Danke Lena. Patrick Reichelt
große Bühne ihrer kurzen aber umso heftigeren Karriere sportlich nicht ganz den rauschenden Ausklang mit sich gebracht hatte, den viele – natürlich auch Neuner selbst – gerne erlebt hätten. Im abschließenden Massenstart schlitterte die 25-Jährige irgendwo mit dem Feld über die Ziellinie. Als Zehnte des Tages, fernab von der norwegischen Weltmeisterin Tora Berger, die sich auf der Schlussrunde gegen ihre hartnäckigsten Verfolgerinnen Marie-Laure Brunet (Frankreich) und Kaisa Mäkäräinen (Finnland) durchgesetzt hatte. Es blieb verhaltener Applaus statt der Ovationen, die die Rekordweltmeisterin so oft hatte genießen dürfen. Und am Ende war Neuner einfach nur erleichtert, dass diese Tage auch für sie Vergangenheit waren. »Es war eine tolle WM«, betonte sie, »aber ich bin froh, dass es jetzt vorbei ist«. Die knapp zwei Wochen in Ruhpolding hatten auch an ihren Nerven kräftig gezehrt. Und das lag weniger an dem Mammutprogramm von sechs Rennen, das der Liebling der deutschen Wintersportfans unter dem Zirmberg zu absolvieren hatte. Der gewaltige WM-Trubel hatte Neuner schwer zugesetzt. Natürlich hatte der Deutsche Skiverband (DSV) einiges dafür getan, um seine Athleten vor dem schlimmsten Wirbel zu schützen. Ganz für sich im abgelegenen Landhotel Maiergschwendt durften sich Neuner und Co. auf ihre Einsätze vorbereiten. Sponsortermine, auch Fotoshootings wie das für ein großes Sportmagazin und auch die Pflichtbesuche nach Medaillengewinnen im deutschen Haus wurden auf ein erträgliches Minimum beschränkt. Und doch war Neuner letztlich am Ende ihrer Kräfte. »Bei mir ist die Luft raus«, sagte sie, »das kann sich keiner vorstellen, wie brutal der Druck ist – vor allem wenn man Magdalena Neuner heißt.«
Neuner-Festspiele unter dem Zirmberg
In der Tat waren diese größten Welttitelkämpfe der Biathlon-Geschichte vor allem Neuner-Festspiele gewesen. Kaum ein Fan, der nicht mit Neuner-Fähnchen oder -Schal ausgerüstet gewesen wäre. Kaum ein Transparent, das nicht von einer Grußbotschaft an die scheidende Ausnahme-Athletin geziert gewesen wäre. So wie bei jenem jungen Mädchen, das sich ein Plakat mit der, von Herzen verzierten Aufschrift »Magdalena grüßt Magdalena – danke für alles« auf den Rücken gepinnt hatte. Und auf der Anlage selbst brachen jedes Mal Jubelstürme los, wenn die blonde Bayerin in Erscheinung trat. Zu Beginn der großen Tage in Ruhpolding hatte sie die große Last der öffentlichen Liebe noch schlicht weggelächelt. Während sich die Konkurrenz vor den Erwartungen wegduckte, bekräftigte Neuner noch einmal die hohen Ziele, die sie über die Saison hinweg immer wieder formuliert hatte. Optimale sechs Medaillen, da hatte sie sich festgelegt, wolle sie in den sechs Wettbewerben vor eigenem Publikum holen. Selbst Chefcoach Uwe Müssiggang wollte da nur den Hut ziehen: »Ich war schon immer fasziniert, wie klar Magdalena ihre Ziele formuliert hat. Andere würden sich das vielleicht nicht trauen, weil sie denken, dann würde der Druck zu groß und der Rucksack, den sie mitschleppen, zu schwer. Für Lena war das nie ein Rucksack, der sie belastet hat, sie ist da ganz unkompliziert.«
Und das Unternehmen sechs Mal Edelmetall begann ja dann auch ganz verheißungsvoll. In der Mixed-Staffel leistete sich Magdalena Neuner zwar mit insgesamt drei Fehlern wie Startläuferin Andrea Henkel leichte Wackler am Schießstand. Doch in der tiefen, von der Märzsonne aufgeweichten Spur zeigte sie schon einmal ihre Klasse und lief als Dritte bis auf gut 18 Sekunden an das führende Quartett aus Norwegen heran. Keine überragende, aber doch eine gute Ausgangsposition für Andreas Birnbacher. Und der Lokalmatador legte einen entfesselten Auftritt auf seiner Heimanlage hin. Schockte die Konkurrenz mit makellosen Schießeinlagen und war auch auf der Strecke die Nummer eins seiner Runde. Als der Schlechinger ins Ziel zurückkam, da stand für Schlussläufer Arnd Peiffer ein unfassbares Polster von rund einer Minute auf der Uhr. Das sich allerdings als ein wenig trügerisch erweisen sollte. Denn die obligatorischen Kontrollen der Trefferbilder an der Schießanlage zeigten, dass Norwegens Altmeister Ole Einar Björndalen irrtümlich ein Fehler angelastet worden war – der erfolgreichste Biathlet der Geschichte hatte sogar eine Strafrunde absolvieren müssen. Die Jury entschied schnell, dass das Missgeschick mit einer Zeitgutschrift von knapp 30 Sekunden für die Extrameter und einen überflüssigen Nachlader auszugleichen war. Doch diese Erkenntnis war es nicht, die Peiffer und damit das deutsche Quartett aus der scheinbar sicheren Goldspur riss. Der junge Hoffnungsträger aus Clausthal-Zellerfeld hatte schlicht nicht mit der grellen Sonne gerechnet, die auf seiner Runde aus denkbar ungünstigem Winkel auf den Schießstand fiel. Im Gegensatz zu den schärfsten Rivalen hatte sich der 24-Jährige nicht mit einer Sichtblende ausgerüstet. Vor allem das Stehendschießen wurde für ihn zum kapitalen Blindflug. »Es war eigentlich reines Glück, dass ich überhaupt etwas getroffen habe«, befand er später schwer frustriert. Peiffer kam mit einer Strafrunde davon. Doch auch die war zu viel, um Norwegens Ausnahmekönner Emil Hegle Svendsen und den überraschend starken Slowenen Jakov Fak in die Schranken zu weisen.
