Diagnose: Mingle. Martina Leibovici-Mühlberger
Leben ganz sicher nichts mehr wissen.«
Klaus und Brigitte, ein befreundetes Paar, wirken hingegen wie ein wirklich feines Ehepaar. Gemeinsam mit ihren zwei Kindern, der gerade fünfzehnjährigen Luise und ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Thomas, machen sie sogar den Eindruck einer harmonischen Bilderbuchfamilie. Doch der Schein trügt, denn unter der mit Spitzendeckchen ausgelegten Idylle herrscht eisiges Schweigen. Klaus hat Brigitte knapp nach der Geburt von Thomas betrogen. Der daraus resultierende Konflikt wurde, auch nachdem er das Verhältnis eingestellt hatte, nie von dem Ehepaar aufgearbeitet. Seit dem fatalen Seitensprung von Klaus existiert kein gemeinsames eheliches Bett mehr. Klaus treibt exzessiv Sport, weil ihn dies fit hält, er damit viele Stunden außer Haus sein kann und sich gemeinsame Abende vermeiden lassen. Brigitte hat sich zu einer virtuosen Köchin entwickelt, weil sie gerne isst, sie dies beruhigt und Klaus ihre beständige Gewichtszunahme auf den Geist geht. Ein pragmatisches, von zahlreichen Sticheleien durchsetztes Familienmanagement ist die Lebensroutine. Liebe, Zärtlichkeit oder tiefe Anteilnahme aneinander sind für beide so weit von ihrem Leben weg, wie der Planet Venus von der Erde.
Norberts und Monas Beziehung dagegen verursacht nahezu beständig einen im beachtlichen Dezibelbereich liegenden Geräuschpegel. Mona habe ich bei der Geburt ihrer Tochter kennengelernt, als ich ebenfalls gerade mein erstes Kind bekam. Ihre heute knapp 23-jährige Tochter Safira, ein hochgewachsenes, elfenhaft anmutendes Geschöpf, siedelt nach klassischen Kriterien eindeutig im Bereich der Anorexie, wird aber von ihrer Facebook-Community wegen ihres ultracoolen Bodys gefeiert. Sie vermeidet nichts mehr, als eine auf Kontinuität ausgerichtete Beziehung. Die Liste der Bewerber wäre lang, denn neben ihrem unwiderstehlichen Flair von eroberungswürdiger Zerbrechlichkeit, lauert hinter langen Wimpern ein erotisches Kraftwerk. Manchmal wünsche sie sich einen Mann, mit dem sie wirklich alles teilen könnte, gibt sie mir gegenüber zu. Einen, dem sie vertrauen und auch zeigen könnte, dass sie hinter ihrer ewig perfekten und beneideten Fassade auch Momente von Schwäche verborgen hält. Doch das Risiko einer Enttäuschung erscheint ihr viel zu hoch. Die kontinuierlichen Machtkämpfe, Abwertungsduelle, Tage, in denen die wechselseitige Verachtung der Eltern füreinander die Grundatmosphäre des Familienlebens bestimmt hat, haben ihr eindeutig die zu erwartende Beziehungsrealität von klein auf vor Augen geführt. Selbst wenn sie ihre Eltern als Extrembeispiel sähe, hätten sich die Ehen der Eltern ja bei den allermeisten ihrer Freundinnen genauso entwickelt. Von liebevoller Verbundenheit zwischen den Partnern sei nichts zu spüren gewesen. Und ihre eigenen ersten Beziehungserfahrungen mit Männern, die sie letztendlich immer hatten besitzen wollen, hätten sie auch gleich eines Besseren belehrt. Also lieber nicht. Ich kenne Safira, seit sie ein Baby war, und habe den wechselhaften, aber immer lauten Werdegang der Beziehung ihrer Eltern aus nächster Nähe verfolgen können. Auf meine Frage nach der Liebe meint meine Freundin Mona, dass es seit vielen Jahren der Hass und die enge wirtschaftliche Verflechtung des gemeinsamen Unternehmens wären, die sie und Norbert noch zusammenhielten. In diesem Punkt zumindest herrscht Einigkeit zwischen den beiden.
Robert wiederum, ein Arztkollege, der am Beginn seiner 40er steht, hat lieber den Weg nach draußen gewählt, als in einer mühseligen, konfliktreichen Ehe zu verbleiben. »Sie ist mir einfach nie so nahe gestanden«, beschreibt er die emotionale Ebene seiner Ehe, »um die Energie aufbringen zu wollen, mich ernsthaft auseinanderzusetzen. Heute glaube ich, dass ich sie einfach deswegen geheiratet habe, weil sie gut aussah und ich ›Heiraten‹ zu diesem Zeitpunkt irgendwie auf meiner Lebenserledigungsliste hatte. Ausbildung fertig, etablierte Praxis, da gehört dann auch noch eine Ehefrau ins Bild, du verstehst«, beschreibt er mir seine Gefühlslage.
Seit seiner nicht ganz billigen Scheidung beschränkt sich Robert auf Affären mit Ablaufdatum. Das ist bequem, gibt Kick, ist ein bisschen aufregend und möbelt den Praxistrott auf.
»So ein wenig Jäger«, meint er mit einem Zwinkern. »Das eigentlich Bedeutende an all diesen Frauen ist, dass sie unbedeutend bleiben.«
Gerade das gibt ihm ein Machtgefühl, denn seine Gefühlskälte, die hinter seiner galanten und intelligenten Fassade sowie seinem intensiven Werbungsspiel liegt, versetzt ihn immer in die stärkere Position und ermöglicht ihm im Finale den Triumph, die betreffende Frau zu kränken.
