Diagnose: Mingle. Martina Leibovici-Mühlberger

Diagnose: Mingle - Martina Leibovici-Mühlberger


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cholerischer Forstrat, die Mutter eine verhärmte, depressive Hausfrau, wie Mark es beschreibt. Das ist ein feines Arrangement, zumindest aus seinem Blickwinkel, denn die Einliegerwohnung mit ihrem separaten Eingang bietet ihm genügend Privatsphäre, und gleichzeitig sind alle Infrastruktur- und Versorgungsthematiken über die Eltern mitabgehandelt. Er spart enorm Kosten und Energie, weil er sich um Gemeindeabgaben, Strom und Heizung nicht kümmern muss und die Wäsche von Mutters Zauberhand versorgt wird. Rebecca ist Marks Dauerfreundin, seit sechs Jahren, etwas Fixes würde man sagen. Es ist nett mit ihr, angenehm, so beschreibt er die bisherige Beziehung, doch im letzten Jahr hat sich nach Marks Einschätzung ein problematischer Unterton eingeschlichen, der die Leichtigkeit bedroht. Rebecca drängt ihn. Sie will mehr. Die netten Abende in ihrer Wohnung oder bei ihm, die gemeinsamen Urlaube, die Partys und zusammen absolvierten Kino- oder Veranstaltungsbesuche sind ihr zu wenig. Und das, obwohl er sich doch eindeutig dazu bekennt, mit ihr zusammen zu sein. Sie will eine richtige Beziehung, wie sie es nennt, und Mark entwickelt spürbar zunehmende Fluchttendenzen vor der geforderten Verbindlichkeit. Gemeinsam etwas aufbauen ist nicht sein Ding. Das klingt nach Mühe, täglicher Abstimmungsnotwendigkeit und eindeutiger Festlegung auf einen Menschen. Im schlimmsten Fall sogar nach einem gemeinsamen Kind. Wie soll ich wissen, ob ich das morgen noch will, kontert Mark und verschanzt sich hinter der pseudophilosophischen Worthülse, dass das Leben ein Fluss sei, dessen Lauf man sich eben frei anzupassen hätte. In Marks Fall muss man allerdings konstatieren: ohne das Risiko eingehen zu wollen, sich nass zu machen.

      Birgit und Phillip scheinen da eindeutig weiter zu sein, denn unter Birgits braunem Schlauchrock wölbt sich bereits eine ansehnliche Schwangerschaft, die irgendwo zwischen dem fünften und sechsten Monat angesiedelt sein muss. Schließlich demonstrieren sie auch damit Ernsthaftigkeit, dass sie zur Auseinandersetzung und Beratung gemeinsam in meinem Sprechzimmer sitzen. Bei Phillip sind die Segel auf Familiengründung gesetzt. Der 32-Jährige, hoch aufgeschossene junge Mann mit einer Figur wie ein Cornetto, hat sich bereits sehr erfolgreich seine Sporen bei einem internationalen Personalentwickler verdient und möchte nun den Hafen Familie anlaufen. Aus Birgits Blickwinkel sieht die Sache jedoch gänzlich anders aus. Für Sie, gerade 30 geworden, passt der Zeitpunkt, um ein Kind, nämlich IHR Kind zu bekommen. Doch sich Phillip »ausliefern«, wie sie es nennt, möchte sie nicht. Sie hat ein klares Konzept vor Augen, wie sie ihre Mutterschaft als autonome und auch wirtschaftlich unabhängige Frau leben möchte, was sie ihrem Kind alles geben möchte. Mit Hinweis auf die »beschissene Ehe« und den jahrelangen nachfolgenden Rosenkrieg ihrer Eltern, von dem nahezu ihre gesamte Kindheit überschattet war, vertritt sie ihr Recht, dieses Risiko mit Mark gemeinsam nicht eingehen zu wollen. Pragmatische Verhältnisse sind ihr lieber. Klare Grenzen, klare Aufgabenverteilungen, kein Zusammenwohnen. Natürlich soll ihr Sohn, das Geschlecht ist schon per Ultraschall festgestellt worden, eine gute und intensive Beziehung zu seinem Vater aufbauen. Phillip soll sich also nicht nur als »Zahlvater« einbringen, aber bitte mit seperatem Lebensterrain. Wie es zwischen ihr und Phillip als Paar weitergehen soll? Das sieht sie gelassen. Mit dem zukünftigen Kind fühlt sich Birgit nun emotional vollkommen auf der sicheren Seite des Lebens angekommen. Denn ihren Sohn wird sie absolut und hingebungsvoll lieben, das spürt sie schon jetzt. »Das ist eine ganz andere, viel sicherere Ebene«, argumentiert sie mit großer Überzeugung, »denn ein Kind liebt einen absolut und enttäuscht sein Gegenüber darin nicht.« »Mit der anderen Ebene hast du recht«, denke ich mir. Doch genau darin liegt die Problematik. Eine schwierige, mit großen Erwartungen beladene Kindheit wartet auf diesen noch ungeborenen Sohn.

