Hände weg!?. Joachim Kügler

Hände weg!? - Joachim Kügler


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zur Rechtfertigung von menschenfeindlichem Denken, Reden und Tun brauchbar wurde. Offensichtlich gibt es in den biblischen Texten selbst entsprechende Möglichkeiten, die bei bestimmten Lesern schlimme Folgen gezeitigt haben und noch zeitigen. Hierin unterscheidet sich die Bibel nicht vom Koran und von anderen Offenbarungstexten, was freilich kein echter Trost sein kann.

      Es geschieht deshalb nicht nur mit einem ironischen Augenzwinkern, wenn ich als Bibelwissenschaftler hier vom Bibellesen abrate. Der Hinweis auf die möglichen Gefahren ist ganz ernst gemeint, denn er beruht auf der bitteren Erkenntnis, dass Bibellesen nicht automatisch zum Guten führt und es in bestimmten Fällen vielleicht besser gewesen wäre, man hätte die Finger davongelassen.

      Zumindest kann man ja mal überlegen: Vielleicht hätten die Kreuzzüge nicht stattgefunden, wenn Bernhard von Clairvaux (und andere) die Hasspredigten für die Kriegszüge gegen die „Heiden“ (gemeint waren die Muslime) ohne Bibel, d.h. ohne Berufung auf göttliche Autorität, hätten halten müssen. Vielleicht hätte man das große Schlachten im „Heiligen Land“ ohne biblische Legitimation nicht so einfach durchführen können. Vielleicht hätten die Buren in Südafrika die Schwarzen nicht so lange unterdrückt, hätten sie das eigene Erwähltsein nicht aus der Bibel herauslesen können. Vielleicht wäre die Apartheid ohne biblische Legitimation nicht so gut durchzusetzen gewesen.

      Solche Überlegungen führen uns hinein in eine Dynamik, die zutiefst mit der Bibel verbunden ist und uns an die schmerzlichsten Seiten menschlicher Existenz heranführt. Wer diese dunklen Seiten nicht sehen will, der/die sollte tatsächlich lieber nicht in der Bibel lesen, jedenfalls nicht ernsthaft und nicht alles.

      Ich hoffe, es ist ein wenig klar geworden, dass Bibellesen tatsächlich nichts Harmloses und Selbstverständliches ist, sondern gut überlegt sein will. Solche vorbereitenden Überlegungen will das vorliegende Buch unterstützen. Indem ich vom Bibellesen abrate, möchte ich auf faktisch gegebene Probleme im Umgang mit der Bibel hinweisen und zugleich – mehr als schüchterne Einladung – einige Hinweise darauf geben, wie Menschen von heute es trotzdem mit diesem – im besten Sinne – eigenartigen Buch versuchen können und was dabei zu gewinnen ist. Das Abraten ist also zugleich ein Zuraten zu einer bestimmten Art des Bibellesens.

      Ich möchte mit diesem Buch werben für ein Lesen, das sich in kritischer Solidarität um die Texte bemüht, das ihre Botschaft nicht ideologisch zukleistert, sondern offen bleibt für Überraschungen. Es geht um ein Lesen, das den eigenen Vorurteilen misstraut; ein Lesen aber auch, das sich dem Text nicht blind unterwirft, sondern sich dem Text stellt. Und vor allem geht es mir um eine Haltung der Offenheit, die damit rechnet, in den Irrungen und Wirrungen des eigenen Lesens und des eigenen Lebens jener großen Überraschung zu begegnen, die man üblicherweise Gott nennt.

Die Bibel ist …

      … nichts für normale Leser/-innen!

      Wenn wir ein Buch in die Hand nehmen, das nur einen Text enthält, etwa einen Roman, dann wissen wir, dass es sinnvoll ist, mit dem Lesen am Anfang anzufangen und am Ende aufzuhören. Natürlich haben wir die Freiheit, in der Mitte anzufangen, nach einigen Kapiteln zurückzuspringen, manche Teile mehrmals zu lesen und andere gar nicht. Der Text kann sich dagegen nicht wehren, er ist uns Lesenden hilflos ausgeliefert. Aber wir gehen damit das Risiko ein, dass sich uns vieles im Text nicht erschließt, weil er so erzählt ist, dass man ihn eigentlich linear lesen sollte. Wer bei Agatha Christie die Stelle verpasst, wo Poirot den Mörder enttarnt, verpasst Entscheidendes. Umgekehrt nützt es auch nicht viel, die Enttarnung zu lesen und nicht zu wissen, wer vorher eigentlich ermordet wurde. Ein wichtiger Grund nun, warum man die Bibel nicht lesen sollte, liegt darin, dass sie im Grunde kein Buch in diesem Sinne ist.

      mehr als ein Text

      Schon der Name „Bibel“ ist eigentlich ein Plural. Das Wort kommt nämlich vom griechischen „biblia“, was „Bücher“ bedeutet. Trotzdem ist die Bibel aber auch nicht nur eine Art Buchladen, wo die einzelnen Bände beziehungslos nebeneinanderstehen. Vertreter der Kanonischen Bibelauslegung („Canonical Approach“) betonen seit einiger Zeit energisch, dass die Bibel nicht nur eine Textsammlung ist, sondern wirklich ein sinnvolles Ganzes darstellt und auch so zu lesen ist. Und das stimmt auch, aber eben nur in einem bestimmten Sinn und nur innerhalb der jeweiligen Glaubensgemeinschaft.