Meine Freundin Judith wohnt seit dem Auszug ihrer Tochter, die sie nach einer »blutigen Scheidung« seit ihrem vierten Lebensjahr unter permanenter Ausgrenzung des Kindesvaters alleine aufgezogen hat, mit ihren fünf Katzen, ihrem Fernsehgerät und dem Kochtopf, den sie immer gut zu füllen weiß, in stiller Symbiose. Für einen Mann würde sie nicht mal den kleinen Finger mehr krumm machen, erklärt sie mir verbissen. Obwohl sie andererseits bereit ist, wöchentlich Tonnen von Futterdosen und Katzenstreu in ihr Appartement zu schleppen. Ihre Gewichtszunahme hat bereits medizinisch bedenkliche Formen angenommen.
Thomas lebt dagegen in einer kalten Ehe, in der es seit 14 Jahren keinerlei Sexualität, dafür ausgeprägte Revierkämpfe gibt. Seine Liebe gilt der Aquaristik. Er züchtet bunte Guppys, deren strahlende, gigantisch überdimensionierte, regenbogenfarbene Schwanzflossen er stundenlang verträumt beobachtet. Als er Lisa, die selber in einer unglücklichen, berührungsarmen Ehe lebt, kennenlernt und, wie er es beschreibt, ein Gefühl ungewohnter Wärme in seine Brust einzuziehen droht, wird die Angst so stark, dass sein rationaler, Gregor Mendel verpflichteter Verstand das Risiko als zu hoch einschätzt und er die ersten zarten Beziehungsfäden zu Lisa wieder durchtrennt.
Irgendwann am Ende dieser Monate sitze ich mit meiner Freundin Laura, die selber eine »distanzierte Seelenfreundschaft mit Sexualoption ohne Vermischung der Lebenssphären« unterhält und in ihrem Brotberuf eine wohldotierte Managerin ist, gemeinsam in der Sauna. Während der Saunaofen zischt, nerve ich auch sie mit meiner schon mantrisch anmutenden Fragestellung nach ihrem Verhältnis zur Liebe. Vielleicht war der Moment schlecht gewählt, vielleicht hatte die Wärme es auch vermocht, die Tagespanzerung erfolgreicher Frauen abzuschmelzen. Jedenfalls bewirkte die Frage eine für mich unerwartete Reaktion. Sie, die mir gerade eben mit wohldurchdachten Formulierungen und in so sachlichem Tonfall die Vorteile und die damit verbundene Ehrlichkeit ihres »losen Beziehungsverhältnisses« referiert hatte, rastete plötzlich und unvermutet nahezu aus. Eine starke innere Kraft schien sie förmlich von der Liege zu reißen, und sie begann mich anzuschreien: »Was fragst du all den Scheiß? Davon will doch keiner reden. Schau dich doch um, wie wir alle leben! Wir rennen in einem Wahnsinnstempo durch einen rein auf Konkurrenz ausgerichteten Alltag. Jeder und zwar absolut jeder sieht nur mehr sich und seinen Vorteil. Und die wenigen, die es anders tun, können sich sowieso nicht durchsetzen. Die Hälfte aller Ehen wird wieder geschieden und dabei heiraten schon viel weniger als früher. Heute musst du ›es‹, was immer das bedeutet, in einer Beziehung bringen, sonst wirst du entsorgt. Du musst immer gut drauf sein, gut aussehen, deine Sache beim Sex gut machen, super Job haben, gut zuhören können oder tolle Köchin oder Super-Mami oder spritzige Partybegleiterin sein. Oder was der Teufel sich der andere halt gerade wünscht. Und Frauen machen es mit Männern genauso. Wir haben in unserer Gesellschaft einen Reglementierungs- und Zertifizierungswahn im Namen von Qualitätssicherung entwickelt. Und heute sind wir sogar da angekommen, dass wir unser Gegenüber in der Beziehung eigentlich beständig evaluieren. Wenn es die ›Benchmark‹ in den vorgegebenen Kontrollsegmenten nicht mehr erreicht, kommt die Abberufung. Ganz logisch, ganz cool und ganz unpersönlich. Trotzdem ist es wie eine beständige leise Drohung. Die ganze Beziehungskiste gleicht mehr einer Auktion als einem Gefühlsprozess zwischen zwei Menschen, der Verlässlichkeit oder Kontinuität im Grundabkommen einschließt. Das, was du da zu ›Bindung und Beziehung‹ wissen willst, das ist gänzlich out. Das kann sich keiner mehr leisten! Das ist zu gefährlich, denn das Fallbeil für die Beziehung kann überall auf dich warten und ganz besonders dann, wenn du es am wenigsten brauchst. Anja, eine Assistentin von mir, du hast sie vor einem Jahr bei einer Veranstaltung kennengelernt, hat vor einem halben Jahr ihre Brustkrebsdiagnose bekommen, 45 Jahre, Peng, Untersuchungen, Operation, Chemotherapie, eben die ganze Latte, die dann über einen hereinbricht. Ihrem neuen Partner, den sie seit ihrer Scheidung vor fünf Jahren seit zwei Jahren kennt, ist jetzt bereits die Luft ausgegangen. Das Ganze ist ihm zu belastend. ER packt es nicht. Muss, wie er begründet hat, auf sich schauen, da er ja auch noch zwei Kinder aus einer früheren Ehe zu versorgen hat, wie er offiziell sagt. Und viele geben ihm in seiner Argumentation Recht, können es gut nachvollziehen. In Wirklichkeit ist ihm das viel zu anstrengend mit Anja, mit der er