Dürnsteiner Himmelfahrt. Bernhard Görg
weißen oder gelben Stoffs wahrnahm. War ja auch im dichten Grün der Blätter der Weinreben schwierig zu erkennen.
»Dann bleib da vorne stehen. Du wartest hier, bis der Notarzt kommt. Vielleicht findet er den Unfallort nicht. Nicht jeder hat solche Adleraugen wie wir beide.«
Felix Frisch hoffte, seine junge Kollegin würde nicht merken, dass er unbedingt als Erster am Ort des Geschehens sein wollte.
»Aber er sieht doch unser Auto.«
»Glaub mir, Kathi. Ich weiß, wovon ich rede.« Er stieg aus dem Wagen und schätzte die Höhenmeter von der Straße bis zu der Person ab, die noch immer ihr Hemd oder etwas Ähnliches schwenkte. Fünfzig bis sechzig Meter, steil bergauf. Mit einem Seufzer machte er sich auf den Weg. Zunächst kämpfte er sich die Böschung zur Bahntrasse hinauf. Wie ein Eiskletterer hieb er bei jedem Schritt seinen Schuh in die Grasbüschel, um festen Halt zu finden. Eigentlich eine Frechheit. Die Bundesbahnen hätten hier aus Sicherheitsgründen längst Stufen in die Böschung bauen sollen. Was, wenn ein Zug ausgerechnet auf diesem Streckenabschnitt steckenblieb und die Menschen hier aussteigen mussten. Nirgends konnte man sich anhalten. Diese Böschung war die reinste Todesfalle. Als er endlich auf der Bahntrasse ankam, ging er ein paar Schritte, sodass Kathi ihn nicht mehr sehen konnte, und legte erst einmal eine Verschnaufpause ein. Immerhin ein Fünftel des Weges war geschafft. Nun ging es darum, einen Durchgang zu finden, um weiter hinaufzugelangen. Der Weinberg war in Geländestufen angelegt, jede mit einer Mauer aus unbehauenen Steinen befestigt. Da es hier sehr steil war, waren die Mauern mannshoch. Vier Geländestufen waren es von der Bahntrasse bis zu dem Mann da oben, der mit dem Schwenken des Hemds aufgehört hatte und stattdessen mit gestrecktem Arm deutete. Messerscharfe Schlussfolgerung: Da vorne musste irgendwo ein Durchgang sein. Tatsächlich. Da war eine Lücke in der Mauer und dahinter ein sandiger Pfad mit ein paar Stufen an den steilsten Stellen. Weinbauern waren eben vernünftige Leute. Auf der zweiten Geländestufe hörte er und sah dann auch schon den Rettungswagen, der keine zehn Sekunden später hinter dem Polizeiauto einparkte. Der Notarzt, den er mit seinen Adleraugen sofort erkannte, und die beiden Sanitäter stiegen mit einem Tempo den Bahndamm hinauf, dass er sich würde sputen müssen, wenn er wirklich vor ihnen an der Unfallstelle sein wollte. Er hörte sich keuchen. Elende Schinderei. Dabei lud der Ausblick an dieser Stelle zum Aufstellen eines Liegestuhls ein. Am anderen Donauufer lag eine der größeren bewaldeten Inseln, die kaum jemand betrat, obwohl der schmale Kanal hinter ihr leicht zu überqueren war. Von Rossatz und Weißenkirchen sah man von hier oben auch ein gutes Stück. Warum hatte er dieses Motiv noch nie auf einer Postkarte gesehen? Wahrscheinlich, weil sich kein Fotograf die Mühe machte, hier heraufzuklettern. Unten schlängelte sich gerade ein Zug der Wachaubahn vorbei. Wirklich malerisch hier zwischen den saftig-grünen Weinreben. Nur die Trauben fehlten noch. Die waren erst Ende August so weit.
Er hörte den Notarzt und die Sanitäter hinter sich, ebenfalls schnaufend, schaffte es jedoch noch vor ihnen. Sehr ausgepumpt zwar, aber immerhin.
»Da sind Sie ja endlich. Wir warten hier schon geschlagene zwanzig Minuten.« Der ältere Mann, der gewunken hatte, deutete auf einen verschwitzten jüngeren, der neben einer ungefähr zwei Meter von der oberen Stützmauer entfernt liegenden Person kniete und mit Herzdruckmassage beschäftigt war. »Seitdem hat sich der Mann da nicht bewegt«, fuhr der ältere fort. »Wenn Sie mich fragen, ist er tot.«
Mit dem geschulten Augenmaß eines Gruppeninspektors schätzte er zunächst die Höhe der Stützmauer ab – gute drei Meter – und beugte sich dann über den leblosen Körper. Er erschrak. Das Gesicht kannte er. Es gehörte einem Kremser Antiquitätenhändler. Vor ein paar Wochen hatte er einen Einbruch in sein Haus angezeigt. Wie war doch gleich sein Name?
Sonntag, 19. Juni 16 Uhr 52
Eigentlich wäre das sein letzter Einsatz für heute gewesen. Er hatte sich schon aufs Heimkommen und auf sein hoch verdientes Bier gefreut. Serviert von seiner Elfriede, der er nach dem ersten Schluck davon erzählen wollte, wie schnell er den Weinberg hinaufgesprintet war und wie er dabei sowohl seine junge Kollegin als auch den kaum älteren Notarzt hinter sich gelassen hatte.
