... wenn nichts bleibt, wie es war. Rainer Bucher
Individuum und Gemeinschaft in christlicher religiöser Praxis sowie die Frage nach der notwendigen Verortung kirchlicher Pastoral in der räumlichen Fläche.
Ohne Zweifel sind die gegenwärtigen Zulassungsbedingungen zum katholischen Amtspriestertum ausgesprochen diskussionswürdig, vor allem unter Gerechtigkeits-, Qualitäts- und amtstheologischen Gesichtspunkten. Die Gemeindeproblematik dürfte aber kein geeigneter Hebel sein, um hier relevanten Veränderungsdruck aufzubauen. Das Konzept »Gemeinde« als eine kommunikativ verdichtete, überschaubare Lebens- und Glaubensgemeinschaft unter priesterlicher Leitung ist innerkatholisch viel zu jung, um als Gegengewicht gegen jene alten Traditionen anzukommen, die das Priestertum dem unverheirateten Mann reservieren.
Es wäre sicher wünschenswert und grundsätzlich, etwa einem Konzil, auch möglich, die Zulassungsbedingungen zum katholischen Weihepriestertum einer pastoraltheologischen wie einer systematisch-theologischen Evaluierung zu unterziehen. Dies wird in absehbarer Zeit aber wohl nicht geschehen, zu tief sind Ordnungen der Geschlechterdifferenz und Ordnungen des Religiösen auch in unserer Kirche amalgamiert. Die schwerwiegendste Konsequenz der gegenwärtigen Zulassungsbedingungen wird auch nicht einmal so sehr der wegen des Priestermangels notwendige Umbau der pastoralen Basisorganisation sein als vielmehr die zuerst schleichende, dann sich aber rapide beschleunigende kulturelle Entfremdung, ja Exkulturation der katholischen Kirche von einer Gesellschaft, die normativ, zunehmend aber eben auch real auf eine ganz andere Geschlechterchoreografie umgestellt hat und in der die alten Begründungsmuster für Geschlechterasymmetrien massiv an Plausibilität verloren haben.25
Die Seelsorgeämter drehen denn auch an anderen Stellschrauben, um den potentiellen Veränderungsdruck auf die Zulassungsbedingungen zu verringern: Sie holen ausländische Priester und/oder vergrößern die priesterlichen Zuständigkeitsräume. Damit steht also ein relativ neues und rechtlich wenig gesichertes Konzept – die »Gemeinde« – gegen eine (kirchen-)politische Realität, die dieses Konzept bei einiger organisationsentwicklerischer Virtuosität ganz erfolgreich umspielen kann. Politisch ist das eine ganz und gar unbefriedigende Situation: Der einklagende pastoraltheologische Diskurs steht gegen institutionelle Macht und Raffinesse. Der Diskurs gewinnt da selten. Zumal die gemeindlichen Mauern nicht nur von außen durch die Seelsorgeämter, sondern auch von innen durch die Katholikinnen und Katholiken selbst gesprengt wurden.
Die für unsere Kirche existenzentscheidende Frage, wie ein amtstheologisch, pastoral und nicht zuletzt personal verantwortbarer Entwicklungspfad des katholischen Amtspriestertums nach der Auflösung der sanktionsgestützten »Konstantinischen Formation« der Kirche ausschauen könnte, dürfte mit der Verlängerung jenes letztlich paternalistischen Amtskonzepts, wie es die Gemeindetheologie vertritt,26 nicht wirklich beantwortet sein.27
5. Individualisierung versus Vergemeinschaftung
Auch die Verknüpfung der Gemeindeproblematik mit der Frage Vergemeinschaftung versus Individualisierung dürfte nicht weiterführend sein. Das zentrale ekklesiale Problem der Pianischen Epoche war strukturell die mangelnde Freiheit und inhaltlich die Unfähigkeit, eigene Gehalte außerhalb der Kirche als solche zu identifizieren. Das zentrale Problem der kirchlichen Gegenwart, zumindest in unseren Breiten, ist strukturell die Schwierigkeit von Gemeinschaft und material die Setzung der Differenz des Eigenen innerhalb des allgemein Religiösen.