Immerhin: Es blieb die Bronzemedaille. Was unter anderen Umständen wohl als großer Erfolg bewertet worden wäre in einem Wettbewerb, in dem mindestens zehn bis zwölf Nationen als heiße Medaillenanwärter eingestuft worden waren. Beim Pechvogel selbst wollte ausgelassene Freude über das erste Edelmetall in Ruhpolding allerdings nicht aufkommen. Dass die BILD-Zeitung dann auch noch spottete »Panne-Mann verballert Lenas erstes Gold« dürfte Peiffers Laune nicht eben besser gemacht haben. Neuner selbst sprang dem unglücklichen Teamkollegen zur Seite und nutzte die erste Pressekonferenz zu einer Breitseite gegen den Berichterstatter. »Die Leute sollen sich wirklich überlegen, was sie schreiben«, wetterte sie, »der Arnd hat einen tollen Job gemacht und Bronze gerettet. Und außerdem ist es nicht mein Gold, sondern es geht einzig und alleine um die Mannschaft.« Die scheidende Biathlon-Königin trauerte dem entgangenen Gold keineswegs nach – im Gegenteil, sie hatte mit der ersten Plakette von Ruhpolding sogar eine Lücke in ihrer Trophäensammlung geschlossen. »Es ist meine erste Bronzemedaille bei einer WM, das ist doch toll.« Sprach’s und schickte eine Mahnung an die so erwartungsvolle deutsche Öffentlichkeit hinterher. »Bei der Siegerehrung habe ich gesehen, wie ausgelassen sich die Slowenen über Silber gefreut haben«, sagte Neuner, »daran sollte sich vielleicht manch einer mal ein Beispiel nehmen.«
»… oder Du bist der Depp«
Und Magdalena Neuner wusste ja nur zu gut, dass ihre wohl größte Chance auf einen Titel bei dieser Heim-WM unmittelbar bevorstand. Von den acht Sprintrennen des Winters hatte die Wallgauerin bis dahin atemberaubende sechs gewonnen. Selten hatte eine Athletin eine einzelne Disziplin derart deutlich dominiert. In Ruhpolding allerdings schwebte nun ein kleiner Unsicherheitsfaktor über Neuners Spezialdisziplin: Das milde Wetter. Nicht wenige hatten den späten WMZeitpunkt kritisiert. Stephane Bouthiaux, Frankreichs Männertrainer und damit Coach des neuen Überfliegers Martin Fourcade, reihte sich in den Kreis der Kritiker ein. »Ich habe absolut kein Verständnis für die IBU«, wetterte der Franzose in Richtung Weltverband, »wie kann ich im März eine WM in Mitteleuropa machen. Faire Wettbewerbe sind so unmöglich.« Bouthiaux` Ahnung: Die angegriffene Spur werde sich im Verlauf eines Rennens derart verschlechtern, dass Athleten mit höherer Startnummer chancenlos sind. Wolfgang Pichler, der knorrige Ruhpoldinger, der seit Sommer die Geschicke von Russlands Frauen lenkte, hatte derweil eine ganz andere Befürchtung. Was wäre, wenn der Nachmittagsschatten unter dem Zirmberg die Temperaturen vielleicht doch wieder in den Bereich des Gefrierpunkts absinken lässt? Wären auf einer vereisenden Strecke nicht Läufer mit höherer Startnummer im Vorteil? »Du kannst hier die richtige Karte ziehen oder du bist der Depp«, befand er ziemlich lapidar.
Beim Sprint der Frauen schlossen sich die großen Verbände dann doch der französischen Ahnung an. Die Favoritinnen ließen sich allesamt im Vorderfeld eingruppieren. Am spätesten noch Magdalena Neuner, deren Nummer 29 sich allerdings als echter Vorteil erwies: Sie hatte auf der Schleife, die die Veranstalter sogar mit Brezensalz gepflegt hatten, im Blick, wie es ihren Konkurrentinnen erging. Und so wusste sie auch vom kleinen Missgeschick von Darja Domratschewa, ihrer großen Widersacherin dieser Weltcup-Saison. Die Weißrussin hatte sich am Schießstand zwar keinen Fehler erlaubt, aber sie hatte Probleme mit ihrer Waffe, die sie wertvolle Sekunden gekostet hatten. Der Schützling des deutschen Trainerfuchses Klaus Siebert war über die Saison hinweg die einzige Läuferin gewesen, die Neuner auch in der Spur in schwere Bedrängnis bringen konnte. Nach ihrem Patzer war klar: Mit zwei Mal »Null« wäre der Weg zum Weltmeistertitel frei. Und Magdalena Neuner tat, was von