Völkerrecht. Oliver Diggelmann
Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts war auch die Zeit des Aufstiegs der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit.44 Eine eigentliche internationale Justiz mit festen Gerichten gab es damals noch nicht, die Unterwerfung unter «fremde» Institutionen erschien im Licht eines radikalisierten Souveränitätsverständnisses generell als Problem. Dennoch kam es zwischen 1872 und dem Ersten Weltkrieg zu mehreren Hundert Schiedsurteilen, bei denen die Abgrenzung zwischen politischer Vermittlung und Schiedsgerichtsbarkeit im juristisch-technischen Sinne noch nicht immer klar war. Teilweise amteten Staatspräsidenten oder ganze Regierungen als Schiedsrichter. Der Anteil der Juristen in den Schiedsgerichten stieg erst mit der Zeit allmählich an. Auffallend viele Schiedsfälle betrafen Grenzstreitigkeiten. So wurde etwa die Grenze Brasiliens vollständig von Schiedsgerichten festgelegt, was ihren zuweilen geometrischen Verlauf miterklärt. Auch politisch brisante Streitigkeiten wurden teilweise von Schiedsgerichten entschieden, was als grösster Fortschritt galt.
Hervorhebung verdient der Alabama-Schiedsfall von 1872. Er markiert im Wesentlichen den Beginn der modernen Schiedsgerichtsbarkeit. Es standen sich mit den Vereinigten Staaten und Grossbritannien zwei der damals mächtigsten Staaten gegenüber.45 Es ging um Neutralitätsfragen. Grossbritannien hatte sich im amerikanischen Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 zunächst neutral erklärt und es dann aber doch zugelassen, dass auf seinem Territorium unter anderem ein Kreuzer der konföderierten Südstaaten gebaut wurde, die CSS Alabama. Das Schiff kam im Bürgerkrieg zum Einsatz und fügte den Unionstruppen starke Verluste zu. Das in Genf tagende Schiedsgericht kam zum Schluss, Grossbritannien habe seine Sorgfaltspflichten als Neutraler verletzt. Es verlieh mit seinem Entscheid dem nur dem Grundsatz nach feststehenden Neutralitätsrecht klarere Konturen. In der Sache hatte dies Elemente von Rechtsetzung durch Spruchtätigkeit. Der relative Erfolg der Schiedsgerichtsbarkeit in der Folge beflügelte den Glauben an die rechtsförmige Streitbeilegung. An den Haager Friedenskonferenzen war ihre Stärkung deshalb ein zentrales Thema. 1900 wurde auf Grundlage des 1899 angenommenen ersten Haager Abkommens zur friedlichen Beilegung internationaler Streitfälle der «Ständige Schiedshof» mit Sitz in Den Haag eingerichtet. Der Name verspricht mehr, als er hält, dennoch war der Schritt von einiger symbolischer Bedeutung. Er bestand und besteht bis heute im Wesentlichen aus einer Verwaltungsstelle, die bei der Einsetzung von Schiedsgerichten Hilfestellung leistet. Er hat in den letzten Jahren nach langem Schattendasein gar wieder an Bedeutung gewonnen.
Weg in den Ersten Weltkrieg
Die Frage, weshalb die internationale Ordnung mit dem Ersten Weltkrieg zusammenbrach, ist ein eigener Wissenschaftszweig. Man muss mit pauschalen Aussagen vorsichtig sein, zumal der Erste Weltkrieg sich bei näherer Betrachtung als Krieg mit drei Teilkriegen im Westen und Osten sowie auf dem Balkan darstellt. Trotz aller Zusammenhänge hatten diese zum grossen Teil eigene Hintergründe und Anlässe. Was man sicher sagen kann, ist, dass beim Zusammenbruch der Wiener Ordnung 1914 politische, militärische und kulturelle Faktoren auf komplexe Weise zusammenspielten. Seit der Jahrhundertwende gab es keine nichtkolonisierten Gebiete mehr. Koloniale Ambitionen – etwa jene des spät in den «Wettlauf» um die Kolonien eingetretenen Deutschen Reiches – mussten unweigerlich zu Spannungen mit anderen europäischen Grossmächten führen. In der Logik des Gleichgewichtsdenkens war das Zusammenrücken der späteren Alliierten gegen Deutschland das Naheliegende: gemeinsamer Selbstschutz gegen einen Staat, der mit der Deutschen Einigung 1871 die Gewichte zu seinen Gunsten verschoben und spät aggressiv koloniale Ambitionen entwickelt hatte. In deutschen Augen war das Zusammenrücken eine Bedrohung, ein Umzingeln, das in der deutschen Öffentlichkeit eine Art Paranoia erzeugte.
