Rossi. Michel Turco
kann da nicht mithalten. Als sein Teammanager ihm anbietet, mit dem Zweitmotorrad von Ballerini zu fahren, reibt sich Valentino die Hände. Nachdem er bislang noch bei keinem Qualifikationsrennen glänzen konnte und im Rennen oft schneller ist als bei den Tests, erobert er sich jetzt die Poleposition. Es ist das erste Mal. „Leider war ich am Startgitter dermaßen aufgeregt, dass ich den Start komplett vergeigt habe. In die erste Kurve ging ich schon nur noch als Zwanzigster”, erzählt er. Ballerini und Locatelli kann er zwar nicht mehr einholen, aber einen Platz auf dem Podest erkämpft er sich trotzdem. „Seit diesem Tag“, fügt Rossi hinzu, „hat Misano für mich einen ganz besonderen Zauber.“
Loris Reggiani hatte den Sohn seines Freundes Graziano bei einigen Rennen beobachtet und erinnert sich, dass Valentino alles daransetzte, sich einen Namen zu machen: „Sein Motorrad war nicht trendy, aber davon ließ er sich nicht beirren. Er fuhr sehr aggressiv und versuchte die unmöglichsten Manöver. Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass er den anderen etwas voraus hatte. Auch wenn damals nicht absehbar war, was für eine Karriere er hinlegen würde, merkte man, dass er das Zeug dazu hatte, es ziemlich weit zu bringen.“
1994 wird Valentino zum offiziellen Cagiva-Piloten befördert. Nachdem Ballerini und Locatelli in die nächsthöhere Klasse aufgestiegen sind, hat der Junge freie Bahn. Graziano denkt trotzdem nicht daran, ihm das Leben leicht zu machen. Obwohl der Rennbetrieb in dieser Phase noch eine Freizeitbeschäftigung ist, stellt der Vater ihm ein ziemlich volles Programm zusammen. Zur Sport-Production-Saison kommt noch eine Teilnahme an der italienischen 125er-Meisterschaft auf einer Sandroni. Die Sandroni ist eine Sonderanfertigung mit einem von Guido Mancini entworfenen Rahmen und einem Rotax-Aprilia-Einzylinder. Peppino Sandroni, der aus Pesaro stammt, gewinnt einige Sponsoren, die die Saison des jungen Rossi finanzieren. „Mein Vater war der Meinung, dass ich meine Zeit verschwenden würde, wenn ich mich noch eine weitere Saison mit der Sport Production begnügte“, berichtet Vale. „Er legte Wert darauf, dass ich möglichst schnell auf ein echtes Rennmotorrad umstieg und mir nicht auf einer Straßenmaschine schlechte Angewohnheiten zulegte. Später wurde mir klar, wie recht er hatte.“ Dennoch ist das Verhältnis zwischen Graziano und seinem Sohn in dieser Zeit nicht immer einfach. Seit der Scheidung seiner Eltern lebt Valentino bei seiner Mutter. Dort hat er mehr Ruhe als in der Zeit, die er bei seinem Vater verbringt, der weniger nachgiebig ist oder es zumindest mit der Einhaltung von Zeitplänen deutlich genauer nimmt. „Ich habe oft das Gegenteil von dem gemacht, was er mir gesagt hat“, räumt Valentino heute ein. „Ein Sohn muss sich von seinem Vater emanzipieren. Das ist normal. Aber wenn seine Ratschläge gut waren, habe ich sie auch befolgt. Ich glaube, dass ich immer zwischen guten und schlechten Ratschlägen unterscheiden konnte.“ Graziano blieb das nicht verborgen: „Ich glaube, er hat mir nie wirklich zugehört. Er neigte eher dazu, das Gegenteil von dem zu tun, was ich ihm sagte. Mit Worten können Eltern ihren Kindern ohnehin nicht viel beibringen. Durch die eigene Haltung können sie ihnen mehr vermitteln. Zum Beispiel glaube ich, dass sich Valentino seine Art, das Leben so zu nehmen wie es ist und sich selbst nicht allzu wichtig zu nehmen, bei mir abgeschaut hat.“ Auch seine Trainingsmethoden hat Valentino seinem Vater zu verdanken. Bevor er die Motor Ranch gründete, verbrachte der Rennfahrer aus Tavullia viele Stunden damit, in einem stillgelegten Steinbruch mit verschiedensten Motorrädern und Autos seine Runden durch den Staub zu drehen. „Driften war immer Grazianos Leidenschaft“, erinnert sich Valentino. „Mit der ganzen Bande haben wir uns stundenlang Duelle geliefert, das Driften trainiert und geübt, wie man den Drift mit dem Gaspedal lenkt. Es war seine feste Überzeugung, dass man auf diese Weise am besten lernte, wie man seine Maschine kontrolliert. Damit war er seiner Zeit weit voraus.“
