Diagnose: Mingle. Martina Leibovici-Mühlberger

Diagnose: Mingle - Martina Leibovici-Mühlberger


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vergiftet unser Herz immer mehr, lässt es klamm, steif und auch hart werden. Das Fühlen-Können und damit unsere Liebesfähigkeit sind in dieser Gesellschaft im Absterben begriffen, mit allen schrecklichen Konsequenzen und Facetten von Unabhängigkeitswahn bis Bindungsflucht. Denn was ist das für eine Gesellschaft, in der nicht mehr Herz und Hirn die Wirklichkeit bestimmen, sondern nur mehr der nüchternen Ratio mit ihrer Maximierungswut der rote Teppich kluger Gültigkeit ausgerollt wird? Unsere Welt, die Welt der reichen Technologiegesellschaften, mit ihren ausgefeilten Sicherheits- und Kontrollsystemen, in der nicht einmal der privateste Raum unausgeleuchtet bleibt, ist kalt geworden. Gefühlt wird anderswo. In Holly- und Bollywood oder in den gierig verschlungenen TV-Serien. Wir lassen fühlen und bleiben, sehnsuchtsvoll oder resigniert, im Zuschauersessel. Für jene, die Unverbindlichkeit in der Beziehung zelebrieren, gibt es das Wort »Mingles«, von »mixed Singles«. Mingles gibt es in allen Generationen. Während der Begriff ein Modewort ist, der die jüngeren Generationen zu charakterisieren scheint, ist die Unverbindlichkeit in den Beziehungen altersunabhängig geworden. Selber zu fühlen, sich auszusetzen, sich einzulassen auf sein Herz, mutet immer mehr Menschen als zu gefährlich und risikoreich an. Die »Fühltaubheit«, wie ich diese Erkrankung nenne, geboren aus einem Zusammenwirken der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 20 Jahre und einer nahezu jedem von uns inhärenten, primären narzisstischen Traumatisierung, breitet sich wie ein Flächenbrand als neues Betriebssystem eines neuen und sehr mutlos wirkenden menschlichen »Miteinanders« aus. Doch damit stirbt die Liebe und mit ihr die Lebendigkeit, denn Liebe und die ihr innewohnende Bindungskraft hält buchstäblich alles zusammen und am Leben.

      Eine Bilanz der Reduktion auf das Materielle ist ernüchternd. Selbst die Masse unserer eigenen physischen Existenz, jene unseres Kohlenwasserstoff-Organismus, passt in sich zusammenfallend auf eine Stecknadelspitze. Was uns zusammenhält und Form gibt, sind alleine die Bindungskräfte zwischen den Atomen, die den vielen leeren Raum mit Sinn zu füllen vermögen. Es ist also die Bindungskraft, die »Liebe« zwischen den Atomen, die unsichtbar und dennoch äußerst kraftvoll wirkt. Erst dieses »Nichts« verleiht uns Fülle, lässt uns zu dieser Gestalt werden, die wir unseren Körper nennen. Und erst unsere Fähigkeit zu fühlen und zu lieben und dabei durchaus auch durch Schmerz und Irrtum zu gehen, macht uns zum Menschen. Die Fühltaubheit entmenscht uns, sie tötet unsere Lebendigkeit sukzessive ab und reduziert uns damit auf das kleine, kalte Massepaket, das auf die Nadelspitze passt.

      In dieser grauen, ängstlichen, von Kälte geprägten Welt, in der ich Gefühle nur auf einem Flachbildschirm betrachten oder aus zweiter Hand in einer mit maximalen Reizen versehenen Eventkultur konsumiere, will ich nicht leben. Mir graut vor dem Mingle-Dasein. Ich will bereit sein, dann, wenn das Leben mich unvermutet und außer meiner Kontrolle ruft, mein eigenes Herz wild in meiner Brust schlagen zu fühlen. Ich will das Zittern meiner eigenen Knie wahrnehmen, wenn es die Situation erfordert, will den Mut finden, das, was ich fühle zu bekennen, und will auch den mir auf diesem Weg gegebenen Schmerz ohne Wehleidigkeit ertragen und als den Boten eines für mich notwendigen Lernschritts erkennen lernen. Ich will diesen Weg des fühlenden, vom Lebensstrom und nicht am Designerschreibtisch eines Programmierers geschriebenen Lebens, diesen Weg einer neuen, freien, aus der eigenen Person begründeten Liebe, die der Lebendigkeit verpflichtet ist. Ich will ihn für mich und meine Kinder, für ihre und unser aller Zukunft. Und ich wünsche mir, dass viele den Mut finden, ihn mitzugehen. Denn dieser Text soll eine Liebeserklärung an die Lebendigkeit sein.

      Warum wir nicht mehr fühlen können – Ein böser Verdacht

      Eigentlich nahmen alle Überlegungen für mich damit ihren Anfang, dass ich begann, mit dem ICD-10 auf Kriegsfuß zu stehen. Der ICD-10 ist, entgegen seinem Namen, kein Schnellzug, sondern das Diagnosemanual für uns Mediziner. Eine Art Bibel, mit der wir die Erkrankungen jedes Fachbereichs, also auch psychische, in einen vierstelligen Nummerncode pressen können. Eine tolle Sache in einer Gesellschaft, der Einrasterung und Klassifizierung sakrosankt ist. Eine Leitlinie, die Objektivität und Realität abzubilden vermag, die eine Krankheitswertigkeit festlegt und somit Orientierung zwischen krank und gesund anzubieten vermag. Damit tritt sich dann auch eine ganze Lawine von handlungsanweisenden Leitlinien für die Behandlung los, und alle sind glücklich. Die behandelnden Ärzte und Therapeuten, die wissen, was sie nun lege artis zu tun haben, und auch die Patienten, die endlich ein fassbares Etikett für ihre Probleme bekommen. In früheren Jahren meiner Tätigkeit hatte ich das befriedigende Gefühl, punktgenau ins Schwarze zu treffen, wenn ich zum Beispiel das F 34.0 nach Zusammenschau und Abwägung aller Anamnesedetails eines Patienten auf den Diagnosebogen malte. In den letzten Jahren überwog mehr das Gefühl, gerade einmal die Zielscheibe getroffen zu haben.