      Die hebräische Bibel von Juden und Jüdinnen hat z.B. weniger Bücher als das, was die christlichen Kirchen „Altes Testament“ nennen.2 Und auch die Reihenfolge der Bücher ist teilweise anders. Sogar zwischen dem Alten Testament der katholischen-orthodoxen und dem der protestantischen Tradition gibt es Unterschiede. So ist zum Beispiel das „Buch der Weisheit“ (auch „Weisheit Salomos“ oder „Sapientia Salomonis“ genannt) in der katholischen Bibel ein selbstverständlicher Bestandteil des Alten Testaments, während es in einer lutherischen oder reformierten Bibelausgabe entweder fehlt oder den „deuterokanonischen“, also zweitrangigen Schriften zugeordnet wird. Das bedeutet, dass im Grunde jede Konfessionsfamilie ihren eigenen Text hat und damit einen – wenn auch vielleicht nur geringfügig – unterschiedlichen Zugang zur Offenbarung.

      mehr als ein Erzählfaden

      Freilich, in der Regel haben wir eine bestimmte Übersetzung in der Hand, bewegen uns also innerhalb des Kanons einer Konfession (oder Konfessionsfamilie) und denken nicht groß darüber nach, dass es auch andere Formen der Bibel gibt. Auch dann sollte man sich aber darüber im Klaren sein, dass das kein Text ist, der einfach linear zu lesen ist wie ein Roman. Natürlich ist es sinnvoll, am Anfang zu beginnen, weil der Beginn der Bibel ja tatsächlich vom Uranfang handelt: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde …“ (Genesis 1,1).

      Aber die fortlaufende Lektüre wird doch spätestens dann schwierig, wenn man zu den beiden Büchern der Chronik kommt und einem die ganze Story, die man inzwischen kennt, nun – mit einigen Variationen – noch einmal erzählt wird.

      Im Neuen Testament ist es noch schlimmer: Kaum hat man das Matthäusevangelium hinter sich gebracht und getröstet zur Kenntnis genommen, dass Jesus bei uns sein wird „alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20), da fängt das Ganze im Markusevangelium nun noch einmal von vorne an: „Anfang der Freudenbotschaft von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“ (Mk 1,1). Hier keimt schon der Verdacht auf, dass der Bibeltext mit gewissen Gedächtnisschwächen der Lesenden rechnet. Hat man dann Markus durch, kommt der dritte Durchlauf: das Lukasevangelium – offensichtlich die Dosis für Alzheimer-Gefährdete! Der vierte Durchlauf (im Johannesevangelium) ist immerhin insofern interessant, als hier doch deutliche Unterschiede zu den ersten drei Versionen zu verzeichnen sind, so dass wenigstens der Neuigkeitswert nicht ganz so gering ist. Trotzdem freut man sich vielleicht, dass nicht noch ein fünftes Evangelium folgt …

      Wenn also davon die Rede ist, dass die Bibel ein Text ist, dann ist das offensichtlich anders gemeint als bei einem Roman. Das zeigt ganz einfach die Lese-Erfahrung. Ein einfaches lineares Lesen lässt sich nicht sinnvoll durchhalten. Die Bibel ist kein Text in diesem modernen Sinne, sondern eine Sammlung von Texten, die einerseits in enger Beziehung stehen, andererseits aber auch eine gewisse Eigenständigkeit aufweisen.

      eher ein Textparlament

      Die Bibel ist mehr als eine Sammlung, eher so etwas wie eine Versammlung: Die Texte verschmelzen nicht zu einem Text, aber sie stehen auch nicht isoliert. Sie beziehen sich aufeinander, sie beleuchten, erhellen, kritisieren sich gegenseitig und widersprechen sich bisweilen sogar. So sollte man diese Textversammlung eher als ein lebendiges Netzwerk ansehen, das eine Einheit im Gespräch bildet, aber nicht die eine Mitte oder den einheitlichen Erzählfaden hat.

      Der Pastoraltheologe Ottmar Fuchs hat die Bibel einmal eine „Lernschule der Pluralität“ genannt und damit den Nagel auf den Kopf getroffen.3 Er drückt mit dieser Formulierung treffend aus, dass die Bibel eine wirklich erstaunliche innere Pluralität aufweist, ohne dass die Texte beziehungslos


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