      Auch die Reihe meiner jüngeren und jungen Patienten, bei denen diese seltsame, spezifische »Fühlschwäche«, diese grundsätzliche Abnahme der Wichtigkeit von Liebesbeziehungen, ja sogar Entwertung derselben, feststellbar ist, ließe sich beliebig fortsetzen. Alles lauwarm, alles cool ist die Devise. Ganz ohne Pulsbeschleunigung soll es sein und sich als taktischer Baustein in ein streng eigenorientiertes Lebenskonzept ohne Anpassungsbereitschaft fügen. Wenn dies allerdings nicht für beide involvierten Teile gilt, sprengt die Konfrontation mit dieser Haltung für den emotional involvierten Partner einen tiefen Krater in die derart geschundene Seele. »Schwangerschaftsberatungen« wie die von Phillip und Birgit sind heute in meiner Praxis keine Seltenheit mehr. Mal ist es der weibliche mal der männliche Teil, der sich für eine verbindliche Beziehung auf der Elternebene nicht wirklich bereit fühlt. Bisweilen wirkt es fast so, als ob vor dem Eintritt der Schwangerschaft in einer Art stillem Arrangement ein mit viel anderen Inhalten und persönlichen Zielen aufgepolstertes und abgelenktes Leben nebeneinander geführt wird. Die Schwangerschaft wird dann zum Offenbarungszeitpunkt, denn sie erfordert Bekenntnis und endgültige Klärung, ob man bereit und fähig ist, sich aufeinander einzulassen und für dieses Kind eine neue soziale Einheit als Basis zu schaffen. Liebesgefühle werden vielfach als bedrohlich erlebt, eine damit einhergehende »Auslieferung« assoziiert und diese als zu hohes Risiko bewertet. Konsumieren in Leichtigkeit, in einem abgesteckten Rahmen, der gleichzeitig Unverbindlichkeit garantiert oder zumindest Hintertüren offen hält, das suchen diese Patienten. Die Dämpfung des Fühlens repräsentiert eine neue Form des strategischen Beziehungsmanagements, das jedoch, wenn ich mich unter meinen Patienten so umblicke, gerade das nicht zu erfüllen scheint, was es anstrebt: nämlich, die Menschen glücklich zu machen.

      Zu diesem Zeitpunkt meiner Beobachtungen bewegte ich mich mit meinen Überlegungen noch im Feld meiner Patienten. Ich war der Überzeugung, in dieser Fühltaubheit, dieser Reduzierung der affektiven Besetzung eines Gegenübers, einen Mechanismus zu erblicken, der Ausdruck eines pathologischen Grundgeschehens war. Menschen, die auf Basis unsicherer frühkindlicher Bindungsangebote und entsprechender Traumatisierungen einen »fehlerhaften« Zugang zu einer befriedigenden zwischenmenschlichen Beziehungsgestaltung entwickelt hatten, waren zwar nichts Neues. Ja, sie sind sogar die Grundmatrix der psychotherapeutischen und psychiatrischen sowie psychosomatischen Sprechzimmer. Doch schien es mir eindeutig, dass eine tektonische Verschiebung im Untergrund der Bewältigungsstrategien dieser schmerzhaften Lebenssituation der Einsamkeit und Isolation erfolgte. Denn die Liebesbeziehung als grundsätzliches emotionales Lebensziel war in den früheren Jahren nicht infrage gestellt worden. Mit einem unzureichend reifen Bindungs- und Beziehungsinstrumentarium ausgerüstet, hatten meine früheren Patienten durchaus ihr »Scheitern am Gegenüber oder an sich selber« in heißen Kämpfen, frustrierenden Rückzugsschlachten und zähen, letztendlich ergebnislos verlaufenden Verhandlungen erlebt. Doch am Grundprinzip, am Streben nach einer befriedigenden Partnerschaft, war nicht gerüttelt worden. Nach einer unterschiedlich langen Periode, die sie brauchten, um sich vom Boden zu erheben, Wunden verheilen zu lassen und den Staub der letzten Niederlage aus den Kleidern zu klopfen, waren sie, wie von einem inneren Uhrwerk angetrieben, ganz selbstverständlich wieder aufgestanden. So hatte sich jener starke, auf einen anderen Menschen gerichtete Wunsch nach Nähe und Bindung wieder ganz von selbst eingestellt. Wie Kinder, die beim Laufenlernen unermüdlich nach jedem Sturz wieder aufstehen und weitermachen. Das schien sich jedoch in den letzten 20 Jahren grundlegend geändert zu haben, gerade darin schien die Veränderung zu liegen. Die Menschen schienen aufzugeben. Einen anderen Menschen überhaupt noch tief und rückhaltlos lieben zu wollen, kam aus der Mode. Das war neu. Wo war die Kraft hingekommen? Es schien mir, als hätten meine heutigen Patienten im Gegensatz zu meinen früheren auf ihrem Weg den Glauben verloren, als würde die analoge Erfahrung aller Betroffenen: »Scheiße, das war nicht der/die Richtige, das tut verdammt weh!« nicht mehr zu einem »Okay, dann muss ich etwas ändern, dazulernen, verbessern, auf etwas beim nächsten Mal mehr aufpassen« führen, sondern zu einem bitteren Erkenntnisprozess. Zu einer Grundhaltung von: »Also Beziehungen sind grundsätzlich scheiße, ich mach jetzt gar nichts mehr und kümmere mich nur mehr um mich, der/die Nächste wird sich bei mir gehörig anstrengen müssen, aber ich lass keine/n mehr wirklich an mich ran.« Eine Rücknahme der Besetzungsenergie auf sich selber, ein überzogenes Ausmaß von Beschäftigung mit sich und im Untergrund ein Eisberg an Enttäuschung und Frustration schienen die Folge dieser Schwäche zu sein. Resignation des psychischen Apparats, ein Motivationssystem, das nicht mehr genügend motiviert, die Hand mit Mut nach dem Gegenüber auszustrecken, sondern rät, nur ganz bei sich zu Hause zu bleiben. Bei meinen jüngeren und jungen Patienten schien mir die Sache noch viel grundsätzlicher zu verlaufen. Es mutete an, als würden viele von ihnen bereits an der Basis mit diesem Mangel an Begeisterungsfähigkeit für ein Gegenüber ausgerüstet sein. Schon von Beginn an schienen sie so geprägt in das zwischenmenschliche Beziehungsfeld einsteigen, ganz


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