Rossi. Michel Turco
Räuber und Gendarm zu spielen.“
Alles fing an, als Valentino und die anderen Cliquenmitglieder einer nach dem anderen ihren 14. Geburtstag feierten. „Endlich durfte ich ganz offiziell mit einem Motorroller auf der Straße fahren und musste mir die Benelli von meinem Vater nicht mehr heimlich ausleihen“, erzählt er. Uccio, der ein paar Monate jünger ist, erbt eine Aprilia SR 50 Reggiani Replica. Valentino bekommt eine Viper in Gelb und Violett. „Die waren großartig“, erinnert sich Valentino, „und sahen aus wie MotoGP-Maschinen.“ Die Roller werden im Nu entdrosselt und bringen danach genug Leistung, damit die Jungs auf den Straßen der Umgebung an ihren Bestzeiten arbeiten können. „Zylinder, Vergaser, Getriebe, Auspuff – alles wurde umgebaut. Wir werkelten an der Aufhängung und zogen japanische IRC-Reifen auf“, erinnert sich Vale. „So kamen wir auf 100 Stundenkilometer. Entsprechend häufig blieben wir allerdings auch liegen.“ Jeder Straßenabschnitt wird zur Rennstrecke umfunktioniert, vor allem die berühmte, asphaltierte und 22 km lange Panoramica, die Gabicce Monte und Pesaro miteinander verbindet und seit je die Motorradfreaks aus der Gegend anzieht. „Damals“, so Valentino weiter, „haben sich die Mädchen nicht für uns interessiert. Sie standen mehr auf ältere und reifere Kerle. Wir hatten also nach der Schule nichts anderes zu tun, als uns Wettrennen zu liefern.“ Wenn er sich abends von seinen Kumpels in Tavullia verabschiedet, kann er die sechs Kilometer bis Montecchio, wo er mit seiner Mutter lebt, ganz allein im Kampf gegen die Uhr zurücklegen. „Es heißt, da hätte ich meine Fahrkünste erworben“, schmunzelt er. Der Chef der Carabinieri schließt Frieden mit ihm, als er 1997 seinen ersten Weltmeistertitel holt. Im selben Jahr entdeckt der Heranwachsende die Freuden des Party-, Bar- und Nachtlebens. Dabei schlägt er bisweilen über die Stränge: Mit Freunden – und im Beisein seines Vaters – feiert er seinen ersten Titel, kurz bevor er nach Indonesien aufbricht. Nachdem er das eine oder andere Glas geleert hat, baut er auf dem Heimweg einen Unfall mit einem Porsche 928, den Graziano testen sollte. Er verletzt sich am Kopf und wickelt sich, als er nach dem Sieg im indonesischen Sentul aufs Podium klettert, zum Spaß einen Verband um den Kopf. Noch einmal mit dem Schrecken davongekommen.
Während die Ordnungshüter Valentino auf dem Kieker haben, genießt er bei der Kirche und beim Dorfpfarrer Don Cesare hohes Ansehen. Der Pfarrer ist des Lobes voll für Valentino: „Er ist von Grund auf ein guter Mensch“, sagt er. „Man hört ihm gerne zu, und er hat es vor allem verstanden, bescheiden zu bleiben. Ihm ist der Ruhm nicht zu Kopf gestiegen. Der Sport ist für ihn nach wie vor so etwas wie ein Spiel. Er hat sich die Offenherzigkeit eines kleinen Jungen bewahrt und verhält sich, wie ein Vorbild es sollte. Er ist bis heute mit der Gruppe von Menschen zusammen, mit der er groß geworden ist und mit der ihn echte Freundschaft verbindet.“ Vor einigen Jahren herrschte im Dorf eine allgemeine Flaute. „Valentino hat dem Dorf wieder Leben eingehaucht“, bekräftigt der Kirchenmann. „Wirtschaftlich war das für uns ein Segen, denn der Tourismus beschränkte sich auf die Küste. Hierher verirrte sich kein Tourist.“ 2003 reiste der Pfarrer mit dem Fantross nach Deutschland. Valentino führte ihn durch die Boxen und stellte ihn allen vor. Der Fanclub hatte aus gegebenem Anlass einen Campanile aus Pappmaschee gebaut und das Glockengeläut von Tavullia aufgenommen, um es über die Lautsprecheranlage auf dem gesamten Gelände des Sachsenrings erklingen zu lassen. Valentino kam aber nur als Zweiter ins Ziel, und die ganze Inszenierung fiel aus. Für Don Cesare war dieser Ausflug unvergessliches Erlebnis. In seinem Arbeitszimmer ist seine Motorradpassion übrigens seit jeher ebenso präsent wie sein Priesteramt: Unter einem Papierstapel lugt das Magazin des Fanclubs hervor; an der Wand hängen eine Ikone des Märtyrers San Pio, dessen Reliquien in seiner Kirche aufbewahrt werden, und direkt darunter eine Zeichnung, die Rossi auf seinem Motorrad zeigt. Draußen hat ein Unbekannter in die Kirchenmauer die Abkürzung WLF geritzt, die der Held am Kragen seines Leder-Rennanzugs trägt und die für „Viva la figa“ steht – eine Huldigung an das weibliche Geschlechtsorgan. Der Pfarrer nimmt daran keinen Anstoß. Es scheint, als vertraue er Valentino blind. Für Don Cesare sind die Jahre viel zu schnell vorbeigegangen. Er erinnert sich genau, wie er in den umliegenden Dörfern die Kinder zum Bibelunterricht versammelte. Seine Stimme ist inzwischen etwas zittrig geworden, aber sein Gedächtnis ist ganz klar. Vale war für ihn schon immer ein Junge mit Hummeln im Hintern. „Ich weiß, dass er auch ein sehr guter Radfahrer war“, erzählt er. Geschickt, flink und nicht aufzuhalten – für viele trifft diese Beschreibung bis heute auf Valentino zu. Auch seine Mutter sieht das so: „Genau wie mir ist ihm Freiheit sehr wichtig“, betont sie. „Ich rufe ihn oft an, aber viele Worte machen wir nicht. Er begreift schnell. Oft hat er die Antwort schon parat, bevor ich meine Frage überhaupt gestellt habe.“ Stefania erklärt auch, warum er sich in Tavullia so wohlfühlt: „Seine Freunde stellen keine Ansprüche an ihn“, stellt sie fest. „Neue Freundschaften zu schließen findet er schwierig, denn da muss man etwas investieren und behutsam vorgehen. Dazu hat er weder Zeit noch Lust. Außerdem fühlt er sich hier geborgen. Hier ist der einzige Ort auf der Welt, wo er leben kann wie jeder andere auch.“
II.
