Lebendig alt sein. Heribert Arens
„Ich bin dankbar, weil ich jetzt Zeit habe(n darf) für Erlebnisse, zu denen mir vorher die Zeit fehlte: die Natur erleben, Musik hören, Sport, Lesen …“
Da merkt jemand, dass das Alter nicht nur Türen zuschlägt, sondern Türen öffnet. Die im Beruf oft eingeengte und zwanghafte Welt wird weit. Bisher verdrängte Möglichkeiten bekommen die Chance sich zu entfalten:
Das fasziniert!
„Ich kann mein Leben entschleunigen. Dabei hilft mir auch, dass ich langsamer werde und nicht mehr alles kann, was ich früher konnte.“
Verlangsamung ist eine Begleiterscheinung des Alters. Aus dem zitierten Satz spricht ein alter Mensch, der das nicht als Eingrenzung sieht, sondern als Chance. Der Lebensrhythmus des modernen Menschen ist oft unruhig und gehetzt. Hier sieht ein Mensch sein Langsamer-Werden als Chance zur Entschleunigung – und damit auch zu einem bewussteren Leben, das den Augenblick genießen will. Weitere Aussagen gehen in eine ähnliche Richtung:
„Ich gönne mir Räume der Stille, um ganz bei mir sein zu können.“ Räume der Stille sind Geschenke, die der oft gestresste Alltag des Erwachsenen kaum noch oder viel zu selten kennt. Das entschleunigte Alter hat die Chance, zur Ruhe und zur Stille zu kommen, diese Geschenke zu genießen und auszukosten. Keiner sitzt im Nacken, höchstens der Sklaventreiber im eigenen Inneren, der sagt: „Eigentlich müsstest du!“ Befreiend!
„Ich will genießen, was das Leben mir schenkt – das muss gar nicht viel sein.“ „Ich spüre, dass ich sensibler werde für kleine Dinge, für Schönheit und Begegnung im Alltag.“
Das Leben ist gespickt mit „Blumen am Wegrand“, die ich nur zu leicht übersehe, weil ich durch das Leben jage, weil ich viel zu oft nur auf die großen Ziele starre und das Gespür für das Kleine und Nächstliegende verliere. Das Alter bietet die Chance, wacher und sensibler dafür zu werden – Einsichten und Erfahrungen, die die Jugend kaum kennt: Das fasziniert!
„Ich mache mich frei von Zwängen, etwa von dem Zwang, alles hundertprozentig machen zu müssen.“
Manche leben in Umständen, die sie zwingen, hundertprozentig zu funktionieren. Manche sind aber auch ihre eigenen Zwingherren. Sie überfordern sich. Alles muss stimmen. Und jetzt bist du alt und merkst, wie viel in deinem Leben bruchstückhaft geblieben ist trotz allen guten Willens. Der Druck hat manchen nicht selten die Luft zum Atmen genommen. Jetzt verrät die Weisheit des Alters: Es muss nicht alles vollkommen, perfekt, sein. Vieles darf Fragment sein und bleiben – und die Erde dreht sich trotzdem weiter. Das Vollenden, die Rundung des Lebens, überlasse ich getrost dem, zu dessen Wesen das Vollenden gehört: Gott. Darüber werden wir noch in einem eigenen Kapitel nachdenken.
Diese „späte“ Einsicht schenkt befreites Leben, lässt auf- und durchatmen. Das gibt Gelassenheit auch angesichts des Unvollendeten: Das fasziniert!
„Ich erinnere mich an vieles, was in meinem Leben gelungen ist. Ich kann in der Rückschau Gottes Weg mit mir entdecken und dankbar weitergehen.“
Das Alter ist Erntezeit. Momente der Erinnerung können ein „Erntedankfest“ sein. Erinnerungen müssen den Menschen nicht auf Vergangenes fixieren, auch wenn das gerade im Alter eine Versuchung ist. Manche ältere Menschen, unzufrieden mit der Gegenwart, flüchten sich gern in die guten Erfahrungen von gestern, verherrlichen sie, selbst wenn sie gar nicht so herrlich waren. Sie leben „vergangenheitsverliebt“. Mit dieser Haltung, vor allem mit dem dauernden Reden darüber, gehen sie schnell ihrer Umgebung auf die Nerven. Das tut nicht gut! Keiner hat Lust, immer nur die Geschichten und Heldentaten von gestern zu hören. Wer sich so verhält, wird sehr schnell sehr einsam!
Erinnerung will vielmehr eine Kraft für die Zukunft sein. Wenn alte Menschen auf Gelungenes und Erfreuliches zurückblicken, kann ihnen das zur Quelle des Lebensmutes und der Energie für morgen und übermorgen werden, weil sie „rückwärts blickend vorwärts schauen“5.
