Vier Bilder von Jesus. Boris Repschinski
Papias dürfte nicht das Matthäusevangelium gemeint haben, wohl aber eine lose Sammlung von Traditionen, die schriftlich aufgezeichnet wurden.
Forscher beginnen oft mit einer grundsätzlichen Unterscheidung des Johannesevangeliums von den anderen Evangelien, die synoptische Evangelien genannt werden. Das griechische Wort „synoptisch“ trägt der Auffassung Rechnung, dass man die Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas „zusammen sehen“ muss. Sie haben so viel Material gemeinsam, dass die Vermutung naheliegt, dass sie nicht unabhängig voneinander entstanden sind. Etwa 90% des Markusevangeliums sind auch im Matthäusevangelium präsent, während das Lukasevangelium etwa 65% des markinischen Materials enthält. Neben dieser dreifachen Tradition gibt es noch eine zweifache, in der das Lukasevangelium und das Matthäusevangelium je nach Zählung etwa 220–235 Verse gemeinsamen Materials verarbeiten. Die Ähnlichkeiten gehen dabei von inhaltlichen Ähnlichkeiten bis hin zu wörtlichen Übereinstimmungen.
Abbildung 1: Die Zwei-Quellen-Theorie
Dieser Befund lässt vermuten, dass die drei synoptischen Evangelien in ihrer Entstehung voneinander abhängig sind. Wie genau diese Abhängigkeit aussieht, ist allerdings umstritten. Die Mehrheit der Forscher erklärt die Abhängigkeit mit der Zwei-Quellen-Theorie. Nach dieser Theorie benutzten Matthäus und Lukas das Markusevangelium unabhängig voneinander und bedienten sich außerdem einer Quelle, die aus wenigen Erzählungen und zumeist aus überlieferten Aussprüchen Jesu bestand. Daher wird sie oft Spruch- oder Logienquelle genannt, abgekürzt Q. Diese Quelle würde erklären, warum Matthäus und Lukas derart viel gemeinsames Material haben, das nicht durch Markus überliefert ist. Zudem geht man in der Regel davon aus, dass Q in schriftlicher Form vorgelegen haben muss. Neben den zwei Quellen benutzten Matthäus und Lukas auch Eigenmaterial, das mit M bzw. L abgekürzt wird.
Eine Rekonstruktion von Q aus den in Matthäus und Lukas erhaltenen Materialien zeigt eine Schrift, die zuvorderst ein Aufruf zur Umkehr gewesen ist. Gott als den Herrn zu erkennen heißt, Jesus nachzufolgen. Nachfolge besteht darin, dass man wie Jesus wird (Lk 6,40), der nirgendwo einen Ort hat, wo er sein Haupt hinlegen kann (Lk 9,58). Wer Jesus nachfolgen wollte, war aufgefordert, Heimat, Besitz und Familie zu verlassen, um das Evangelium zu verkünden. Aufgabe materieller und familiärer Bindungen wird als Notwendigkeit für die gesehen, die sich ganz der Herrschaft Gottes widmen wollen. Diese Haltung wird als Wanderradikalismus bezeichnet und steht im Horizont der bald erwarteten Wiederkunft Jesu, die in einigen eschatologischen Sprüchen aufgearbeitet wird. Eine Passionsgeschichte, eine Interpretation des Todes Jesu als Heilsereignis oder eine Erzählung der Auferstehung liegen in Q noch nicht vor, während das Ende der Zeit und die Wiederkunft Jesu erwartet werden. Q war wohl ein Dokument, das die Jesusgläubigen auf die einbrechende Zukunft eines endzeitlichen Gerichts mit der Wiederkehr des Menschensohnes vorbereiten sollte. Es tat dies in einer Form, die hauptsächlich Sprüche Jesu sammelte und redigierte. Erzählungen wie Heilungen oder gar der Versuch einer biographischen Verortung dieser Sprüche fehlen noch.
Unter den Q-Forschern besteht weitgehender Konsens, dass Lukas die Reihenfolge der in Q enthaltenen Sprüche enger befolgt als Matthäus. Während in Matthäus das Q-Material oft in Einzelsprüche zersplittert ist, findet es sich bei Lukas in größeren Blöcken. Daher wird Q auch in der Regel mit den Kapitel- und Verszahlen des Lukasevangeliums zitiert. Gleichzeitig geht man auch davon aus, dass Lukas das Q-Material in bessere griechische Sprache gießt, während Matthäus eher dem Wortlaut folgt.
Der genaue Umfang von Q ist schwer zu erschließen. Es ist durchaus möglich, dass Q umfangreicher war, als die Rekonstruktionen nahelegen. Wenn Lukas nur etwa 65% von Markus überliefert, dann ist es durchaus denkbar, dass er auch Q gekürzt hat. Dies würde aber bedeuten, dass Matthäus einiges Material enthält, das zu Q gehören könnte, ohne dass dies noch rekonstruierbar wäre. Dies Argument belegt zunächst einfach den hypothetischen Charakter jedweder Rekonstruktion von Q, selbst wenn die Existenz von Q als wahrscheinlich gelten darf. In diesem Buch wird jedenfalls von der grundsätzlichen Richtigkeit der Zwei-Quellen-Theorie ausgegangen. Damit erklärt sich auch, warum in der Reihung hier das Markusevangelium vor Matthäus und Lukas behandelt wird.
