Danke Lena. Patrick Reichelt

Danke Lena - Patrick Reichelt


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müssen. Und natürlich hatte die Abfuhr auch an einer so ausgemachten Frohnatur wie Neuner gezehrt. In den Minuten danach präsentierte sich die Wallgauerin, die ihren Traum vom sechsfachen Edelmetall in Ruhpolding so unsanft begraben musste (»Hört sich blöd an, aber mir ist es lieber so als Vierte«) merklich gereizt. Zwei Tage danach erklärte sie, die ausgegebenen sechs Medaillen seien doch vor allem das gewesen, was die Reporter gerne hören wollten, »ich muss mir nichts mehr beweisen«. Spätestens hier konnte man ahnen, dass die Last, das Gesicht der größten Biathlon-WM aller Zeiten zu sein – am Ende hatten atemberaubende 240.000 Menschen die elf Wettbewerbe verfolgt – eben auch an einer ausgemachten Frohnatur nicht spurlos vorbei gehen würde.

      Doch wie hatte sich dieses Einzel-Debakel auf das Team ausgewirkt? Kollektive Verunsicherung oder vielleicht doch ein Jetzt-erst-Recht-Gefühl für die so prestigeträchtige Staffel am vorletzten WM-Tag? Aus der bis dato so unglücklich geschlagenen Männer-Abteilung gab es immerhin Rückenwind. Schlussläufer Arnd Peiffer, Andreas Birnbacher & Co. hatten sich tags zuvor nur den illustren Ensembles aus Norwegen und Frankreich geschlagen geben müssen und dem Deutschen Skiverband eine viel umjubelte Bronzemedaille beschert. Und die Frauen? Wollten es nun zumindest besser machen als im Saisonverlauf, als man das Podest in drei Anläufen stets verfehlte. Die Trainer hatten sich dabei eine veränderte Taktik ausgedacht. Anders als etwa ein Jahr zuvor in Sibirien sollte Magdalena Neuner nicht als Schlussläuferin, sondern nach der soliden Tina Bachmann bereits an Position zwei starten. Die dahinter steckende Idee war leicht zu erraten: Man wollte diese Staffel aus einer Position der Stärke von vorne gestalten und die vermeintliche Wackelkandidatin Miriam Gössner als dritte Läuferin mit einem möglichst großen Polster auf die Runde schicken.

      Eine »Nähmaschine« zum Abschied

      Und die Sache ließ sich zunächst ja auch gar nicht schlecht an. Bachmann leistete sich nur einen winzigen Nachlader beim ersten Schießen und legte auf der Strecke eine bärenstarke Vorstellung hin. Praktisch zeitgleich mit der französischen Vorzeigeläuferin Marie-Laure Brunet kehrte sie ins Ziel zurück. Beste Voraussetzungen also eigentlich für Neuner. Sie übernahm zwar in der Spur erwartungsgemäß sofort das Kommando. Doch schon beim ersten Schießen zeigte sich, dass ihr die Sicherheit der ersten WM-Hälfte abhanden gekommen war. Drei Projektile rauschten am Ziel vorbei. Ausgerechnet im Liegendschießen – jener Disziplin also, in der Neuner mit einer Trefferquote von 91 Prozent in dieser Saison zu den stärksten der Szene zählte. Das verlorene Terrain auf die führenden Teams aus der Slowakei und Frankreich hatte Neuner bis zur Rückkehr in den Schießstand schon wieder herausgelaufen. Dort allerdings unterlief ihr ein folgenschwerer Fehler. Statt im gewohnten Tempo zügig in die Anlage einzufahren, schlitterte Neuner hinter der betont langsamen Anastasia Kuzmina in den Stand. Als die 25-Jährige das Gewehr schließlich anlegte, war ihr Puls bereits unter jene Regionen abgesackt, in denen sie die Schießübungen normalerweise absolviert. Die Folge ist das berüchtigte Muskelzittern, das die Biathleten »Nähmaschine« nennen. »Eigentlich hatte ich von Beginn an eine«, sagte sie. Vier Fehler waren die Folge. Neuner musste in die Strafrunde, und das war ein Handicap, das auch für eine Ausnahmeläuferin nicht wettzumachen ist. Sie lief zwar bis zur Erschöpfung, am Ende schickte sie Gössner aber doch statt mit einem dicken Polster mit knapp elf Sekunden Rückstand auf die Runde.

      Doch die 21-jährige Garmisch-Partenkirchenerin zeigte im bestmöglichen Moment, dass in ihr eben doch weit mehr steckt als eine bis dato unauffällige WM vermuten ließ. Mit zwei Nachladern beim ersten Schießen blieb sie der führenden Anais Bescond immerhin auf der Spur. Bei der Rückkehr an den Schießstand musste sie im Gegensatz zur zweimal patzenden Französin nur eine Extra-Patrone in Anspruch nehmen. Staunend verfolgten die 28.000 euphorisierten Fans im Stadion wie Gössner Schlussläuferin Andrea Henkel als Führende ins Rennen schickte. 17,5 Sekunden Vorsprung waren eine Vorgabe, die sich die Thüringerin nicht nehmen ließ. Mit all ihrer Routine räumte die 34-Jährige alle zehn Scheiben direkt ab. Die Schlussrunde wurde dank des Sicherheitsabstands zu den Verfolgern aus Frankreich und Norwegen zum großen Triumphzug. Selbst Männer-Bundestrainer Fritz Fischer ging auf der Strecke vor der vorbeigleitenden Henkel auf die Knie, die schließlich mit hoch erhobener Deutschland-Fahne das goldene Abschiedgeschenk für die scheidende Teamkollegin perfekt machte.