ÜBUNG MACHT DEN MEISTER
„Ich war immer schon Motorradfahrer – selbst wenn ich auf dem Gokart saß. Schon als ich zweieinhalb Jahre alt war und noch nicht einmal Fahrrad fahren konnte, träumte ich vom Motorradfahren. 1982 kaufte mir mein Vater ein Mini-Cross-Motorrad. Er fuhr damals Autorennen, hatte seine Grand-Prix-Karriere nach einem schweren Unfall in Imola aufgeben müssen. Zu jener Zeit waren diese Kleinmotorräder das Einzige, was es im Handel gab. Meine Rennstrecke waren das Haus und der Garten. Mit diesem Mini-Cross-Motorrad fing alles an. Damals begannen meine Renn- und Wettkampfleidenschaft und mein Spaß daran, mich mit anderen zu messen.“
Anfang der 1990er-Jahre kommt in Italien das Pocket Bike groß in Mode. „Ich sah diese Maschinen und wollte sofort eine haben“, erinnert sich Valentino. „Ich bin meinem Vater so lange auf die Nerven gegangen, bis er mir ein Pocket Bike gekauft hat. Ich sehe es noch vor mir: Es war schwarz und sah aus wie die Honda Elf von Ron Haslam.“ Kaum hatte er sich zum ersten Mal auf sein neues Spielzeug gesetzt, bekam ihn niemand mehr herunter. Mit angeklebten Knieschützern raste Valentino über den Asphalt. Er war einer von vielen kleinen Jungs, die von früh bis spät Parcours unsicher machten, die bis dahin für ferngesteuerte Modellautos reserviert gewesen waren, und Supermarktparkplätze mit Strohballen in Rennplätze verwandelten. Auf das bloße Fahrvergnügen folgte bald das erste Rennen. „Das war im Sommer 1991 in Miramare“, erzählt Rossi. „Vielleicht war das sogar eines der ersten Rennen in der Geschichte des Pocket Bikes überhaupt. Ich erinnere mich noch gut an die etwas verrückte Atmosphäre und an die Beleuchtung, denn es war schon Abend. Wir fuhren wie jeden Mittwochabend in Cattolica und anschließend nach Miramare. Es waren wahnsinnig viele Zuschauer da, als ginge es um die Weltmeisterschaft. Wir waren 20 Fahrer am Start, und ich war selbst am meisten überrascht, dass ich als Erster ins Ziel fuhr. Bis dahin war ich noch nie der Schnellste gewesen.“ Im gleichen Sommer gewinnt Vale an die 15 Rennen. Er trägt bereits die Nummer 46, mit der sein Vater 1979 zu seinem ersten Grand-Prix-Sieg gefahren war, und auf dem Kopf stolz seinen Arai-Helm (einen Kevin Schwantz Replica), den er mit seinem Lieblings-Ninja-Turtle beklebt hat. Dieses Maskottchen ist bis heute sein ständiger Begleiter – als Bauchtattoo und als Motorradlackierung. Die Pocket-Bike-Begeisterung in Italien war für Valentino Rossis Karriere ein wichtiger Faktor. Das Gleiche gilt im Übrigen für Marco Melandri und Manuel Poggiali, zwei weitere italienische Weltmeister. „Als ich im Dezember 1989 zum ersten Mal auf der Strecke in Cattolica fuhr, war Melandri schon da“, erinnert sich Valentino. „Er war erst sieben und schon ein Phänomen. Das Pocket Bike hat mir enorm viel gebracht. Wir traten zu viert oder fünft gegeneinander an, stießen mit der Verkleidung aneinander und touchierten uns in jeder Kurve. Dadurch habe ich gelernt, aggressiv und kämpferisch zu fahren und an den anderen vorbeizuziehen. Das Pocket Bike war auch deswegen ein gutes Fahrtraining, weil wir häufig auf holprigem und rutschigem Untergrund fuhren. Diese Maschinen waren zwar klein, aber schwer zu bändigen.“
Schon zu dieser Zeit verblüffte Valentino alle Welt mit seiner Intelligenz, Begeisterung und Neugier. Er probierte alles aus, was es auszuprobieren gab, bekam jede Schwierigkeit in den Griff und erprobte seine Fahrkünste auf Rennstrecken, die noch niemandem in den Sinn gekommen waren. Diese Art, sich mit einer Sache