Das Völkerrecht war Teil des Ursachenbündels, das zum Ersten Weltkrieg führte.46 Völkerrechtler tun sich schwer damit, dies zu schreiben. Die Existenz eines «ius ad bellum» schien zu implizieren, dass Kriegführung etwas Normales oder gar Natürliches darstellt. Durch eine darwinistische Brille betrachtet – Darwins Denken wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts bekanntlich in vulgarisierter Form Gemeingut – war es Ausdruck einer Art Naturgesetzlichkeit. Damit trug das Völkerrecht mit zur Gewalt bei, es wurde in gewisser Weise selbst ein Opfer seiner eigenen Ambitionslosigkeit im Bereich zwischenstaatlicher Gewaltanwendung. Das «ius ad bellum» war im 17. Jahrhundert in einem sehr spezifischen Kontext entstanden, von dem es sich vollständig abgelöst hatte. Hinzu kam, dass das Völkerrecht keinerlei persönliche Verantwortlichkeit politischer oder militärischer Entscheidungsträger kannte. Es war ein Recht zwischen Staaten. Die Entscheidungsträger mussten somit nicht damit rechnen, für Kriege persönlich zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dieses «alte» Verständnis des Völkerrechts sollte mit dem Ersten Weltkrieg teilweise und mit dem Zweiten endgültig an sein Ende kommen.47 Man darf allerdings nicht vergessen, dass der Erste Weltkrieg in seinen Dimensionen ein Ereignis jenseits jeden Erwartungshorizonts war. Deutschland hatte ihn in der festen Überzeugung begonnen, es handle sich um einen kurzen Feldzug. Am Ende wurde er zu einem vierjährigen Krieg mit 17 Millionen Toten, der das Bild militärischer Gewalt für immer und auch das Völkerrecht fundamental veränderte. Man musste die Prämissen internationaler Politik neu denken.
Seitenblick: Schweiz im 19. Jahrhundert
Aus schweizerischer Sicht verdient mit Blick auf die Zeit nach der Französischen Revolution zunächst Erwähnung, dass die Eidgenossenschaft in den Koalitionskriegen gegen Napoleon überwiegend mit den gegenrevolutionären Kräften sympathisierte. Sie stellte ihre Neutralität teilweise auch grundsätzlich infrage, Unparteilichkeit war damals kein unumstössliches Dogma. Man sah das ständische System durch die Revolution gefährdet, und es war eine Weile lang fraglich, ob man überhaupt an der Neutralität festhalten würde. Weder Napoleon noch die Alliierten respektierten sie durchgehend, was die Frage aufwarf, ob ein Bündnis nicht besser wäre. Die Eidgenossenschaft wurde teilweise selbst zum Kriegsschauplatz. Sie war eine Weile ein besetztes Land, dessen Zukunft offen und dessen Fortexistenz gefährdet war.
Am Wiener Kongress waren sich die Grossmächte Österreich und Frankreich einig, dass ein Pufferstaat zwischen ihnen Sinn ergeben würde. Der Eidgenossenschaft wurde in der Pariser Friedenscharta von 1815 dauerhafte, «immerwährende» Neutralität zugestanden.48 Völkerrechtlich war sie im Kern nun wieder ein Zusammenschluss souveräner Republiken, die einen Teil der Aussenpolitik vergemeinschaftet hatten. Diese Sichtweise ist allerdings nicht unbestritten, da es Grossmächte auch am Wiener Kongress abgelehnt hatten, mit den einzelnen Kantonen zu verhandeln. Am Wiener Kongress wollte man das «Corpus Helveticum» als Verhandlungspartner. Als erwiesen darf gelten, dass die Grossmächte grossen Anteil daran hatten, dass die stark zerstrittene Eidgenossenschaft 1815 zusammengeschweisst wurde. Es war damals wesentlich der Wille der Grossmächte, der sie, die «Willensnation», zusammenhielt.
Mit der Bundesstaatsgründung 1848 wurde die moderne Schweiz zu einem progressiven Fremdkörper in einem überwiegend monarchisch-konservativen Europa. Es waren vereinzelt auch durchaus Interventionen von Mächtigen zu befürchten, unter anderem, weil die Schweiz grosszügig politische Flüchtlinge aufnahm. Sie war vor allem ein beliebtes Zielland liberaler Deutscher wie Richard Wagner, Gottfried Semper, Carl Schurz und Theodor Mommsen. Die Monarchen standen der relativ eigenständig agierenden modernen souveränen Schweiz oft skeptisch gegenüber.
Ab den 1860er-Jahren übernahm die Schweiz eine aktive Rolle beim Aufbau «technischer» internationaler Organisationen. Bern wurde 1865 Sitz des Allgemeinen Telegraphenvereins und 1874 des Weltpostvereins sowie einiger weiterer internationaler Organisationen, die später nach Genf umzogen. In Bern fanden viele internationale Konferenzen statt, oft im alten Nationalratssaal als renommiertem Konferenzort. Erwähnt sei etwa, dass 1913 in Bern eine Weltnaturschutzkonferenz stattfand, eine Pionierleistung des Schweizer Naturforschers Paul Sarasin und des Bundesrates.49 Die Rechtsfakultät der Universität Bern schenkte dem Völkerrecht im späten 19. Jahrhundert früh besondere Aufmerksamkeit.50
Die Schweiz entwickelte sich generell zum beliebten Sitz internationaler Institutionen.51 Für den Aufstieg von Genf zum internationalen Forum spielte der Alabama-Fall von 1872 eine wichtige Rolle, da das Schiedsgericht in diesem als spektakulär geltenden Fall in Genf getagt hatte. Alt Bundesrat Jakob Stämpfli war Mitglied des Spruchkörpers gewesen, und der