Diagnose: Mingle. Martina Leibovici-Mühlberger
Gang ist aus der Beckendynamik heraus der Beckendurchgangsöffnung ein Riegel vorgeschoben. Was man da durchbekommt, bei einer Geburt, ist an Hirngröße nicht allzu beachtlich. Damit ist kein Staat zu machen, zumindest im Sinne der Krone der Schöpfung, eines Organismus, der später einmal, wenn er erwachsen ist, innovative, neue Lösungen für komplexe Probleme finden soll. Mit so einem Hirn hätten wir weder die Dampfmaschine, noch die industrielle Revolution, Hip Hop, Quantenmechanik, Jazz, Hamlet oder die Relativitätstheorie erdenken können. Das heißt, dass es notwendig wurde, eine ziemlich lange postpartale also nachgeburtliche Periode einzuschieben, in der dieses Hirn in Ruhe wachsen und gleichzeitig optimal an die jeweiligen lokalen Gegebenheiten angepasst werden konnte. Doch die Lebensversorgung in Zeiten ohne Sozialversicherung, sozialem Wohnbau, Krankenversorgung, ausgebauten Helfersystemen, Karenzgeld und Mutterschutz, Supermärkten mit gefälligen Öffnungszeiten, Eltern-Kind-Treffpunkten und notfalls Kriseninterventionszentren waren schwer. So schwer, dass diese Bürde der Aufzucht bis zu einem realistischen Freisetzungs- und Selbstversorgungszeitpunkt für ein Weibchen alleine, beladen mit all den Versorgungs- und Nahrungsbeschaffungspflichten als Regelfall nicht realistisch bewältigbar erschien. Da musste der Erzeuger als im wahren Sinn des Wortes Nächstliegender und damit auch Engagiertester mit eingebunden werden. Und damit kam wieder der universelle Antrieb des Lebens, nämlich Bindung, ins Spiel. Es galt, in einer sozial komplexen Form Bindung einzuführen, das Lieben zu entwickeln, das zunehmend auch als solches bewusst werden und erkannt werden konnte. Von der strahlenden romantischen Hollywood-Liebe würde ich hier noch nicht sprechen wollen. Obwohl wir natürlich nicht wissen, ob jene fernen Vorfahren von uns auch schon damals unter dem glitzernden Sternenhimmel für einen Moment die Verschmelzung mit dem Universum erfahren haben, als sie einander in die Augen blickten, bevor sie neues Leben zeugten. Aber von Bindung und Zugehörigkeit in einer sehr klaren und pragmatischen Form, wenngleich vielleicht nicht einmal bewusst, kann hier ganz sicher die Rede sein.
Ich habe in einem Museum einmal die Ausgrabung einer Steinzeit-Familie gesehen, die allesamt an einer Vergiftung gestorben sein sollten, zeitgleich, im Schlaf. Hatten wohl die falschen Beeren zum Nachtisch erwischt. Die Anordnung der Skelette hat mich tief berührt. Da waren die Gebeine einer jungen Frau, die in ihren Armen im Tod wohl ein etwa eineinhalbjähriges Kind gehalten haben muss. Hinter ihr lag, sie umfangend, das Skelett eines Mannes. Etwas an der Seite fanden sich ein etwa siebenjähriger Junge und ein rund zehn- bis elfjähriges Mädchen. Und neben den beiden Kindern das Skelett einer älteren Frau. Eine Familie. Das habe ich mir damals, für einen Moment über die Jahrtausende mit ihnen verbunden, gedacht. Mann und Frau und das Kleinkind vereint, und daneben die schon autonomeren Familienmitglieder, die älteren Kinder und die Großmutter. Ob sie Liebe füreinander gefühlt haben, wie wir sie kennen, weiß ich nicht. Aber Bindung, Zusammengehörigkeit dürfen wir doch wohl als gesichert annehmen, allein aus der Gruppierung heraus. Es ist ein weiter und unausleuchtbarer Weg, von diesen Anfängen der Bindungs- oder auch Zugehörigkeitsgefühle bis zu dem, was wir heute unter Liebe verstehen. Ich bin der Überzeugung, dass er im Spannungsfeld der Individuation des Menschen, also der Wahrnehmung seines eigenen ICHS zu sehen ist.
