Diagnose: Mingle. Martina Leibovici-Mühlberger

Diagnose: Mingle - Martina Leibovici-Mühlberger


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mit Filipe entsprach ganz dieser Gangart.

      Ebenso das Verhalten meines Patienten Mark, der sich durch die Forderung seiner Freundin nach mehr Verbindlichkeit und Bekenntnis nach sechs Jahren Kennenlernen zu sehr in der Idylle seines Rollenpluralismus zwischen Sohn und Beziehungspartner gestört und eingeschränkt fühlte. Und auch die vielen Beratungen rund um das Thema Schwangerschaft als »geforderten oder verweigerten Beziehungsimperativ« fügten sich durch das ihnen innewohnende Thema der GEMEINSAMEN Verantwortung hier nahtlos ein. Aus dem Blickwinkel eines unreifen psychischen Apparats, der es in seiner Ausrichtung nicht vermag, über sich hinauszuwachsen, machten auch die Überlegungen jener »High Potentials« aus Alpbach und vieler Studienfreunde meiner ältesten Tochter durchaus Sinn, nur den eigenen Karrierehorizont vor Augen zu haben und Beziehungen in der Wertigkeit nachzureihen. Beziehungsneoliberalismus und pragmatischer Beziehungsrealismus als logische und rational gut durchdachte Form von Beziehungsmanagement begann hier als Haltung seinen Platz laut zu beanspruchen. Und nun waren da noch die ganz Jungen, die am Weg waren, diesen Modus a priori zur Methode der Wahl zu erheben, um »emotional bereinigt« und damit ohne Verletzungsgefährdung scheinbar sicher durchs Leben zu kommen. Doch der Preis dafür ist unwahrscheinlich hoch, wie jeder weiß, der diese Flamme wirklichen freien Liebens in sich brennen gefühlt hat. Denn dieses Gefühl reicht weit darüber hinaus, leidenschaftliche Anziehung für einen anderen Menschen zu empfinden. Lieben beseelt, ist jene Kraft in uns, die uns über uns selber hinauswachsen lässt, um Positives in der Welt beitragen zu wollen und trägt als eine unverzichtbare Facette auch die Ausrichtung auf ein spezifisches Gegenüber in sich. Wer nicht grundsätzlich die Fähigkeit zur liebevollen Ausrichtung auf ein Gegenüber in sich trägt, vermag nichts Positives in die Welt zu tragen. Der eigene Mangel, die Verhaftung im eigenen kleinen Ich, das nicht bereit ist, mehr als sich selber anzuerkennen, überschattet alles Tun. Eine kalte, farblose Welt tat sich hier auf, eine Abwürgung von Lebendigkeit und eine gähnende Einsamkeit, die mannigfache Konsequenzen nach sich zieht.

      Was war denn nur mit der Liebesfähigkeit in unserer Gesellschaft geschehen?

      Warum wir lieben

      Wenn sich Atome ineinander »verlieben«, so bilden sie mittels Bindungskräften Moleküle und somit komplexere Einheiten. Sogar auf subatomarer Ebene ist dieses Wirken der Bindungskräfte, jener Aspekt, der alles zusammenhält, das Entscheidende. Wir können uns zwar nicht sicher sein, ob ein Elektron gerade ein Masseteilchen oder eine Wahrscheinlichkeitswelle ist. Aber das, was dafür entscheidend ist, dass wir es, sei es als Welle oder Teilchen, irgendwo um einen Atomkern herum auf einer Wahrscheinlichkeitsbahn vermuten dürfen, sind die Bindungskräfte. Bindung begründet die kleinsten Bestandteile unseres Universums bis hin zur höchsten Akkumulation und Komplexität und ist als das universelle Prinzip alles Seienden anzusprechen. Bindung, Anziehung und, wenn wir diese Energie emotional konnotieren, Liebe, sind der universelle Antrieb der Lebendigkeit. Über die ersten Hochzeiten der Atome zu anorganischen Molekülverbindungen, weiter zu den organischen Verbindungen, die ersten Einzeller und dann die höhere Komplexität von Mehr- und Vielzellern mit ihrer bereits arbeitsteiligen Struktur, über wirbellose hin zu den Wirbeltieren, den Fischen, Amphibien, Vögeln, Säugetieren und letztendlich bis zu uns Menschen – überall ist, über vielschichtige Komplexitätsstufen und verschachtelte Steuerkreise Bindung der ursprüngliche, große Regisseur im Hintergrund, der Leben erst möglich gemacht hat. Umgekehrt steht Bindungslosigkeit oder der Prozess des Zerfalls von Bindungen für den Tod, so wie auch wir dereinst mit unserem Tod wieder zu Staub und Asche werden. Es ist also Bindung und in einem höheren Sinn Liebe, jene immaterielle Kraft, die die Materie erst lebendig werden lässt und beseelt. Liebe benennt im üblichen Sprachgebrauch ein Gefühl, eine Emotion, und ist damit, wenn wir von rudimentären, von Primatenforschern vermuteten Ansätzen absehen, ganz stark an unsere Spezies Mensch geknüpft. Warum hat uns die Evolution damit ausgestattet? Warum war es nötig, ab einer gewissen Komplexitätsstufe von »Sein« diese Emotion, die doch augenscheinlich so viele Beschwerden verursacht, zu erfinden? Wir können getrost davon ausgehen, dass die Natur nichts umsonst anlegt. Emotionen dürfen als komplexe Integrationseinheiten vieler zuvor gewonnener Sinneserfahrungen gesehen werden und dienen unserem Überleben. Letztendlich mit dem Ziel, uns rasch zu einer Evaluation einer Situation zu führen, um uns entscheidungsfähig zu machen. Wenn ich zum Beispiel allergisch auf Bienengift bin und eventuell bei einem Bienenstich einen anaphylaktischen Schock erleiden könnte, der die Potenz hätte, mich ins Jenseits zu befördern, so macht es durchaus Sinn, wenn ich genau in dem Moment, in dem sich ein derartiges Insekt auf der Suche nach einer Blume durch das offene Fenster in mein Zimmer verirrt, Furcht verspüre. So bin ich alarmiert, sofort etwas zu unternehmen. Emotionen sind also als Integrationseinheiten höherer Ordnung anzusehen, die aus vielen zuvor gewonnen, uns teilweise gar nicht bewussten Sinneseindrücken eine übergeordnete Evaluation einer Situation oder Anforderung ableiten.

