... wenn nichts bleibt, wie es war. Rainer Bucher
sich nicht mehr abschirmen von den Orten, an denen sie ist, und dem, was sie für sie bedeuten. Diese Orte sind nicht länger nur Kontexte ihrer selbst, sondern schreiben sich in sie, die Kirche, ein, durchziehen und durchdringen sie, gestalten sie, prägen sie, ob sie will oder nicht.
Pastoraltheologisch ergeben sich aus der neuen Situation der Kirche mindestens vier zentrale Herausforderungen: erstens, wie die Kirche das Netz ihrer pastoralen Handlungsorte von einem religiösen Herrschaftsverband in eine markt- und angebotsorientierte Dienstleistungs-organisation umformatieren kann; wie sie zweitens auf dem religiösen Markt bestehen kann, ohne ihm zu verfallen; drittens, wie sie ihren eigenen Anhängern eine erneute Aufstiegsperspektive vermittelt, obwohl sie diese als Religionsgemeinschaft in Europa nie und nimmer mehr bekommen wird; und viertens und natürlich am wichtigsten, wie sie sich in all dem an der Botschaft Jesu von Gott orientieren kann.
Die Kirche hatte ihre Aufgabe unter den Bedingungen der spätantiken religionspluralen Gesellschaft ebenso zu erfüllen wie im feudalen Mittelalter, als sie ein Teil der gesellschaftlichen Macht war, sogar der entscheidende. Sie hat sie natürlich auch heute zu erfüllen, wo sie wieder (teil-)entmachtet wurde und tatsächlich auf den (religiösen) Markt gekommen ist. Das braucht sie überhaupt nicht zu bedauern. Es steht sowieso nicht in ihrer Verfügungsgewalt, in welchem Kontext sie den Gott Jesu zu verkünden hat. Sie muss sich einfach darauf einstellen. Der Markt hat außerdem viele Vorteile für die Religion, vor allem beraubt er sie der selbstverständlichen Herrschaft über die Einzelnen, und das tut ihr nur gut. Auch macht er möglich, zu kontrollieren, ob Behauptung und Inhalt, Personen und Botschaft halbwegs übereinstimmen – und auch das ist nur gut. Der Markt hat aber auch viele Nachteile: Zum Beispiel neigt er zu Unverbindlichkeit und Konsumhopping. Das ist in den wichtigen Dingen des Lebens aber selten ratsam. Und er hat eine merkwürdige Tendenz zum Niveauverlust. Vor allem aber verführt er dazu, sich um des Markterfolgs willen zu radikalisieren. Auf den globalen Märkten des Glaubens gewinnen die Anhänger von angeblich ganz besonders »rechtgläubigen«, in Wirklichkeit aber nur latent oder offen gewalttätigen Religionsvarianten an Boden. Denn die Kombination aus dem schon länger anhaltenden Säkularisierungsprozess, also der Etablierung religionsunabhängiger gesellschaftlicher Sektoren, und aktueller Globalisierung verführt Religionen dazu, »sich von der Kultur abzulösen, sich als autonom zu begreifen und sich in einem Raum neu zu konstituieren, der nicht mehr territorial und damit nicht mehr der Politik unterworfen ist«16.
Das Leben des Christen und jenes der Kirche sind keine triumphalen Siegesgeschichten, sondern ziemlich gewagte Entdeckungsgeschichten dessen, woran man zu glauben hofft. Was sie wert sind, wird sich erst herausstellen. Das Zentrum des Christentums ist der Glaube, dass sich Gott in Jesus von Nazareth in seiner Liebe für uns erniedrigt hat, dass er Mensch geworden und bis in den Tod hinabgestiegen ist, nur zu einem Zweck: um allen Menschen eine Chance auf Erlösung zu geben.17 Unsere Antwort darauf aber soll sein, den gleichen Weg zu gehen, den Weg der Nächstenliebe und der Demut, der Hoffnung und der Liebe, denn das ist der Weg zu uns und zu Gott.
Die Kirche und alle und alles in ihr haben allein einen Zweck: diese Geschichte, diese Wahrheit, diese Erfahrung zu verkünden. Sie tut es in der Geschichte der Menschheit und also unter den Bedingungen menschlicher Existenz, in der Sündhaftigkeit, die nie weicht, und in der Unvollkommenheit unserer sozialen Verhältnisse und institutionellen Strukturen.
