Fremde Richter. Georg Kreis
war der Innerschweizer Ständerat Hans Danioth (CVP/ UR), der darin die Souveränität nicht nur des Landes, sondern auch der Kantone beeinträchtigt sah und darum am 6. Juni 1988 ein Postulat einreichte und sogar eine vorsorgliche Kündigung der EMRK anregte. In seiner Begründung ging der Urner Ständeherr davon aus, dass die eigene Ordnung nur schon deswegen Schutz verdiene, weil es die eigene ist. Auf Verbesserung bedachte Rechtsharmonisierung tat er ohne Überprüfung ihrer Berechtigung und Wünschbarkeit als «Nivellierung» ab: «Im ersten Bundesbrief haben die Eidgenossen geschworen, keine fremden Richter anzuerkennen. Es blieb uns fortschrittlichen Nachfahren des 20. Jahrhunderts vorbehalten, diesen weisen Grundsatz über Bord zu werfen. Wir sind drauf und dran, durch eine argwürdige Rechtsprechung seitens eines ausserhalb unseres Landes agierenden Gerichtes die traditionell gewachsene und im Rahmen von Verfassung und Gesetz weiterentwickelte innere Ordnung unseres Justizwesens zugunsten einer nivellierenden Einheitstheorie, welche auf unser Land keine Rücksicht nimmt, preisgeben zu müssen.»56
Ständeratskollege René Rhinow (FDP/BL), Ordinarius für Staatsrecht der Universität Basel, widersprach dem aus Uri erhobenen Anspruch auf kantonale Souveränität und verwies auf die garantierten Grundrechte in der für die ganze Schweiz geltenden Bundesverfassung. Zu den «fremden Richtern» bemerkte er: «Es wird mit Strassburg nicht Macht eines arroganten Herrschers über ein unterjochtes Volk ausgeübt. Wir Schweizer haben personell Anteil am Richteramt wie jeder andere Signatarstaat der Konvention.»57 Das wiederum wollte Parteikollege Ernst Rüesch (FDP/SG) nicht unkommentiert stehen lassen. Der Einfluss der Schweiz sei in Strassburg trotz der Vertretung «ausserordentlich» gering; eine grosse Mehrheit ausländischer Richter würde über die Schweiz richten.58
Bemerkenswert war und ist, dass Zeitungen, die eigentlich dafür disponiert waren, sich zur Vox populi zu machen, dieses Intermezzo nicht publizistisch auswerteten.59 Die «Weltwoche» stellte denn auch fest, dass der «Proteststurm von nationalistischer Seite» beinahe ausgeblieben und Danioth mit seiner Polemik gegen die EMRK ein «einsamer Rufer in der Wüste» geblieben sei.60
Der Topos der «fremden Richter» gehörte, auch ohne in akuten Kontroversen als schlagendes Argument benötigt zu werden, zu den Grundelementen des helvetischen Diskurses. Der Historiker und frühere Bundesrat Georges-André Chevallaz verkündete im Kontext des 700-Jahr-Jubiläums von 1991, bezogen auf die Formel von 1291, «l’hostilité au prince de dehors et au juge étranger» bilde neben Republikanismus und Föderalismus die dritte Konstante des schweizerischen Zusammenhalts.61 Doch erst im Kampf gegen den Beitritt zum EWR erhielt der Topos der «fremden Richter» die Bedeutung eines gängigen Schlagworts.
Wer die Formel der «fremden Richter» aufgeladen hat
Im Kampf gegen den Beitritt zum EWR erlangte der Topos der «fremden Richter» eine hohe Bedeutung, beziehungsweise: Sie wurde ihm gegeben. Die ursprüngliche Bedeutung, wie im vorangegangenen Kapitel umschrieben, spielte dabei überhaupt keine Rolle. Die «fremden Richter» wurden zur Chiffre für auswärtige Einwirkung unterschiedlicher Art, von Regulierungen durch «Brüssel» bis zur «Überschwemmung» des Landes durch fremde Arbeitskräfte und zum Lastwagentransit.