Zum Zeitpunkt unserer Geburt existiert ein ICH-Bewusstsein noch nicht. Wir wissen also nicht, dass wir wir sind. Dieses ICH muss sich erst konstituieren, muss erst erbaut werden. Ein spannender Prozess, bei dem während der Schöpfung von materieller Struktur durch Wachstum des Hirns und Ausbildung von Synapsenschaltungen auch erst jenes Bewusstsein schrittweise entsteht, das jedes Kind irgendwann zum überwältigten Ausruf »ICH« befähigt, wenn es sein Spiegelbild zum ersten Mal als eben jenes ICH zu erkennen vermag. Zu Beginn unseres Lebens befinden wir uns in einem Raum-Zeit-Kontinuum und in enger, fast symbiotischer Vernetzung mit unseren nächsten Bezugspersonen und der uns umgebenden Umwelt. Wir sind getrieben von wechselnden Bedürfnissen und ihrer Erfüllung. Aber wir sind da – ganz eindeutig, wir gestalten diese Interaktion mit unserer Umgebung mit und treten in Austausch und Reaktion, so uns dies ermöglicht wird. Reziproke, ko-regulierte, affektive Kommunikation nennt man das in der Wissenschaft. So schrecklich diese Worthülse klingt, sie vermag doch eindeutig Wesentliches zu enthüllen. Zum einen, dass bereits Säuglinge, wie eindeutig erwiesen ist, nicht nur passiv auf Reize reagieren, sondern sehr wohl ihrerseits Impulse setzen und über einen wechselseitigen, wiederum bei der Bezugsperson eine Antwort provozierenden Ausdrucksmodus verfügen. Denn die schlaue Evolution hat vorgesorgt, damit die Kommunikation mit den Kindern auch für ihre Bezugspersonen spannend bleibt und diese sie nicht eventuell aus Langeweile einfach weglegen. Zum anderen handelt es sich hierbei nicht nur um reziproke, wechselseitig hin- und herlaufende Kommunikation. Also kein reines Vor- und Zurückschieben von Daten, sondern sie wird sowohl von der Betreuungsperson wie auch vom Säugling und Kleinkind ko-reguliert, das heißt aktiv aus der aktuellen Befindlichkeit heraus mitgestaltet. Um diesen Sachverhalt emotionaler Ko-regulation zu verdeutlichen, müssen wir uns nur in die Situation mit einem zahnenden, brüllenden Kleinkind hineinversetzen. Wenigen von uns gelingt es, im Grundton der eigenen Gefühlswelt während der Tröstungsversuche, ausgeglichen und entspannt zu bleiben, vor allem wenn es sich um längere Zeitsegmente handelt, die das Töchterchen oder der Sohnemann tobt. Unsere Kinder üben also einen Einfluss auf uns und unsere emotionale Befindlichkeit aus.
Was jedoch für unsere Fragestellung der ICH-Entwicklung als der wesentlichste Aspekt der Analyse früher Kommunikationsprozesse bezeichnet werden muss, ist die Tatsache, dass im Hintergrund all dieser von uns als Säugling und Kleinkind sowie heranwachsendem Kind gemachten Erfahrungen unser ICH geformt wird. Erst während wir zum ICH werden, beginnen wir auch die Fähigkeit zu entwickeln, dieses ICH zu bemerken und später dann darüber nachzudenken.
Klar wird hier allerdings auch die Tatsache, dass kein vom Kontext seiner Entstehung »losgelöstes« ICH existiert. Das ICH und sein Bewusstsein zu sich entsteht über das DU, das lebendige Gegenüber und jene Prozesse von Bezugnahme aufeinander. Wer das anzweifelt sei herzlich dazu eingeladen, in historischen Texten zu den ersten Findelhäusern nachzulesen oder deren Todesstatistiken zu studieren. Denn der Säugling, der zwar physisch ernährt wird, aber ohne Bezug(sperson) in einem kalten, seine verzweifelten Signale unbeantwortet lassenden Kosmos zu leben verurteilt ist, der verzweifelt als Organismus binnen kurzer Zeit. Er findet keinen Andockplatz für eine ICH-Entwicklung, vermag zu keinem ICH zu werden und gibt sein Leben auf. Das haben in jüngerer Zeit auch die schrecklichen Waisenhäuser des Ceauşescu-Regimes neuerlich bewiesen. Schon der Stauferkaiser Friedrich II (1194-1250), der wissen wollte, ob Aramäisch oder Latein die heilige Ursprache wäre und Ammen verbot, die ihnen anvertrauten Kinder zu herzen, ihnen vorzusingen, sie zu streicheln oder auch nur, sie beim Stillen anzusehen, erreichte damit nur den Tod der Kinder.
Ohne Bezug, ohne Bindung und Beziehung zu einem DU also kein ICH. Aber wenn wir diesen grundsätzlichen Entwicklungsweg der ICH-Werdung nun nachvollziehen können, erhebt sich natürlich als nächstes die Frage: WIE sieht denn dieses ICH aus? Aus welchen Bestandteilen setzt es sich zusammen? Was genau meinen wir, wenn wir »ICH« sagen? Wie erlebt sich also dieses ICH, das nicht nur in Abhängigkeit zum DU, sondern auch zum größeren DU einer ganzen Gesellschaft, ihren Werten und Grundüberzeugungen und den damit verbundenen Erfahrungen entsteht? Was also ist genau gemeint, wenn sich ein einzelnes ICH beschreibt, das als indisches Mädchen im untersten Kastensegment aufgewachsen ist, oder ein ICH, das in den Hamptons seine ersten prägenden Lebensjahre zugebracht hat? Und gibt es einen Unterschied in der ICH-Wahrnehmung über die Jahrhunderte hinweg?
Lassen wir die Stromschnellen kultureller Einflussfaktoren auf die ICH-Entwicklung beiseite und konzentrieren wir uns auf jene ICHs, die uns in unserem westlichen Lebensalltag bevorzugt entgegenkommen. Wen dürfen wir erwarten?
Wenn wir heute »ICH« sagen und unsere »Sozialisierungsadresse« in unserer reichen Konsumgesellschaft angeben können, so haben wir eine ziemlich klare und vor allem hochspezifische Vorstellung, wer dieses ICH ist. Dieses ICH ist zuerst einmal in klarer Weise eine eigenständige von allen anderen getrennt zu sehende biologische Einheit mit eindeutigen Körpergrenzen. Der körperlichen Ausdehnung und Oberflächenbeschaffenheit dieses ICHS ist heute gleich eine besonders herausragende Bedeutung zugeordnet. Viel Energie, Zeit und Geld wird dafür aufgewendet, um der Präsentation dieses Körpers im Spannungsfeld von Idealvorstellungen einen höchst persönlichen, eben individuellen Look zu geben. Das Ganze erfolgt unter der Zielsetzung, zu seiner eigenen »Marke« zu werden, sich als höchst persönliches Individuum von allen anderen