      Nun, wozu ist also die Liebe gut? Sie hat damit zu tun, dass wir als die Krone der Schöpfung anzusprechen sind, also die bisher höchste Komplexitätsstufe verkörpern, die die Evolution zumindest in unserem Sonnensystem hervorzubringen im Stande war. Das sollte uns allerdings nicht arrogant, sondern demütig sein lassen, denn es bedeutet einen großen Auftrag. Wir haben als Spezies eine derart komplexe Systemik entwickelt, dass wir Vorstellungsvermögen haben, uns also Dinge, Handlungsabläufe, Prozesse und ihre Konsequenzen und möglichen Ergebnisse im Trockendock unseres Geistes vorzustellen vermögen, ohne uns sprichwörtlich dabei die Hände schmutzig machen zu müssen. Und darüber hinaus haben wir es sogar zu einem reflexiven Bewusstsein gebracht. Wir können also über uns selber nachdenken. Mit diesem Selbst-Bewusstsein ist es uns als Privileg sogar eingeschrieben, dass wir das universelle Prinzip der Bindung und der Liebe als das treibende Prinzip der Evolution erkennen und wertschätzen können. Doch dafür, dass es so weit kommen konnte, war das Prinzip der Bindung und des Liebens auch gleichzeitig wieder die Voraussetzung. Das hat, wie könnte es anders sein, mit unserem Hirn zu tun. Wenn wir unsere Grundausrüstung als Menschen betrachten, so ist sie gar nicht unbedingt beeindruckend. Wir müssen sogar neidlos attestieren, dass die meisten Tierarten besser ausgerüstet sind als wir. Keine scharfen Krallen oder Reißzähne, mehr als durchschnittliche Läufer, eindeutig schlechte Schwimmer, ganz sicher keine Ausdauer beim Hangeln von Ast zu Ast, und vom Klettern gar nicht zu reden. Nicht einmal ein wirkungsvolles Tarnkleid haben wir, Flucht durch Fliegen können wir gleich abhaken, und im direkten Kampf Faust gegen Faust sind wir, wenn es nicht gerade um die eigene Spezies geht, so ziemlich jedem, der mehr als 50 Kilogramm und etwas Entschlossenheit mitbringt, unterlegen. Trotzdem dürfen wir uns als die überlegene Spezies sehen, jene, der es gelungen ist, so ziemlich jeden Lebensraum bis zum arktischen Wendekreis und in der anderen Richtung bis in die Sahara hinein zu besiedeln. Dass wir den Globus heute dominieren und alle anderen sukzessive, wenn auch mit unklarem Ausgang ausrotten, ist ein Faktum. Das, was uns so erfolgreich gemacht hat, ist nämlich gerade, dass der Mensch so wenig differenziert ist, so unspektakulär.

      Der Mensch ist ein klassischer Generalist. Im Unterschied zu allen auf ihr jeweiliges Habitat genauestens angepassten, ja zugeschnittenen Organismen und Tieren ist der Mensch einfach so, wie er eben ist, simpler Durchschnitt. Ein bisschen von allem. Ein bisschen Laufen, ein bisschen Muskel, ein bisschen Klettern, ein bisschen Schwimmen, ein bisschen Springen, ein bisschen Regulationsmöglichkeit an Temperatur und unterschiedliche Luftdruckverhältnisse. Das Spezifische des Menschen, so könnte man sagen, ist, dass er unspezifisch ist, dass er sich aber extrem flexibel an die jeweiligen Anforderungen anpassen kann. Und dies wird ihm durch sein großes Hirn mit seinem überragenden Vorstellungsvermögen, das »Probehandeln ohne Risiko« ermöglicht, erschlossen. Dieses Hirn und seine großartige Möglichkeit, situationsangepasst zu reagieren, Werkzeuge zu erfinden, Feuer zu kultivieren und Lösungen für die jeweilige Anforderung der Umgebungssituation zu entwickeln, hat uns zum Erfolgsorganismus gemacht. Es hat uns ermöglicht, nahezu jeden Lebensraum zu besiedeln und uns damit gleichzeitig befähigt, über uns nachzudenken. Doch ein Hirn, das derartigen Anforderungen gewachsen sein soll, braucht eine gewisse Größe. Da reicht ein einfaches Affenhirn von, sagen wir, Schimpansengröße und 460 Gramm nicht aus, um Reflexivität in gehörigem, erfolgversprechendem Ausmaß entwickeln zu können. Wir bringen immerhin heute rund 1290 Gramm auf die Waage. Das stellte die Evolution vor eine ziemliche Aufgabe. Denn für das Unternehmen »zunehmende Komplexität« war auch der aufrechte Gang


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