Völkerrecht. Oliver Diggelmann

Völkerrecht - Oliver Diggelmann


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      Frühe Neuzeit

      Suche nach konfessionell neutralem Recht: Friedensvertrag von Münster 1648.

      Viele Darstellungen des Völkerrechts lassen seine Geschichte 1648 mit den Westfälischen Friedensverträgen von Münster und Osnabrück beginnen. Diese beendeten den Dreissigjährigen Krieg, einen militärischen Flächenbrand, der wegen seiner Dimensionen in der damaligen Zeit manchmal mit den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts verglichen wird. 1648 hatte sich eine Reihe moderner Territorialstaaten ausgebildet und etabliert, sodass man etwas grosszügig von einem «modernen Staatensystem» sprechen konnte, das oft als Westfälisches Staatensystem bezeichnet wird.5 Die bereits entstandenen Staaten hatten begonnen, sich als souverän zu charakterisieren. Viele Gemeinwesen waren allerdings erst auf dem Weg zu Souveränität oder scheiterten unterwegs. Man wollte als souverän anerkannt sein. Die Etikette galt als Ausdruck dafür, dass man sich in der sich neu formierenden internationalen Ordnung etabliert hatte.

      Das militärische Patt nach den Konfessionskriegen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts hatte zur Folge, dass man ein konfessionell neutrales Recht für rechtliche Beziehungen zwischen europäischen Herrschaftsträgern brauchte. Die christliche Ordnung – es gab nun in der Westchristenheit zwei: die katholische und die protestantische – konnte nicht mehr die Klammer bilden. So entstand, vereinfacht gesagt, das moderne säkulare Völkerrecht. In den Friedensverträgen von Münster und Osnabrück schrieb man das Prinzip der religiösen Toleranz zwischen den Konfessionen fest. Das war ein wichtiger und kaum zu überschätzender Schritt in Richtung säkulare zwischenstaatliche Rechtsordnung. Die Vorstellung allerdings, dass das Völkerrecht am Ende des Dreissigjährigen Kriegs «geboren» wurde, ist verzerrend oder gar irreführend. Es gab keinen scharfen Bruch mit dem Dagewesenen, obschon dies im völkerrechtlichen Schrifttum manchmal so dargestellt wird. Passender ist das Bild des Herauswachsens des säkularen Völkerrechts aus langsam immer schwächer werdenden spätmittelalterlichen Strukturen des christlichen Universalreichs.6

      Das Herauswachsen erfolgte in manchmal kleineren und manchmal grösseren Schritten und wurde durch den Dreissigjährigen Krieg zweifellos beschleunigt. Auch nach 1648 waren aber nur ein Teil der internationalen Akteure moderne Staaten, ein anderer leitete seinen Status weiterhin aus dem Lehenssystem ab. Der Friedensvertrag von Osnabrück nennt als Parteien verschiedene Könige und Königinnen, «Häuser» wie etwa Österreich, Kurfürsten und Fürsten, Reichsstände unter Einschluss der Reichsritterschaft und schliesslich Territorialstaaten wie die Hansestädte, die Niederlande sowie die «Kantone der Schweiz». Es war ein vielfältiges Neben- und teilweise auch Übereinander von Herrschaftsträgern. Auch im späten 17. und selbst im 18. Jahrhundert überlagerten sich neue säkular-völkerrechtliche und alte reichs-, thronfolge- und lehensrechtliche Strukturen. Das Alte wich dem Neuen, aber nur langsam, und das Herauswachsen des Völkerrechts aus den mittelalterlichen Strukturen dauerte mehrere Jahrhunderte. Im Grunde begann der Prozess spätestens im 15. Jahrhundert und endete erst mit dem Untergang des Heiligen Reiches Deutscher Nation im Jahr 1806. In diesem Jahr wurde die Kaiserkrone des christlichen Universalreichs endgültig niedergelegt.7

      Wandel des Völkerrechtsverständnisses

      Das Völkerrechtsverständnis veränderte sich im Lauf dieser mehr als drei Jahrhunderte grundlegend. Die Veränderungen lassen sich als Verschiebung von einem Denken in Kategorien eines «Binnenrechts des christlichen Universalreichs» zu einem Denken in Kategorien eines säkularen Völkerrechts der westchristlichen Staatenwelt beschreiben. Es war eine Entwicklung von einem theologischen zu einem säkularen Rechtsdenken. Im christlichen Universalreich war die Frage nach den Regeln für den Verkehr zwischen Herrschaftsträgern eine theologische Frage. Das Recht stellte man sich als Ordnung für die ganze Welt vor, als Einheit, die in der Krönung des Kaisers durch den Papst mit Primat des Papstes symbolischen Ausdruck fand. Zu diesem Denken gehörte auch eine Grundunterscheidung zwischen Christen und der nichtchristlichen Menschheit. Päpstliche Edikte schufen auf der Grundlage dieser Unterscheidung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein erstes spätmittelalterliches Kolonialvölkerrecht, das spätere Entwicklungen in diesem Bereich stark vorzeichnete. Folgenreich war unter diesen Edikten insbesondere die Bulle «Inter Caetera» von 1493, die die überseeisch-nichtchristliche Welt in eine westlich-spanische und eine östlich-portugiesische Hemisphäre unterteilte. Sie sprach indigenen Völkern implizit die Fähigkeit zu eigener Rechtsträgerschaft und Eigentumsrechten im Besonderen ab.

