Lebendige Seelsorge 5/2019. Verlag Echter
21. Jahrhundert als für sich selbst geltend anerkennt und zur Leitperspektive ihrer Reform macht.
1931 hatte in der Enzyklika Quadragesimo anno (QA) Pius XI. mit drastischen Worten konstatiert, dass die verschiedenartigen intermediären Vergemeinschaftungen zerschlagen worden seien, „bis schließlich fast nur noch die Einzelmenschen und der Staat übrigblieben“ (QA 78). Dagegen setzte der Papst die Einsicht: „Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen; darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen“ (QA 79). Es gibt keine nachvollziehbaren Gründe, warum dies nicht auch für den Sozialkörper Kirche gelten sollte. Es spricht vielmehr vieles dafür, dass die doppelte normative Orientierung des Subsidiaritätsprinzips gerade auf dem Feld von Religion und Kirche heute eine besondere Dringlichkeit besitzt.
Die Reform muss vom Primat des neutestamentlich und frühchristlich bezeugten gemeinschaftlichen Charakters der Gemeinde ausgehen.
Unter den Bedingungen moderner Religionsfreiheit bilden auch in Sachen Religion der Einzelmensch und seine eigenen Kräfte den Angelpunkt einer geglückten Glaubens- und Lebenspraxis. Gleichzeitig gilt, dass das, was die „kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zu einem guten Ende führen können“ (QA 79), ihnen nicht entzogen werden darf.
Auf dem Feld der Religion sind die intermediären Gemeinwesen insofern unverzichtbar, als sie zwischen der religiösen Sinnwelt des Einzelnen und den objektivierten Sinnstrukturen der Kirche notwendige Vermittlungsleistungen erbringen (vgl. Berger/Luckmann, 59). Darin liegt die Bedeutung der Kirchengemeinde als intermediäre Größe. Als Handlungs- und Resonanzraum des individuellen Glaubens dürfen die Gemeinden nicht zu groß sein, sie brauchen aber auch als Institutionen der Vermittlung im Religiösen wie im Gesellschaftlichen eine gewisse Größe als Orte vielfältigen sozialen Lebens.
Die Kirche – vergleichbar dem Staat im Politischen – hat die Aufgabe, den kleineren Einheiten den Freiraum zu sichern und helfend und unterstützend die Bedingungen dafür sicherzustellen, dass sie ihre Funktion möglichst gut erfüllen können. Intermediarität und Subsidiarität gelten bis heute als ein spezifisch katholisches Erbe in der modernen Sozialtheorie. Es wäre leichtfertig, diese Ressource heute nicht in eigener Sache zu nutzen und dem kirchlichen Reformhandeln zu Grunde zu legen.
LITERATUR
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THEMA
Reform durch „Missionarische Synodalität“
Die Replik von Paul Metzlaff auf Karl Gabriel
Karl Gabriel führt in seinem Beitrag insbesondere soziologische Argumente an, um die Gemeinden als notwendige Basisstrukturen des Christlichen und als primäre Orte der heute notwendigen Reform der Kirche in der Moderne bzw. Postmoderne auszuweisen. Seine These grenzt er sowohl gegenüber einer das Subsidiaritätsprinzip schwächende Hierarchisierung, auf die in der Replik nicht eingegangen sei, als auch gegen delokalisierte kirchliche Gruppen ab. Die von ihm identifizierten drei Systeme der lokalen Basisstruktur seien durch eine Erosion des Glaubens (Verwaltung der Heilsgüter), flächenmäßige Vergrößerung der Pfarreien (Gemeinschaft) und die Funktionalisierung der Gesellschaft (Dienstleistung) in Veränderung begriffen bzw. gefährdet. „Als Konsequenz ergibt sich, dass unter vollständig funktional differenzierten gesellschaftlichen Bedingungen Religion Felder undifferenzierten sozialen Lebens benötigt, um existieren zu können“ (S. 318). Dieser Raum sei die lokale Gemeinschaftlichkeit der Gemeinde, die auch Ausgangspunkt der Erneuerung der Kirche sei.
Im Anschluss an diese These wird hier ergänzend gefragt, welcher Art diese Gemeinschaftlichkeit sei, dass sie zur Erneuerung der Kirche beitrage. Dafür wird auf den Begriff der „Synodalität“ rekurriert. Ein unmittelbar daran anschließender zweiter Schritt geht vom Ausgangspunkt der soziologischen Ausführungen und der zuzustimmenden Konsequenz aus, dass Religion der Funktionalität enthobene Räume benötige, um heute Ressourcen entfalten zu können. Neben der konkreten Lokalität, die dem Christlichen helfe, gesellschaftlicher funktionaler Reduktion zu entrinnen und dadurch frei Heilsgüter anzubieten, wird hier die Kategorie der konkreten Begegnung ausgeführt. Zielpunkt ist die Kennzeichnung einer „Missionarischen Synodalität“ als notwendige Grundlage der Reform der Kirche.
Die lokale Gemeinschaft kann als Volk Gottes am Ort bezeichnet werden, das gemeinsam in der Zeit voranschreitet und deshalb synodal (syn-hodos) ist. Jeder Weg benötigt ein klares Ziel, das wesentlich durch die Art des Weges mitbestimmt ist. In der Vorbereitung und Durchführung der letzten Weltbischofssynode zum Thema „Jugend, Glaube und Berufungsunterscheidung“ hat Papst Franziskus die geistliche Unterscheidung als Methode der Synodalität herausgestellt, die in den drei aufeinander aufbauenden Wegabschnitten „Wahrnehmen – Deuten – Wählen“ besteht. Wenn Kirche und Synode Synonyme sind, gilt es diese Art des Vorangehens auf alle Ebenen kirchlichen Lebens zu übertragen.
Die erste Etappe besteht in der wirklichen „Wahrnehmung“ des und der Anderen. Dies setzt sowohl ein Hören, das damit rechnet, dass mir im Anderen ein Impuls Gottes begegnen könnte, als auch eine Freiheit im Sprechen (Parrhesia) voraus. Entscheidend ist, dass alle, die am konkreten Ort unterwegs sind, gemeinsam auf den Geist Gottes hören und sich von ihm leiten lassen. Das unterscheidet die Kirche von einem Parlament, wie Papst Franziskus oft betont. Im zweiten Abschnitt wird das Gehörte im Licht des Glaubens unterschieden, um eine bloß öffentliche Meinung vom notwendigen Impuls des Geistes zu trennen. Erst im dritten und letzten Teil des Weges folgt „sub et cum petro“ die Wahl geeigneter neuer Wege, die alle dem Ziel der Mission dienen sollen. Wie die Jünger von Emmaus noch in der gefährlichen Nacht zurückkehren und den Anderen von ihrer Erfahrung berichten (Lk 24,35), ist Synodalität kein Selbstzweck, sondern soll ein Weg der Kirche werden, der mehr und mehr der Evangelisierung dient (vgl. Episcopalis communio,