Aber als Gruppeninspektor wusste er, was er seinem Rang schuldig war. Er hätte es sich nie verziehen, Kathi zur Witwe des Kunsthändlers zu schicken, um die Todesnachricht zu überbringen. Das würde er übernehmen müssen, hoch verdientes Bier hin oder her. Seinerzeit als noch junger Polizist hatte er sich um solche undankbaren Aufgaben immer gedrückt. Weil er zugeben musste, für solche Einsätze noch nicht das nötige Fingerspitzengefühl aufzubringen. Obwohl er sich schon damals auch in dieser Hinsicht seinen Kollegen turmhoch überlegen fühlte. Dazu kam noch, dass es natürlich nie angenehm war, Angehörige mit schlimmen Nachrichten konfrontieren zu müssen. Was er da schon alles erlebt hatte. Schon vor längerer Zeit hatte er sich vorgenommen, nach seiner Pensionierung einmal alle seine Erfahrungen zu Papier zu bringen. Er war sich selbst gegenüber ja der strengste Kritiker. Daher versagte er sich die Illusion, damit einen Bestseller zu schreiben. Aber als Trainingsunterlage für Polizei-Schulungen würden seine Memoiren sicher Gold wert sein.
Er setzte seine Kollegin an der Dienststelle ab und fuhr zum Haus auf dem Wachtberg, um die traurige Polizisten-Pflicht zu erfüllen. An die Villa mit dem prachtvollen Blick über Krems erinnerte er sich gut. Nicht, dass er sich aus Kirchen viel machte. Aber gleich auf vier oder fünf alte Kirchtürme hinabschauen zu können, hatte doch etwas Erhebendes. Als er vor vier Wochen zum ersten Mal vor dem Haus gestanden war, war er tatsächlich ein bisschen unglücklich darüber gewesen, kein Geschäftsmann, sondern Polizist zu sein. Damals, als er einen von dem Kunsthändler gemeldeten Einbruch aufnehmen musste. Es waren zwar eindeutige Spuren von einem gewaltsamen Eindringen zu sehen gewesen, aber keine Hinweise darauf, dass mit Ausnahme einer angeblich mehr als fünfhundert Jahre alten, kleinen Heiligenfigur etwas gestohlen worden war. Dabei wäre das Wohnzimmer ein Paradies für einen Dieb gewesen. Er würde zwar nie verstehen, was Leute an alten, wurmstichigen Holzstatuen und riesigen Ölschinken fanden. Aber er wusste, dass es für solche Sachen Sammler gab, die viel mehr für ein einziges Bild auszugeben bereit waren als er für hundert seltene Bierdeckel, denen seine ganze Sammelleidenschaft galt; wahrscheinlich sogar mehr, als er für seinen Škoda Octavia hatte hinblättern müssen. Verrückte Welt.
Jedenfalls hatte er damals festgestellt, dass keine Kinder mehr im Haus lebten. Was auch gar nicht verwunderlich war, weil er den Händler auf Anfang sechzig schätzte. Dessen Frau, die bei der Untersuchung des Tatorts auch dabei war, schätzte er auf vielleicht sechs oder sieben Jahre jünger. Dass keine Kinder da waren, würde seine Aufgabe ungemein erleichtern.
Auf dem fein ziselierten Namensschild unterhalb der Klingel, an das er sich ebenfalls gut erinnerte, las er den Namen, der ihm entfallen war: Haberl. Die Witwe mit ihrem Namen ansprechen zu können, war gerade in dieser heiklen Situation sehr wichtig. Er klingelte.
Es brauchte keine fünf Sekunden, bis sich mit einem geradezu zarten Summton, den er auch schon kannte, das gusseiserne Tor öffnete, das in einen kleinen und gepflegten Vorgarten führte.
Kurz darauf öffnete sich die Haustür, in der auch schon die Dame des Hauses stand. »Herr Inspektor! Das ist aber eine Überraschung. Dass Sie sogar an einem Sonntag kommen, kann nur bedeuten, dass Sie die Heiligenfigur wiedergefunden haben. Da wird sich mein Mann aber freuen. Leider ist er noch nicht zu Hause. Ich erwarte ihn aber jede Minute. Wenn Sie solange auf ihn warten wollen, biete ich Ihnen gern einen Kaffee an.«
Der Gruppeninspektor unterdrückte seinen Impuls, sich über die Anrede zu ärgern. Die gute Frau hätte sich doch erinnern müssen, dass sie es mit einem Gruppeninspektor zu tun hatte. Gleichzeitig war er durch ihre Eröffnung etwas aus dem Konzept gebracht. »Vielen Dank, Frau Haberl! Aber ich möchte gar nicht mit Ihrem Mann, sondern mit Ihnen sprechen. Aber ein Kaffee könnte auf keinen Fall schaden. Da redet es sich leichter.« So einen tollen Einstieg in ein derart heikles Gespräch würde ihm nicht so bald jemand nachmachen. Einerseits ganz locker und andererseits schon einen sehr ernsten Hintergrund für sein Kommen signalisierend.
»Sie machen mich ja richtig neugierig. Aber kommen Sie doch bitte herein. Wenn Sie bitte für einen Augenblick im Wohnzimmer, das Sie ja kennen, Platz nehmen wollen. Ich mache schnell Kaffee.«
Jetzt war guter