Hände weg!?. Joachim Kügler
wie Pluralität und Einheit, Beziehung und Freiheit zusammengehen.
Blickt man ein wenig in die Geschichte, so ist festzustellen, dass die christlichen Kirchen die Bibel auch immer so gelesen haben, nämlich als eine Versammlung von Texten, die eine Einheit bilden, weil sie sich aufeinander beziehen, die man aber nicht unbedingt als einen fortlaufenden Text nacheinander lesen muss. Wer also so etwas wie einen Roman lesen will, der/die sollte lieber nicht zur Bibel greifen. Wer den einen gradlinigen Erzählfaden sucht, ist bei Dan Brown vermutlich besser aufgehoben.
Das heißt aber nicht, dass es in der Bibel überhaupt keine Signale für bestimmte Leserichtungen gibt. Vielmehr gibt es durchaus Teile, die man am besten vor anderen Texten liest, und manches sollte man auch eher fortlaufend lesen.
So lohnt es sich zum Beispiel sicher, das Alte Testament zu kennen, bevor ich das Neue Testament lese, weil mir sonst die vielen Anspielungen und Verknüpfungen entgehen, mit denen die neutestamentlichen Texte auf das verweisen, was für die frühen Christinnen und Christen die Bibel war. Die früheste Kirche kam ja aus dem Judentum und sie kannte das Neue Testament noch nicht, weil die betreffenden Texte ja erst geschrieben wurden: die Briefe des Paulus, später die Evangelien, die anderen Briefe und die Johannesoffenbarung. Für die erste, apostolische Generation war die Heilige Schrift das, was wir heute Altes Testament nennen. Wenn sie also die Botschaft von Jesus als Offenbarung Gottes – und zwar des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs! – erzählen wollten, dann mussten sie die Geschichte von Jesus als Fortsetzung der Geschichte Israels mit Gott erzählen, dann mussten sie die Texte ihres Jesus-Glaubens in Beziehung setzen zu ihrer Bibel. Deshalb sind alle neutestamentlichen Texte gespickt mit Rückverweisen auf die jüdische Bibel, die die frühe Kirche übrigens nicht im hebräischen Original, sondern in einer griechischen Übersetzung („Septuaginta“) las.
Durch eine Fülle von Motiven, Zitaten und Anspielungen sind die frühchristlichen Schriften, die später (ab dem 2. Jh. n. Chr.) dann als Neues Testament gesammelt wurden, mit der jüdischen Bibel verwoben. Wer also das Alte Testament nicht kennt, wird sich mit dem Neuen Testament schwertun. Um noch einmal Agatha Christie zu bemühen: Was nützt die intelligenteste Enttarnung des Mörders, wenn ich nicht weiß, wer wann und warum umgebracht wurde? Mit den Rückverweisen der neutestamentlichen Texte auf die jüdische Bibel ist also eine grobe Leserichtung in die Texte selbst eingeschrieben: erst das Alte Testament, dann das Neue. Wer dazu keine Lust hat, der/ die muss damit leben, dass entweder vieles unverständlich bleibt oder immer wieder Zurückblättern notwendig ist, um die betreffenden alttestamentlichen Bezugstexte kennen zu lernen. Eine gute Hilfe dazu sind übrigens die Hinweise, die in den meisten Übersetzungen am Rand oder in Anmerkungen stehen.
lesen und springen
Bei dieser ganz groben Steuerung der Leserichtung (vom Alten zum Neuen Testament) bleibt es freilich nicht. Es gibt in beiden Teilen der Bibel noch feinere Strukturen der Lesesteuerung, was hier allerdings nur ganz grob angedeutet werden kann.
Im Alten Testament bilden die fünf „Bücher Mose“ (auch „Pentateuch“ genannt) das Kopfstück, mit dem man beginnen soll. Diese fünf Bücher haben im Judentum (und auch in der Sicht der urchristlichen Gemeinden) einen besonderen Status. Sie bilden als „Tora“ (göttliche Weisung/Gesetz) das Herzstück der Bibel, von dem her alles andere zu verstehen ist. Und die Samaritaner – eine israelitische Sondergruppe, die sich vermutlich nach der Zerstörung des Nordreiches Israel (722 v. Chr.) aus den überlebenden Bevölkerungsgruppen bildete – erkennen bis heute sogar nur den Pentateuch als Heilige Schrift an, während ansonsten im Judentum „die Propheten“ (dazu gehören neben den Prophetenbüchern auch die Bücher Josua, Richter usw.) und „die Schriften“ (z.B. Psalmen, Rut und Chronikbücher) als Kommentare zur Tora anerkannt sind.
