Herausgeforderter Glaube. Karl Hillenbrand

Herausgeforderter Glaube - Karl Hillenbrand


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vom 19. bis ins 20. Jahrhundert waren erstmals die Zeit, in der Juden in Deutschland bürgerlich gleichberechtigt waren – deshalb ist für uns gerade dieser Platz so wichtig, weil er eine Mahnung ist, dass das künftige Miteinander von Juden und Christen als Dialog auf Augenhöhe geführt werden muss.“ Diese Begründung hat mich überzeugt; heute ist das ehemalige Synagogengrundstück wieder im Besitz der jüdischen Gemeinde und zu einem würdigen Ort des Gedenkens gestaltet worden. Der „Dialog auf Augenhöhe“ ist freilich eine bleibende Aufgabe, die in jeder Generation neu angegangen werden muss. Der 2003 abgeschlossene Staatsvertrag, der Ausdruck des erklärten Willens ist, dass deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger jüdischen Glaubens ein wichtiger Bestandteil unseres Landes sein sollen, kann dabei nur die rechtliche Grundlage für alle persönlichen Bemühungen bilden, sich immer wieder neu für ein Miteinander im Begegnen und Verstehen einzusetzen. Deshalb ist es ermutigend, wenn die Grundlagen für dieses Miteinander so früh wie möglich ansetzen, sei es im Religions- und Geschichtsunterricht oder wenn Schulklassen jüdische Kulturzentren und Synagogen besuchen. Nur aus der Bereitschaft zur Begegnung können Verständnis und Wertschätzung wachsen; dies ist auch der beste Weg, gerade junge Menschen gegen neues antisemitisches Gedankengut immun zu machen. Erinnerung braucht Zukunft.

      3. Schuld und neue Perspektiven

      Eine weitere Erfahrung, wie Versöhnung die Bereitschaft zur Erinnerung braucht, ist mit meiner jetzigen Tätigkeit verbunden. Neben meiner Aufgabe als Generalvikar unseres Bistums bin ich auch Rektor der Marienkapelle, der Bürgerkirche im Herzen von Würzburg. Dieses Gotteshaus steht an einem Ort, der mit einem der schlimmsten Ereignisse der Stadtgeschichte verbunden ist4: Vor fast 660 Jahren, im April 1349, führte fanatischer Hass schon einmal zur völligen Ausrottung jüdischen Lebens. Von der Gemeinde, die nicht zuletzt wegen ihrer Gelehrten einen hervorragenden Ruf im mittelalterlichen Europa genoss, blieben nur verbrannte Häuser und die Ruine der Synagoge übrig, deren Restmauern sich heute noch unter der Kirche befinden. Genährt wurde dieser Hass weiter Teile der Bürgerschaft gegen die Juden von einem Gemisch aus Argwohn, Angst und Aggressionen: Man schob einer Minderheit in der Bevölkerung die Schuld am Ausbruch der Pest zu; indem man sich dieser Menschen gewaltsam entledigte, wurde man gleichzeitig von den finanziellen Verpflichtungen frei, die nicht wenige Einwohner Juden gegenüber hatten. So ist die damalige Judenvernichtung in Würzburg und anderen süddeutschen Städten ein schlimmes Beispiel dafür, wie sich Massenhysterie und religiöser Fanatismus mit berechnendem Kalkül verbinden können. Vom 14. Jahrhundert führt die Erinnerung fast zwangsläufig zur Deportation der Juden aus Würzburg und Mainfranken5 in den Jahren 1941–43, der auch Verhetzung und Enteignung vorausgingen. Auch diese Zwangsmaßnahmen vollzogen sich – wie schon zuvor im November 1938 die Reichspogromnacht – in der Öffentlichkeit. Es ist beschämend, dass es beim Abtransport der Juden sogar zur Verhöhnung der Misshandelten kam, als sie sich auf dem Weg zum Bahnhof befanden, von wo aus die Fahrt in die Vernichtungslager ging. Welche Form der Erinnerung an diese schlimmen Geschehnisse ist heute notwendig? Gewiss ist es wichtig, dass diese Fakten bei Stadtführungen und Gedenkfeiern benannt werden. Ich selbst betone in unserer Marienkapelle immer wieder, dass die Geschichte dieses Gotteshauses nicht als christliche Kirche, sondern als jüdische Synagoge beginnt – beides gehört untrennbar zusammen und hat für mich einen hohen Symbolwert im Blick auf die Beziehung von Christen und Juden überhaupt. Angestoßen durch das Zweite Vatikanische Konzil haben wir neu gelernt, dass zum Beispiel der ökumenische Dialog der getrennten christlichen Kirchen nur Substanz hat, wenn die Neubesinnung auf das gemeinsame Erbe aus dem Judentum erfolgt. Echte Erinnerung muss diese Einsicht verinnerlichen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Spaltung der Christenheit dauerhaft nur überwunden werden kann, wenn diese einen neuen Bezug zum Geheimnis der Sendung Israels findet, etwa im Sinn einer Einsicht des Römerbriefs, wo davon die Rede ist, dass die Kirche in den Wurzelstock Israels eingepfropft ist und aus dieser Verbindung Kraft bezieht (vgl. Röm 11,17). Ermutigt fühle ich mich in diesem Bemühen nicht zuletzt durch das Vorbild von Papst Johannes Paul II., dem die Versöhnung mit den Juden ein zentrales Anliegen war. Unvergesslich bleibt sein Schuldbekenntnis am 1. Fastensonntag des Jubiläumsjahres 2000, als er in einer der Vergebungsbitten bekannte: „Gott unser Vater. Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller, die im Laufe der Geschichte deine jüdischen Söhne und Töchter leiden ließen. Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen, dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes.“ Als der Papst diesen Text kurz darauf bei seinem Besuch im Heiligen Land zwischen die Steinquader der Klagemauer des alten Tempels in Jerusalem steckte, kam mir wieder das eingangs erwähnte Bibelwort in den Sinn: „Der Stein schreit aus der Mauer“ – doch in diesem Moment hatte ich die Hoffnung, dass aus dem Schrei des Entsetzens ein Ruf der Hoffnung werden kann. Rein menschlich ist diese Wandlung nicht zu bewerkstelligen – es braucht die Orientierung an dem einen Gott und die Bereitschaft, sich gerade im Bewusstsein der belastenden Schuldgeschichte dem Geheimnis der Erlösung zu öffnen, die mit der Erinnerung beginnt.