      Immer mehr befiel mich der Eindruck, dass bei vielen Patienten ein wesentlicher, ja fundamentaler Aspekt ihres Leidens in der gängigen Diagnostik keine Abbildung findet. Bei vielen meiner Patienten war eine eindeutige Verflachung ihres Gefühlsspektrums, eine deutliche Abnahme der Intensität der Gefühlsqualität, die zwischenmenschliche Prozesse auszulösen vermochten, ja sogar eine Art Fühltaubheit zu bemerken. Diese Schwäche des Gefühls bezog sich eindeutig auf den Bereich der Bindungsprozesse zu anderen Menschen, im Speziellen auf das, was man im allgemeinen Sprachgebrauch als Liebesbeziehungen bezeichnet. Es schien mir, als würde es zu einem zunehmenden Abzug von Bindungsenergie und Bindungsqualität gegenüber anderen Menschen kommen. Stattdessen konnte ich eine Verlagerung der emotionalen Besetzung auf andere, stark »selbstzentrierte« Bereiche und Objekte bemerken. So sehr, dass andere Menschen zu »Selbstobjekten« instrumentalisiert wurden. Gleichzeitig schien diese Strategie von wenig Erfolg im Sinne einer beglückenden Konzeption des persönlichen Lebens gekrönt zu sein. In vielfacher Weise war sie mitverursachend für jene Leiden, die mir die Patienten in der Sprechstunde zur Therapie anboten. Immer häufiger befiel mich das Gefühl, dass hier etwas grundsätzlich und allgemein faul sein müsse, wenn immer mehr Menschen keine Bindungsbesetzung für andere Menschen aufzubringen vermochten und sich, bewusst oder unbewusst, der ständig wachsenden Schar der Mingles anschlossen. Immer mehr bekam ich den Eindruck, hier zwar noch vor einer Nebelwand zu stehen. Aber ich spürte die Gewissheit, dass sich hinter diesem zunehmenden Phänomen weit mehr als das erklärbare persönliche Lebensdisaster von ein paar Individuen verbarg. Die Fühltaubheit oder pragmatische Beziehungsführung schien mir zu etwas wie einem gesellschaftlichen Grundphänomen geworden zu sein. Die Entsorgung der Liebe und damit all dessen, was uns erst Tiefe und Fülle, ja Sinn für jene kurze Zeit zu verleihen vermag, in der wir als flüchtige und verletzbare Kohlenwasserstoffverbindung diesen Planeten bevölkern.

      Wurde hier, in dieser Besetzungsverschiebung, die letztendlich das höchste Liebesobjekt immer wieder nur in sich selbst erblickt, die Entkulturalisierung unserer Menschlichkeit eingeläutet? Zahlreiche Fälle aus meiner Praxis gaben dazu beredtes Zeugnis ab. Auch von den damit verbundenen, jedoch in ihrem Zusammenhang oft nicht erkannten Konsequenzen.

      Ralf sucht mich zum Beispiel wegen hartnäckiger Schlafstörungen auf. Diese quälen ihn nun schon seit Jahren, allerdings hat das Ganze die Tendenz, immer bedrängender und häufiger zu werden und geht mit einem sich ewig wiederholenden Albtraum einher. Dabei steht mit Ralfs Leben eigentlich alles zum Besten. Er ist einer, der es wirklich geschafft hat, wie man so sagt. Als junger Doktor der Technik hat er vor knapp 30 Jahren eine kleine, aber bemerkenswerte Neuerung in einem Spezialzweig industrieller Fertigung geschaffen und mit dem damit verbundenen Patent Millionen gemacht. Als einer, der gerade von der besseren in die schlechtere Hälfte des Jahrzehnts zwischen 50 und 60 gewechselt hat, könnte er sich behaglich zurücklehnen und sein Leben in vollen Zügen und mit beträchtlichem Wohlstand genießen. Ist ihm das Wetter in Wien zu trüb, so fliegt er für eine Woche zum Golfen nach Thailand oder in sein Haus nach Fort Lauderdale. Doch leider fliegen seine Schlafstörungen und der mit ihnen verbundene Albtraum immer mit, egal an welchem Jet-Set-Point des Globus er sich befindet. Jetzt ist er bereit, tiefer zu graben. In seinem Albtraum fährt er auf einem Motorrad auf einer langen, sonnenbeschienenen Straße. Plötzlich beginnt sich das Wetter zu ändern, und die Straße, die zuerst perfekt glatte Asphaltierung zeigt, bricht an immer mehr Stellen auf, so als würde im Untergrund ein großes Tier wüten. Ralf vermag unvermutet auftauchenden Schlaglöchern und Querrillen nur mit großer Mühe und in letzter Sekunde auszuweichen. Gleichzeitig beschleunigt das Motorrad ganz von alleine. Auftauchender Nebel behindert die


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