Im Neuen Testament empfehlen sich die einzelnen Evangelien als Leseeinheiten. Viele kennen die Evangelien ja nur als Häppchen (auch „Perikopen“ genannt), die man aus dem Religionsunterricht oder dem Sonntagsgottesdienst kennt: die Seligpreisungen, das Gleichnis vom verlorenen Sohn, den Schatz im Acker, die Heilung des Bartimäus, den kleinen Zachäus, den Einzug in Jerusalem usw. Aber von ihrer Struktur her sind Evangelien nicht einfach Anhäufungen von einzelnen Sprüchen und Jesus-Anekdoten, sondern durchgehende Erzählungen. So unerquicklich es sein mag, alle vier Evangelien am Stück zu lesen – jedes einzelne für sich ist einer fortlaufenden Lektüre durchaus zu empfehlen, weil nur so der individuelle Charakter des Blicks auf die Jesusgeschichte und der charakteristische Spannungsbogen, den jedes Evangelium hat, zu spüren sind. Dabei steht allerdings das Lukasevangelium auch noch mit der Apostelgeschichte in enger Beziehung, die vermutlich von demselben Autor stammt und mit ihrem Anfang an das Lukasevangelium anknüpft. Um aber dieses lukanische Doppelwerk einmal am Stück zu lesen, muss man das Johannesevangelium überspringen. Solches Springen in der Bibel ist auch notwendig, wenn man den Beziehungen folgt, die zwischen dem Johannesevangelium und den drei Johannesbriefen bestehen. Da macht es keinen Sinn, brav all das zu lesen, was nach dem Johannesevangelium kommt, bevor ich dann endlich zu den Johannesbriefen komme.
Die Bibel ist von ihrer Struktur her also kein einheitlicher Text, der stur von vorne nach hinten gelesen werden soll, sondern eher etwas für Leute, die z.B. auch gerne im Internet surfen. Dort gibt es nicht nur Texte, die ich fortlaufend lesen soll, so wie sie nacheinander kommen, sondern auch Links, die einen temporär wegführen vom gerade gelesenen Text. Da öffnen sich Fenster, die Hintergrundinformationen geben oder neue Sinndimensionen eröffnen, da gibt es Links, die mich zum ursprünglichen Text zurückführen usw. Ähnlich ist es auch in der Bibel: Wenn wir aufmerksam lesen, begegnen wir einer Fülle von Vorverweisen, Rückbezügen und Querverweisen. Manches gehört eng zusammen, obwohl es weit auseinandersteht, bestimmte Teile laden zum kontinuierlichen Lesen ein, andere haben eine eher lockere Struktur. Wer so etwas als Mangel empfindet, sollte sich nicht an die Bibel wagen.
ein gewachsenes Geflecht
Das vielschichtige, dezentral organisierte Textgewebe der Bibel verlangt Leserinnen und Leser, die einerseits sensibel genug sind, auf das zu achten, was der Text an Struktur anbietet, die aber andererseits auch selbstständig genug sind, im Text zu surfen, um sich fehlende Informationen zu holen oder ihr Verständnis zu vertiefen. Diese Spannung zwischen Hingabe an den Text und eigenwilligem Manövrieren kennzeichnet vermutlich jeden Umgang mit Literatur, aber bei der Bibel ist diese Spannung auch noch in der Struktur des Textes verankert.
Um ein Gefühl dafür zu bekommen, was der biblische Kanon für ein Gebilde ist, muss man sich klarmachen, dass es weder im Frühjudentum noch in der frühen Kirche eine zentrale Autorität – wie Synode oder Papst – gab, die hätte entscheiden können, welche Texte zur Bibel zu rechnen sind. Es waren vielmehr bestimmte Gewohnheiten, die sich allmählich durchsetzten, weil sie offensichtlich eine gewisse Plausibilität hatten – zumindest für die Gruppen und Kreise, die für die Traditionspflege wichtig waren. Für das Lesen wäre es natürlich wichtig, die Leitidee zu kennen, die darüber entschied, ob ein Text akzeptiert und aufgenommen wurde oder nicht. Was die Bildung des Neuen Testaments angeht, so gab es sicher verschiedene Kriterien. Eines war die Überzeugung von der Einheit Gottes, der die Welt im Prinzip gut geschaffen hat. Deswegen wurden Texte aussortiert, die einen bösen Schöpfergott von einem guten Erlösergott unterschieden. Eine andere Leitidee war die Realität der Menschwerdung. Texte, die irgendwie nahelegten, dass eine göttliche Person in Jesus nur scheinbar oder vorübergehend als Mensch erschien, wurden abgelehnt. Daneben spielten aber sicher auch Autoritätsmomente eine Rolle. Das heißt, es wurden Texte aufgenommen, weil man sie einem bestimmten Autor zuordnete. Das bedeutet, dass es durchaus sein könnte, dass man die Pastoralbriefe nicht aufgenommen hätte, wenn man gewusst hätte, dass sie nicht wirklich von Paulus sind. Auch der (religiös ziemlich inhaltsarme) Dritte Johannesbrief dürfte seinen Platz im Neuen Testament der Tatsache verdanken, dass man seinen Verfasser mit dem vierten Evangelisten und diesen mit dem Apostel Johannes (Sohn des Zebedäus) identifizierte.
Die eigenartige, historisch gewachsene Struktur stellt für die Lesenden eine große Herausforderung dar, die einer Bergwanderung nicht unähnlich ist. Zwar hängen die Berge alle irgendwie mit den anderen zusammen, aber die Wege