War in der Pianischen Epoche die Gemeinschaft des Kirchlichen die Selbstverständlichkeit und die Freiheit das Unselbstverständliche, so ist heute die Freiheit vom Kirchlichen die Selbstverständlichkeit und die kirchliche Gemeinschaft das Unselbstverständliche. Die Alternative lautet also nicht: religiöser Individualismus versus gemeindliche Vergemeinschaftung. Denn die Freigabe zu religiöser Selbstbestimmung auch für Katholiken und Katholikinnen ist eine soziale Tatsache, im Übrigen eine erst einmal ausgesprochen erfreuliche. Es geht vielmehr darum, wie heute noch ekklesiale Sozialität möglich ist, und dies jenseits ihrer mehr oder weniger hilflosen Einforderung durch die Propagierung quasi-selbstverständlicher Sozialformen von Kirche.
Alfred Dubach hat zutreffend bemerkt, dass es überhaupt nichts nützt, die eigenen, prekär gewordenen Vergemeinschaftungsformen dadurch retten zu wollen, dass man passenderweise eine angebliche »Sehnsucht vieler Menschen nach Gemeinschaft« als »Zeichen der Zeit«28 identifiziert. Die »strukturelle Individualisierung moderner Gesellschaften«, so Dubach, werde von den kirchlichen Autoritäten »als beängstigend und bedrohlich erfahren«. Dies lasse die Kirchenleitungen in ihrer »Sorge um die eigene Institution« dann »nicht auf eine Kultivierung moderner Freiheitsambitionen setzen«, vielmehr solle über »dichte kohäsive Sozialbeziehungen … kollektive Identität mit den Überzeugungen der Kirche erreicht werden.«29 Auch das gemeindekirchliche Konzept folgt noch deutlich diesem Muster.
Vergemeinschaftungsformen scheinen heute sehr milieuspezifisch zu sein,30 und es gilt wohl eher der Satz, mit dem ein evangelischer Sammelband zum Problem beginnt: »Feste Zugehörigkeiten sind ungewöhnlich geworden. Sie werden vermisst, wenn sie fehlen; sie stören mehr oder weniger, wenn sie gegeben sind.«31 Die Grundfrage von Kirchenbildung unter spätmodernen Bedingungen ist eben nicht, wie viel Gemeinschaft gegen den Freiheitsdrang des Einzelnen noch gerettet werden kann, sondern: »Wie stiftet Freiheit ekklesiale Sozialität?«32
Die Alternative lautet daher nicht: religiöser Individualismus gegen gemeindliche Vergemeinschaftung, so als ob es diese an jenem vorbei heute noch gäbe. Es geht vielmehr um die unter diesen Bedingungen heute möglichen Vergemeinschaftungsformen von Kirche. Dass sich dabei wie »auf vielen Feldern des gesellschaftlichen Lebens … auch hinsichtlich der religiös-kirchlichen Praxis der Menschen Prozesse der Delokalisierung und der Relokalisierung zugleich beobachten«33 lassen, ist unbestritten, immer aber finden sie unter modernen Freiheitsbedingungen statt.
Das Christentum kennt von seinen Anfängen her die Spannung von konstitutiver Gemeinschaftlichkeit und unvertretbarer Individualität vor Gott. Koinobiten und Anachoreten, der zölibatäre Priester und die Familie als ekklesiola, Paulus in seinem unvertretbaren Damaskuserlebnis und die frühe judenchristliche Jerusalemer Gemeinde oder auch der Papst, der ex sese unfehlbare ex cathedra-Entscheidungen fällen kann, aber doch nur, wenn er den Glauben der Kirche auslegt: Das Christentum ist in der Spannung von Individualität und Gemeinschaftlichkeit situiert – und nicht an einem dieser Pole.
Der unübersehbaren Ambivalenz der Gemeindetheologie wird man nur mit einer dreifachen, in sich freilich zusammenhängenden Reaktionsstrategie entkommen. Zum einen mit der Anerkennung der religiösen Freiheit des Einzelnen als Konstitutionsbedingung, ja Konstitutionsprinzip von Kirche; zudem mit der konsequenten Anerkennung aller Vergemeinschaftungsformen, der alten und der neuen, der stabilen wie der flüchtigen, der kleinen wie der massenhaften, als grundsätzlich gleichrangige Realisationsorte der pastoralen Aufgabe von Kirche;34 sowie drittens in der Umsetzung der pastoralen Wende des Konzils und also seines pastoralen Prinzips35 auch in der pastoraltheologischen Reflexion kirchlicher Sozialformen.
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