      Zentral für die Säkularisierung im Allgemeinen und auch des Rechtsdenkens war die dauerhafte Schwächung des Papsttums, die bereits im frühen 14. Jahrhundert begann. Parallel zum Abstieg des Papsttums vollzog sich die Herausbildung der Territorialstaaten, die das Feudalsystem in kleinen Schritten verdrängten.8 Aus ursprünglich an die Person gebundenen Lehen wurden in einem langen Prozess zusammenhängende Herrschaftsterritorien, Vorformen moderner Territorialstaatlichkeit. Der Abstieg des Papsttums, der Aufstieg territorial organisierter Herrschaft sowie die Glaubensspaltung bewirkten einen Verweltlichungsschub des Politikverständnisses. Das Denken in den Kategorien «gut» und «böse» erhielt Konkurrenz in Form eines Denkens in Interessengegensätzen. Weiter verstärkt wurde diese Verschiebung durch den Aufstieg der Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaften und der Empirie als induktiver Methode. Die Formulierung des Souveränitätskonzepts durch Jean Bodin im späten 16. Jahrhundert markierte einen Höhepunkt dieser Neuformulierung politischer und rechtlicher Kategorien. Das Souveränitätskonzept sollte sich – nicht auf einen Schlag, sondern ebenfalls schrittweise – zu einem Angelpunkt des neuen politischen Denkens und des Völkerrechts entwickeln.

      Säkularisierungsschritte

      Die Säkularisierung von Politik und Völkerrecht, das hier in erster Linie interessiert, erfolgte in Teilschritten. Oft wird übersehen, dass das Denken in theologischen Kategorien oder zumindest die Arbeit mit theologischen Hintergrundannahmen auch nach 1648 noch der Normalfall war. Im vollen Wortsinn säkularisiertes Denken gab es bei für das Völkerrecht relevanten Autoren des 17. Jahrhunderts im Grunde nur bei Thomas Hobbes (1588–1679) und Baruch Spinoza (1632–1677). Bei beiden führte es zu einem skeptischen Blick auf das Völkerrecht. Hobbes etwa betrachtete die Durchsetzung der Norm, die Sanktioniertheit in der Realität, als entscheidendes Kriterium für Recht, weshalb er dem Völkerrecht die Rechtsqualität absprach. Das Denken der meisten Völkerrechtsautoren des 17. Jahrhunderts, von denen gleich näher die Rede sein wird, war nur teilweise säkular. Unmittelbare Bezugnahmen auf theologische Fragen und direkte Ableitungen rechtlicher Regeln von Gott spielten zwar eine weit geringere Rolle als noch im 16. Jahrhundert. Fast alle arbeiteten aber weiterhin mit der Annahme, die Welt und das Recht seien göttliche Schöpfungen.9

      Es können zwei Hauptvarianten dieser (teil-)säkularisierten Völkerrechtslehre unterschieden werden. Einige Autoren, die zu den Klassikern der frühen Völkerrechtswissenschaft gehören, sollen mit ihrem Hauptwerk kurz erwähnt werden. Verschiedene Autoren des 17. Jahrhunderts wandten sich zunächst den Usanzen des internationalen Verkehrs zu. Sie interessierten sich für die Praxis, wie man die sich konkret stellenden Probleme real löste, welche Normen man als verbindlich empfand. Diese Strömung wird in der Regel als früher völkerrechtlicher Positivismus bezeichnet. Er ist vom sozialwissenschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts zu unterscheiden, wobei der gemeinsame Nenner dieser Positivismen der Akzent auf dem eindeutig Vorfindlichen ist. Erwähnung verdient unter den Autoren dieses frühen völkerrechtlichen Positivismus etwa Richard Zouche (1590–1661), Professor in Oxford, dessen Hauptwerk den Titel «Iuris et iudicii fecialis, sive, iuris inter gentes» trägt und 1650 erschien. Ein anderer bedeutender Positivist war der Niederländer Cornelis van Bynkershoek (1673–1743), der mit dem 1702 veröffentlichten Werk «De dominio maris dissertatio» ein wichtiges Buch zur Praxis des Seerechts verfasste.

      Ein anderer Teil der Autoren setzte, vereinfacht


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