III. Das Scheitern der Gemeindeutopie
» Um die Gesamtheit der Gläubigen zu erreichen, soll in jeder Pfarre die Zellenarbeit durchgeführt werden. Sie besteht darin, daß in planmäßiger Auswahl der Laienapostel die ganze Pfarre durchorganisiert wird. Durch diese Laienapostel ergibt sich die lebendige Verbindung zu allen Familien und Gliedern der Pfarre. Die einzelnen Laienapostel, die den Kern einer Zelle bilden, sind durch ständige Schulung und Anregung in eifriger Tätigkeit zu erhalten.«
Karl Rudolf1
1. »Gemeindetheologie«: Worum es geht
»Überschaubare Gemeinschaften mündiger Christen sollten die anonymen Pfarrstrukturen aufbrechen und an ihre Stelle treten.«2 Das war der Grundgedanke der nachkonziliaren Gemeindetheologie. »Gemeindetheologie« meint hier jenen pastoral-theologischen Transformationsdiskurs, der Mitte der 1960er Jahre praxiswirksam wurde und die Umformatierung der kirchlichen Basisstruktur hin zu jenen »überschaubaren Gemeinschaften mündiger Christen« initiierte.
»Gemeinde« war konzipiert als Nachfolgestruktur der als anonym, bindungs- und entscheidungsschwach wahrgenommenen volkskirchlichen Pfarrstruktur.3 Man kann diesen Diskurs tatsächlich Gemeindetheologie nennen, denn eines seiner charakteristischen Merkmale war die dezidiert theologische Selbstbegründung. Das unterschied ihn deutlich von dem bis dahin für Organisation und Legitimation kirchlicher Basisstrukturen primär zuständigen kirchenrechtlichen Diskurs.
Ein weiteres Merkmal dieses Diskurses und ebenfalls Konsequenz seiner Herkunft aus der Theologie war, alle kirchlichen Handlungsstrategien zumindest konzeptionell auf diesen Umbauprozess zu zentrieren. Es galt eben tatsächlich das »Prinzip Gemeinde«4, es galt die Maxime »Kirche als Gemeinde«5. Dieser Umformatierungsprozess hatte zugleich extensiven wie intensivierenden Charakter. Ferdinand Klostermann nennt als Ziel des Gemeindebildungsprozesses, »dass in (einer) Pfarrei möglichst viele Menschen eine möglichst genuine Gemeinde Jesu, des Christus, erleben können«, »dass die Pfarrei ein konkreter Ort wird, an dem möglichst vielen Pfarrangehörigen, aber auch anderen im Pfarrgebiet wohnenden Menschen die Glaubenserfahrungen Jesu weitervermittelt werden können«. Dazu sollen »möglichst viele in christliche Gruppen und Gemeinden«6 eingebunden werden. Intensivierung und extensive Erfassung gleichzeitig also waren angezielt. Das Ergebnis sollte die »menschliche, brüderliche, offene und plurale Pfarrei«7 sein.
Zentrale Bezugsgröße der Kirchenmitgliedschaft war also nicht mehr die römisch-katholische Kirche mit dem Papst an der Spitze, sondern der überschaubare Nahraum einer kommunikativ verdichteten, letztlich nach dem Modell einer schicksalhaft verbundenen Großfamilie gedachten »Gemeinde«. Soziologisch angesiedelt jenseits der Mikroebene der Primärbeziehungen, aber diesseits der Makroebene einer »anonymen« Gesellschaft, wurde die »Gemeinde« zur Hoffnungsträgerin einer sich erneuernden Kirche. Es winkte das Versprechen einer Kontrastgesellschaft gegen die zweckrationale Außenwelt, aber auch gegen die vorkonziliare römisch-katholische Welt. Aus diesen Gegensätzen bezog der gemeindetheologische Diskurs viel von seinem attraktiven Kontrastpathos.8
Diskursive Marker dieses Wechsels waren neben dem Kontrast von »Gemeinde« und »Pfarrei« Formeln wie: »Die Gemeinde ist Subjekt der Pastoral« versus die »Gläubigen als bloße Objekte der Seelsorge« oder »der reife, mündige, denkende, … freie, dabei fromme, gläubige Christ« versus den »hörende(n), blind-gehorchende(n) unkritische(n), problemlose(n), sogenannte(n) ›einfache(n)‹, schlichte(n) Christ(en)«.9
2. Genese der Gemeindetheologie
Katholischerseits kommt man erst recht spät zum Konzept der überschaubaren, kommunikativ verdichteten Gemeinde. Überschaubarkeit wird zwar für die katholische Pastoralmacht zu Beginn der Neuzeit eine immer wichtigere Zielgröße, das Konzil von Trient (1546–1563) ordnete »die Pfarrseelsorge neu, indem es ›Hirt und Herde‹ (Pfarrer und Pfarrei) in ein überschaubares Zueinander bringt.«10 Die Gemeindegröße war bis dahin offensichtlich nie thematisiert worden. »Eine bewusst gewollte Überschaubarkeit … ist für die städtische Bischofskirche der Spätantike keine Kategorie«. Bis Trient galt: »Wer intensiver, überschaubarer und personenzentriert christliche Gemeinschaft leben will, zieht sich ins Kloster zurück.«11
Es hat gedauert, bis die quasi-familiär verbundene Gemeinde zur Basis katholischen Organisationsdenkens wurde. Erst Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts setzte sich diese Variante der Gemeindetheologie endgültig durch, dann aber recht schnell. Durch die Bildung verdichteter, überschaubarer