Abbildung 2: Möglicher inhalt von Q
Einigen Forschern scheint Q zu hypothetisch. Sie folgen entweder der Griesbach-Hypothese oder der Farrer-Hypothese. Nach Johann Jakob Griesbach (1789) wurde das Matthäusevangelium zuerst verfasst, Lukas benutzte Matthäus, und schließlich ist Markus eine Zusammenfassung beider. Während die Griesbach-Hypothese auf den ersten Blick einfacher scheint, kann sie nicht erklären, warum die sprachlich sehr viel eleganteren Evangelien von Markus in einem eher hölzernen Griechisch zusammengefasst sein sollten. Es scheint plausibler, von einer Erweiterung und Glättung des markinischen Materials auszugehen. Austin Farrer (1955) nahm an, dass Markus das erste Evangelium war, auf das Matthäus folgte. Lukas hingegen benutzte nicht nur Markus, sondern auch Matthäus.
In der neueren Forschung ist umstritten, welche Rolle mögliche schriftliche Zeugnisse schon in dieser Zeit spielten. In einer ersten Beobachtung stellt man fest, dass in den gemeinsamen Stellen der synoptischen Evangelien doch auch sehr viele kleine und große Unterschiede in Details und Formulierungen zu bemerken sind. Besonders deutlich sind solche Unterschiede in vielen Gleichnissen und Wunderheilungen.
Abbildung 3: Unterschiede in ähnlicher Erzählung
Solche Unterschiede nun könnten Hinweise darauf sein, dass die mündliche Tradition eine viel wesentlichere Rolle spielte als bisher angenommen. Diese Beobachtung erhält umso mehr Gewicht, hält man sich vor Augen, dass die Alphabetisierungsrate in der antiken Welt ausgesprochen niedrig gewesen ist. Gerade bei Rekonstruktionen von Q fallen auch sprachliche Unterschiede und Abweichungen stark auf; möglicherweise kann man sich also Q auch als mündliche Tradition vorstellen, die in verschiedenen Kontexten unterschiedlich weitergegeben wurde. Allerdings spricht hier die unterschiedliche Aufnahme des Markusevangeliums durch Matthäus und Lukas gegen den vorschnellen Schluss, Q habe lediglich in mündlicher Form existiert. Es ist aber durchaus möglich, dass es neben einer schriftlichen Form auch eine mündliche Tradition von Q gab.
c. Zeit der Abfassung der Evangelien (ab ca. 65)
In der Zeit zwischen 65 und 100 n. Chr. wurden wahrscheinlich alle vier Evangelien geschrieben. Sie entstanden als anonyme Schriften und enthalten keinerlei Angaben zu Verfassern. Kirchenväter am Ende des 2. Jahrhunderts schreiben zwei dieser Evangelien den Aposteln Matthäus und Johannes zu, die anderen beiden den apostolischen Zeugen Markus als einem Petrusschüler und Lukas als einem Paulusschüler.
Die meisten Forscher heute stimmen überein, dass mit dieser Namensgebung die apostolische Autorität der Evangelien bezeugt werden soll. Bekannte Figuren der Zeit der apostolischen Predigt werden so zu Garanten der Treue zur Tradition und der Kontinuität zum irdischen Jesus. Dabei ist durchaus denkbar, dass die Apostel tatsächlich als Traditionsträger hinter den Evangelien stehen, die dann von ihren Schülern weitergegeben werden; ausgedrückt wird eine solche Situation in Joh 21,24–25, wo auf einen Begleiter Jesu als Augenzeugen und Autor des Evangeliums hingewiesen wird, gleichzeitig aber ein weiterer Autor davon erzählt.
Den Evangelisten kam es zu, die verschiedenen Traditionen über Jesus zu bündeln und in eine Form zu gießen, die auch disparates Material miteinander verbinden kann. Die Leistung der Evangelisten wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Vertreter der historisch-kritischen Methode sehen oft den Großteil der synthetischen Leistung schon in der vor-evangelischen Zeit geleistet, während andere davon ausgehen, dass eine theologische und literarische Synthese wie die der Evangelien an einen Evangelisten gebunden ist. Sicher ist, dass allein schon die Schaffung einer neuen literarischen Gattung, des Evangeliums, eine herausragende Leistung ist.
Erstaunlich ist, dass nach der langen Zeit ohne Evangelien plötzlich innerhalb von etwa 35 Jahren gleich vier Evangelien mit einigen Ähnlichkeiten, aber auch mit markanten Unterschieden auftauchen. Dabei ist anzunehmen,