als die Jüngerschaft Jesu habe eine doppelte Funktion. Einerseits habe sie die prophetische Wirksamkeit (Mt 10,41; 23,34), die „im Kontext der Bemühung um die Verwirklichung der mt verstandenen δικαιοσύνη geschieht und die Konsequenz der Verfolgung zu übernehmen bereit ist“88. Andererseits fungieren die Gemeindeglieder als christliche Schriftgelehrten (Mt 13,52), die um das Gerechtsein ringen, das Wort vom Reich verstehen und damit Frucht bringen.
Zu 3): Die „Wirkungsformen der Gemeinde“89 würden an den Petrustexten vorgeführt. Es handele sich um die Geschichte des Petrus von seinem Glauben (Mt 14,29), seinem Bekenntnis (Mt 14,33; 16,16), seinem Kleinglauben (Mt 14,31) und Versagen (Mt 16,23; 26,69ff.). Diese Aussage erhalte „eine seelsorgerlich relevante Modell-Funktion“90. Die matthäische Gemeinde finde in Mt 16,19 und 18,18 „Ursprung und Urbild der von ihr geübten lehrmäßigen und disziplinarischen Vollmacht“91. Sie werde von der Vollmacht der Vergebung, dem charismatischen Handeln und der missionarischen Vollmacht weiter geformt und belebt.
Offenbar ist das Gemeindebild im Matthäusevangelium das Zentralthema der Arbeit. Da Künzel aber „das Geschichtsverständnis des Matthäus-Evangeliums als Rahmen für das matthäische Gemeindeverständnis aufzeigen will“92, braucht seine Untersuchung ein weiteres Bezugsfeld der Geschichtstheologie. Dieser Arbeitsschritt rechtfertige sich mit der Beobachtung, dass Matthäus „nicht nur an der gegenwärtigen Situation der Kirche interessiert ist, sondern als Theologe die Existenz der Kirche Jesu vor dem Hintergrund der Geschichte des at. Gottesvolkes reflektiert“93. Das geschichtstheologische Konzept im Matthäusevangelium sei aber zuerst durch die Person und die Geschichte Jesu ausgelegt. Die alttestamentlich-prophetischen Zeugen fänden ihre göttliche Beglaubigung im Jesusgeschehen.