Nationalrat Christoph Blocher (SVP/ZH) nutzte seine vierte Albisgüetli-Rede vom 24. Januar 1992 zur Eröffnung seines Kampfs gegen den EWR-Beitritt und setzte dabei die später gebetsmühlenartig wiederholte Formel ein: «Haben wir 700 Jahre lang gegen ‹fremde Richter› gekämpft, haben wir uns 700 Jahre lang für eigene Richter eingesetzt, um jetzt plötzlich unsere Freiheit nicht nur gegen fremde Richter, sondern auch gegen fremdes Recht einzutauschen? So viel Verlust an Souveränität, an demokratischen Rechten, so viel Verlust an Selbstbestimmung lassen wir uns nicht gefallen!»62 Wie dargelegt, war die Inanspruchnahme eines 700-jährigen Widerstands falsch, Blocher knüpfte, was naheliegend war, an die im Vorjahr mit grossem Aufwand zelebrierten 700-Jahr-Feierlichkeiten an.63
Die «fremden Richter» waren – auch bei Blocher – bloss eine historische Figur fremder Mächte, die später in der nationalrätlichen EWR-Debatte auch als «neuzeitliche Vögte» mit Namen wie Delors, Mitterand und Kohl versehen wurden.64 Zutreffend interpretierte der deutsche Politikwissenschaftler Ralf Langejürgen, der eines der besten Bücher zur schweizerischen Europapolitik um 1990 verfasst hat, die «fremden Richter» als Teil eines breit angelegten «Widerstandsmythos», der einerseits mit dem Griff nach dem 13. Jahrhundert eine historische Kontinuitätslinie konstruierte, andererseits damit aber auch eine Parole zur Abwehr aktueller Überflutung insbesondere durch Arbeitslose zur Verfügung stellte.65
Nicht bemerkt hat Langejürgen jedoch: Der Aufruf zum Widerstand knüpfte an einen weiteren Topos an, und zwar an die gängige Losung von «Anpassung oder Widerstand» aus der Zeit der Bedrohung durch NS-Deutschland.66 Mit der Betonung des belasteten Worts der Anpassung konnte eine kooperative Haltung dem Projekt der Europäischen Gemeinschaft (EG) gegenüber diskreditiert werden. Blocher beschwor die Anpassung in der Rede vom Januar 1992 gleich zu Beginn und gleich mehrmals als Gefahr und betonte, dass sie nicht neu, sondern eben eine Wiederholung sei: «Ein weiteres Mal in der Geschichte unseres Landes ist überall von ‹Anpassung› die Rede. Anpassung sei das Gebot der Stunde. Anpassen müsse man sich an die Zeit und Umstände.»67 Anpassen woran? Bezeichnenderweise präsentierte Blocher die folgende Reihe negativer Gegebenheiten: anpassen an veränderte Drogensitten, an die stetig steigende Kriminalität, an missliche Asylpolitik – und vor allem an Europa beziehungsweise an die EG!
Entgegen der Gepflogenheit, Abstimmungskampagnen erst nach der Beratung der Vorlage durch das Parlament zu lancieren, hatte Blocher die Kampagne bereits im Januar 1992 eröffnet. Der Vertrag war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht abgeschlossen; dies sollte erst am 2. Mai 1992 der Fall sein. Die weitere Entwicklung stärkte Blochers Position. Der geplante EWR wurde zu einem Modell einseitiger Anpassung, weil der EuGH den Efta-Mitgliedern im EWR kein Ko-Entscheidungsrecht in strittigen Fragen des Europarechts zugestand und auf einer alleinigen Auslegung beharrte (Stichwort: Autonomie des Unionsrechts). Jacques Delors, Präsident der EU-Kommission, hatte bereits im Januar 1990 in seiner Jahresrede vor dem Europäischen Parlament dazu erklärt: «La codécision ne peut en effet résulter que de l’adhésion pleine et entière et donc de l’acceptation de l’ensemble du contrat de mariage.»68 Auf Antrag der Kommission wurde dies vom EuGH am 14. Dezember 1991 entschieden und am 14. April 1992 nochmals bestätigt.
Der Entscheid vom Dezember 1991 zog den Schweizern, die erwarteten, dass für den EWR ein gemeinsames EG/Efta-Gericht geschaffen würde, den Boden unter den Füssen weg. Der EG-freundliche Brüsseler Korrespondent Jörg Thalmann meinte, die «fremden Richter» würden «fremden». Er zeigte zwar Verständnis dafür, dass die EG eine einheitliche Rechtsprechung als «Kitt» für den Zusammenhalt brauche, und er erblicke in ihr (anders als die später gepflegten Bilder vom Monster) ein noch junges und schwaches Gebilde. Die EG müsse aber nicht nur sich selbst dienen, sie müsse heute weit über ihre Grenzen hinaus eine Ordnung gestalten und darum in den Aussenbeziehungen auch Kompromisse eingehen und ein «besonderes Nahverhältnis» aufbauen.69
Die auf schweizerischer Seite erwartete Gleichstellung der Partner im EWR-Vertrag und ein entsprechendes Mitentscheidungsrecht in strittigen Auslegungsfragen erwiesen sich als Illusion. Auf Delors’ Erklärung vom Januar 1990 gemünzt, erlaubte sich der schweizerische Aussenminister Wochen später in der Presse die wenig diplomatische Bemerkung, man sei es in der Schweiz nicht gewohnt, mit Leuten zu tun zu haben, die alle Jahre ihre Meinung änderten.70 Was blieb, war die Aussicht, in einem «Gemischten Ausschuss» bei geplanten EU-Gesetzen, die auch den EWR betrafen, im sogenannten «Decision Shaping» seine Meinung abzugeben. Ob die ernüchternde Erfahrung in der Öffentlichkeit zu einer Reaktivierung der «fremden Richter» führte, muss offenbleiben. Jedenfalls hätte die EWR-Mitgliedschaft bei strittiger Auslegung des betroffenen EU-Rechts die «Auslieferung» der Schweiz an das fremde Gericht bedeutet.
Die Bundesräte Adolf Ogi und Arnold Koller in der EWR-Debatte vom 20. November 1992 im Bundesbriefarchiv, vor dem Wandbild des Rütlischwurs.