      Und selbst Bundestrainer Uwe Müssiggang fand es eine nette Fügung, dass ausgerechnet die Vorläuferin bei diesem Goldcoup gepatzt hatte. »Die Lena hat so viele Rennen für uns gewonnen«, sagte der Medaillenschmied des DSV, »heute haben es einmal die anderen für sie gemacht. Das ist auch ein schönes Zeichen für die Zukunft.«

      Wer hätte da schon widersprechen wollen.

      Zwischen Bergen und Buben, Glauben und Musik – Eine Kindheit im Idyll

      Im Februar 2012, kurz vor ihrer finalen Weltmeisterschaft in Ruhpolding, gab Magdalena Neuner ein langes Interview. Im Zeitgeist-Lifestyle-Magazin »Fit for fun« reflektierte sie noch einmal über ihre Karriere und sagte: »Ich wollte nie berühmt sein. Ich wollte Olympiasiegerin werden.« Freilich, das war womöglich etwas naiv gedacht. Denn natürlich bedingt das eine das andere, sportlicher Erfolg sorgt oft für Ruhm, vor allem in Boom-Sportarten wie dem Biathlon, und wenn man dann noch so aussieht und auftritt und für jedermann sympathisch rüberkommt wie Magdalena Neuner, dann erst recht.

      Wer Magdalena Neuner in den fünf Jahren ihrer Welt-Karriere beobachtete, zwischen den ersten WM-Titeln 2007 und dem Karriereende 2012, der konnte feststellen, dass es Neuner tatsächlich selten von sich aus ins Rampenlicht getrieben hat. Sie nahm die Termine für die Medien hin, sie akzeptierte, dass es Teil des Geschäfts war und dazugehörte. Sie vermittelte aber nie das Gefühl, das wirklich zu brauchen. Manchmal war sie mit mehr Begeisterung dabei, manchmal mit weniger.

      Und einmal, als sie vor einem Kamera-Objektiv stand und das Blitzlicht aufflackerte, da fing sie auch hemmungslos zu schluchzen an, weil sie in dem Moment einfach gar nicht wollte. Das war 1991 in Wallgau. Als vierjähriges Mädchen, als Model für den örtlichen Fremdenverkehrsverband.

      Für den Tourismus in Wallgau begann damals gerade eine Blütezeit. Deutschland war gerade wiedervereinigt, und Hansjörg Zahler, der Bürgermeister, kann sich noch gut an die Szenen erinnern, als die ersten Urlauber aus dem Osten angekommen waren. Wie sie von Norden auf der B11 vom Walchensee herkamen, über die Kuppe unmittelbar vor der Ortseinfahrt, und wie sich dann die ganze Schönheit der weiten Isar-Ebene Richtung Karwendel und Werdenfels vor ihnen auftat. »Zeitweise ist auf der Straße nix mehr vorwärts gegangen«, sagt Zahler. »Auf so ein Panorama waren die nicht eingestellt, die waren fix und fertig.« Für die Neuankömmlinge war es so etwas wie der Blick in das gelobte Land.

      Tränen beim ersten Foto-Termin

      Noch gewaltiger ist der Blick vom Krepelschrofen. Der Krepelschrofen ist ein kleiner Buckel gleich im Norden von Wallgau, 1160 Meter hoch, kein Hausberg, eher ein Haushügel. Da hinauf geht ein gemütlicher Wanderweg, von oben sieht man die Häuser, die Höfe, die Kirche von Wallgau. Real existierender Postkartenkitsch, wie er idyllischer nicht sein kann. Von hier aus betrachtet wirkt der Ort noch verwurzelter in das oberbayerische Erdreich als eh schon, und wer dann länger dort oben steht und nachdenkt, könnte meinen, dass es Wallgau vermutlich schon seit Anbeginn der Zeit gab, seit der Schöpfung der Welt, und dass das Dorf dem lieben Gott so gut gefiel, dass er daraufhin als passend schöne Kulisse ringsherum die Berge auftürmte, die saftig grünen Wiesen ausbreitete und einen kleinen Graben für das Rinnsal Isar aushob.

      Damals jedenfalls, nach der Öffnung der Grenzen und der Wiedervereinigung, blühte der Tourismus auf in dem kleinen Dorf, und deswegen wollte die Gemeinde auch ihren eigenen Werbeprospekt erneuern. Mit Bildern vom Ort, von den Menschen und mit Bildern von Kindern in Tracht. Dabei kamen sie auch auf die kleine Magdalena von der Familie Neuner.

      In Wallgau kannte man die Neuners, aber in Wallgau kannten sich eh alle, das tun sie auch heute noch. 1400 Einwohner, eine enge Dorfgemeinschaft, fast jeder irgendwo aktiv, ob bei der Freiwilligen Feuerwehr oder im Schützenverein, bei der Blaskapelle oder den Trachtlern, und manche auch überall. Wie heute noch lebten die Neuners


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