Solche Erinnerung ist nicht zuletzt dem glaubenden alten Menschen eine Quelle des Gottvertrauens und der Hoffnung. Denn gute Erfahrungen sind für viele die Handschrift Gottes in ihrem Leben. Dieses Geheimnis enthüllt sich erst in der Rückschau. „Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden und nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden“ (nach Kierkegaard). Sich in der Gegenwart an Vergangenes erinnern, um dem Leben und der Zukunft zu trauen, das lässt Leben auch im Alter gelingen: Das fasziniert!
„Die Lebenserfahrung hilft mir, auf vieles anders zu reagieren: nüchterner, gelassener, humorvoller.“ „Ich spüre, dass eine Reifung stattgefunden hat, die mich mehr Verständnis für andere haben lässt.“
Wer solche Sätze sprechen kann, gehört zu den liebenswürdigen Seniorinnen und Senioren. Gern werden sie auch „positive Oma“, „positiver Opa“ genannt. Sie sind offen für die Menschen um sie herum, vor allem für die nachrückenden Jüngeren. Sie leben nicht ein krampfhaftes „ich auch!“. Sie schauen mit Gelassenheit in ihre Umgebung und kennen das wohlwollende, humorgetränkte Schmunzeln: „Ich will und kann öfter über mich lachen.“ Solches Lächeln befreit mich zu mir selbst. Wer über sich selbst lachen kann, gestattet es sich, der Mensch zu sein, der sie oder er ist.
Das Alter ist eine Lebensphase, in der sich kein Mensch mehr etwas beweisen muss. Ich lebe einfach mit dem, was ich kann, aber auch mit dem, was ich nicht kann. Das bin ich – und so darf ich sein: „Ich lebe mein Leben mit den Möglichkeiten, die mir jetzt gegeben sind.“ Das lockt und fasziniert!
„ Ich tue mir selbst etwas Gutes, gönne mir etwas.“
Das ist ein wunderbares Wort. Es spricht von einer Lebenskunst, die erlernt sein will! Dazu hat Edith Hess für ihr eigenes Leben wertvolle Leitsätze wie die drei folgenden entwickelt:
– „Ich tue meinem Leib Gutes
Ich freue mich meiner Leiblichkeit trotz abnehmender Schönheit und Frische. Ich kümmere mich liebevoll um meinen Leib, trainiere, pflege und salbe ihn. Es tut mir gut, mit Tieren und Pflanzen in zärtlichem Körperkontakt zu sein …
– Ich lege die Hände in den Schoß
Ich freue mich an der Befreiung von vielen Aufgaben und nehme mir mit gutem Gewissen Zeit zum Sinnieren, Träumen und Nichtstun. Ich betrachte mein Lebenswerk und freue mich über alles, was gelungen ist. In einer lauten Welt achte ich auf leise Stimmen und Töne …
– Ich setze mich an die echten Lebensquellen
Ich schaufle mir den Zugang zu meinen inneren Kraftquellen immer wieder frei. Ich stärke mich mit der Erfahrung von Freundschaft; ich liebe und lasse mich lieben. Ich lasse mich immer wieder verzaubern von der Schönheit der Natur und des Sternenhimmels, der Musik und anderen Werken schöpferischer Menschen.“6
Das sind Chancen des an Lebensjahren alten Menschen, sich selbst Gutes zu tun, sich selbst etwas zu gönnen, das Wort des hl. Bernhard mit Leben zu füllen, das er an seinen Schüler Papst Eugen III. geschrieben hat: „Gönne dich dir selbst!“ Da macht es Freude, alt zu sein: Das fasziniert!
„Ich will am Leben teilnehmen – bis zum Schluss.“
Das sagt ein alter Mensch, der nicht an einer Blickverengung leidet. Mancher kennt, wenn die Jahre kommen, nur noch Themen wie Arztbesuche, Pillen, Krankheiten, Essen und Trinken … Mancher kennt die Wartezimmer der Ärzte besser als die eigene Küche. Da wird die Welt ganz klein, das Interessante im Leben reduziert sich auf das, was in meiner kleinen Welt geschieht. Schade, denn die Welt ist so groß!
„Ich will am Leben teilnehmen …“ – es ist beeindruckend, was der alte Mensch mit diesem Satz ausdrückt: „Ich interessiere mich für das, was über meinen Tellerrand hinausgeht.“ Es berührt mich, was in der Welt geschieht. Ich nehme an den Erfolgen meiner Kinder, Enkel und Urenkelinnen teil. Ich will mich aufregen, wenn Politiker und Politikerinnen uns betrügen, um Stimmen zu fangen. Ich will mich freuen, wenn im Frühling die Natur wieder aufblüht! Ich will nicht mehr