Im Rahmen der Italienmeisterschaft wurden damals nur fünf Rennen im ersten Halbjahr veranstaltet. In der Sport-Production-Klasse muss Valentino vier Regionalrennen bestreiten, bevor er an vier landesweiten Runden teilnimmt. Mit dem Wechsel zwischen den beiden ganz unterschiedlichen Motorrädern, mit denen er in dem Jahr unterwegs ist, kommt er gut zurecht. Dabei ist die Sandroni nicht gerade einfach zu fahren. Das Entscheidende für Valentino ist allerdings, dass er sich mit einem echten Rennmotorrad vertraut machen und mit erfahrenen Fahrern wie Ballerini und Locatelli, Cremonini oder Omarini messen kann. Rossi wird 14. in Monza, muss in Vallelunga einen Sturz und in Misano einen Mechanikschaden hinnehmen und bekommt Hilfestellung von Aprilia: Carlo Pernat beschließt, Sandroni einen guten Motor zu überlassen. In Mugello wird Valentino daraufhin knapp hinter dem damaligen Grand-Prix-Fahrer Gabriele Debbia Fünfter. In der Sport-Production-Meisterschaft fährt er in Misano seinen allerersten Sieg ein. Er trägt damals die Nummer 26. Beim letzten Rennen genügt ihm der dritte Platz, um sich den Titel zu sichern. Das ist zu schaffen – er ist auf dem Weg dahin, als Stefano Cruciani ihn in der letzten Runde streift und ihm den Podestplatz vor der Nase wegschnappt. Nach Beschimpfungen und Rempeleien wird Cruciani jedoch wegen unsportlichen Fahrens disqualifiziert und muss den dritten Platz Valentino überlassen, der somit Sport-Production-Meister wird. „Diese Saison gehört bis heute zu meinen schönsten Erinnerungen“, versichert er. „Das Ende war zwar turbulent, aber letztlich waren wir ja alle Freunde. Die Stimmung im Fahrerlager war fantastisch. Am Abend waren alle in Partylaune. Wir haben auf den benachbarten Parkplätzen Motorroller-Rennen veranstaltet – ohne Licht, damit uns keiner erwischt … Wir waren alle ein bisschen durchgedreht und haben uns weggeschmissen vor Lachen.“ Die Rennergebnisse und das Talent des jungen Rossi verfehlen nicht ihre Wirkung auf Aprilia-Sportdirektor Carlo Pernat. Er sieht in Valentino bereits den Nachfolger von Max Biaggi, der dem italienischen Hersteller im gleichen Jahr (1994) seinen ersten 250er-Weltmeistertitel beschert. „Ich mochte ihn sehr, weil er mich an Kevin Schwantz erinnerte“, bekennt der Genuese. Für die neue Saison stellt er Vale für die Teilnahme an der Italienmeisterschaft, aber auch an der Europameisterschaft – sozusagen das Sprungbrett zur Grand-Prix-WM – eine Aprilia RS 125 zur Verfügung.
1995 werden die meisten EM-Rennen am gleichen Ort und Tag wie die Grand-Prix-Rennen ausgetragen. Für den jungen Rossi ist das ein Glücksfall, denn so kann er Rennwochenende für Rennwochenende seine Leistung mit der seiner älteren Kollegen vergleichen. „Für mich war das wie ein Weckruf“, erinnert er sich. „Auf manchen Strecken war ich vier Sekunden langsamer als die Poleposition-Zeit des Grand Prix.“ Stundenlang läuft sich Valentino rund um die Piste die Sohlen ab und beobachtet ganz genau die Rennfahrten der Piloten, die für ihn damals noch Vorbilder oder sogar Helden sind. So entsteht auch die Freundschaft mit Haruchika Aoki, der damals auf dem Weg zu seinem ersten Weltmeistertitel ist. „Die japanischen Fahrer habe ich immer bewundert“, so Rossi. „Norick Abes Rennen in Suzuka 1994 zum Beispiel werde ich nie vergessen. Was für eine unglaubliche Attacke … Jeden Morgen vor der Schule habe ich mir immer wieder die Videokassette mit dem Grand Prix angeguckt.“ Nach Abes Unfalltod legte sich der junge Rossi zu Ehren des Japaners für eine gewisse Zeit den Spitznamen „Rossifumi“ zu. Renntechnisch gibt es in der Saison 1995 für Valentino allerdings nicht viel zu feiern. Zwar gewinnt er mit Leichtigkeit die Italienmeisterschaft, aber auf europäischer Ebene muss er allerhand einstecken. Mit seinem HRC-Kit, das seine Honda in ein echtes Geschoss verwandelt, eilt Lucio Cecchinello von Sieg zu Sieg. Mit dieser Situation will Valentino sich nicht ohne Weiteres abfinden. Entsprechend häufig muss er die „Clinica Mobile“ des Doktor Costa aufsuchen: Bei einem Duell demoliert sich Valentino ein Fingerglied, das ihn seither jeden Tag an seinen früheren Rivalen erinnert. „Lucio hatte ein gutes Motorrad, mit dem er umzugehen wusste“, räumt er ein. „Anders als ich. Ich fuhr damals oft über meine Verhältnisse. Als ich ihm in Assen auf den Fersen bleiben wollte, um ihn dann zu überholen, berührten sich unsere Maschinen, und ich wurde davongeschleudert. Es war eine der übelsten Bruchlandungen der Saison. An meinem linken kleinen Finger sind die Spuren dieses Unfalls für immer zu sehen.“
Auch Cecchinello hat das Scharmützel mit Rossi nicht vergessen. „In dem Jahr gewann ich acht von elf Rennen“, erinnert sich der heutige LCR-Honda-Teammanager. „Ich hatte mehr Erfahrung und obendrein mit der RS 125, die das Team Pileri für mich vorbereitet hatte, auch die schnellere Maschine. Davon ließ sich Valentino allerdings nicht beirren. Er war damals ein verrückter Hund und ließ nie locker. Von den Rennen, die wir gemeinsam bestritten haben, sind mir krasse Situationen im Gedächtnis geblieben. Er konnte dich an den unmöglichsten Stellen überholen – vor allem dort, wo du damit nicht rechnest. Du legst dich eng in die Innenkurve, und er überholt dich auf der Außenbahn. Wenn du weiter ausholst, zieht er innen an dir vorbei … Er war