      Am Ende soll ein Gebet stehen, das seinerzeit den Abschluss unserer Gedenkfeier auf dem früheren Würzburger Synagogengelände bildete. Es kann vielleicht am dichtesten zusammenfassen, was uns damals wie heute an Erinnerungen bedrückt, an Gefühlen bewegt und als Hoffnung befreit.

       „Gott Abrahams und Gott Jesu, Gott des jüdischen Volkes und der Christen, hier an diesem Ort unserer Scham und Trauer rufen wir zu dir. Höre uns!

      Wir erinnern uns jener furchtbaren Stunde, da unsere Vorfahren deinen heiligen Namen geschändet und ihren eigenen entehrt haben, als sie gegen die Söhne und Töchter deines von alters her erwählten Volkes ihre Hand erhoben, ihre Synagogen niedergebrannt und Schrecken, Gewalt und Tod gegen sie verbreitet haben.

      Wenn wir innehalten und zurückschauen, wenn wir nicht einfach den Schleier des Vergessens über das Geschehene breiten, können wir mehr als erahnen, welche Schuld unsere Väter auf sich geladen und welch schlimmes Erbe sie uns hinterlassen haben. Dieses Erbe ist seither Teil unserer Geschichte.

      Die Erinnerung an jenes schlimme Geschehen lässt uns die tiefen Wunden erkennen, die unseren Brüdern und Schwestern geschlagen worden sind und die zu heilen wir uns so wenig imstande fühlen. Darum können wir nur dein Erbarmen anrufen: Verherrliche deinen großen Namen vor den Völkern und erlöse Juden und Christen von allem, was bedrückend zwischen uns steht. Lass Frieden entstehen in unserer Generation und unter den kommenden Geschlechtern. Bekehre uns, damit aus angetaner Gewalt dennoch die Kraft zum Frieden bei allen und für alle erwachse.

       Heile du uns, Herr; denn nur dann sind wir geheilt. Hilf du uns; denn nur dann ist uns geholfen. Verwandle allen Schmerz in einen heilsamen Neubeginn, führe alles Tote zu neuem Leben; denn ein wahrhaft heilender und lebensstiftender Gott bist du. Du allein bist mächtig in Ewigkeit.“

      1 W. Schultheis, Würzburger katholische Theologen und die Juden (Bad Neustadt/S. 1988) 74.

      2 S. dazu Juden und Christen in Deutschland. Verantwortete Zeitgenossenschaft in einer pluralen Gesellschaft. Erklärung des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (Bonn 2005) bes. 22–27

      3 SF. Vgl. K. Hillenbrand – R. Weigand (Hrsg.), Mit der Kirche auf dem Weg. 400 Jahre Priesterseminar Würzburg 1589–1989 (Würzburg 1989) 263–265.

      4 Vgl. dazu Kh. Müller, Die Würzburger Judengemeinde im Mittelalter (Würzburg 2004) 125–137

      5 S. dazu R. Flade, Die Würzburger Juden. Ihre Geschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Würzburg 1987) 343–368.

      Der Mauerfall – ein Geschenk mit Langzeitwirkung?

      Im November 1989 ist die Berliner Mauer gefallen. Jahrzehntelang war sie ein Symbol der Unfreiheit und Ausdruck der Abgrenzung zwischen verfeindeten Machtblöcken. Als die innerdeutsche Trennung überwunden wurde, hatte dies Folgen über unser Land hinaus: Ganz Europa hat von dieser neuen Durchlässigkeit profitiert, die schließlich auch massive Auswirkungen auf die Weltpolitik hatte. Mein Eindruck bei all dem ist, dass das Erinnern an die Vorgänge im Herbst 1989 zugleich leicht und schwer fällt: Leicht fällt es,


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