Mit allem rechnen (E-Book). Geri Thomann
in der Abbildung 1 zentral, dass auf eine mögliche Differenz zwischen dem antizipierten Wunschziel und dem real erreichten Ergebnis hingewiesen wird. Selbst in natürlichen, chemischen, evolutionären und erst recht in technisch konstruierten oder programmierten Abläufen realisieren sich nicht nur die angenommenen Anfangs- und Randbedingungen. Nicht selten wirken auch kontingente Bedingungen auf das Geschehen ein: «Zufall und Notwendigkeit» (Monod, 1971) kennzeichnen natürliche, lebendige und technische Prozesse.
Auf das Handeln bezogen zeigen sich in der Differenz zwischen dem antizipierten und dem tatsächlich erreichten Ziel die Auswirkungen von Störungen, Irrtümern, Fehlern, Missverständnissen und unter Umständen sogar von Scheitererfahrungen. Auch dies gilt – so unsere Hervorhebung – wiederum sowohl für rational-geplantes Handeln als auch für andere, adjektivisch gekennzeichnete Handlungsweisen. Mit anderen Worten: Auch das improvisierte Handeln kann scheitern. Es kann sich im Nachhinein als irrtümlich oder fehlerhaft, als gescheitert erweisen. Trifft man diese Annahme nicht, so bewegt man sich auf «überirdischen», zumindest «übersinnlichen» Pfaden.
Die unerwarteten, mitunter sogar unerwünschten Ereignisse führen uns in die psychologische Fehler- und Irrtumsforschung (Wehner et al., 1983; Wehner 1992; Dörner, 1989; Reason, 1990) und – im Hinblick auf den Umgang mit diesem Zustand – zu meist zweierlei Fragen:
I. Wie lässt sich das antizipierte Ziel eventuell dennoch erreichen?
II. Welches Lernpotenzial ergibt sich aus der Reflexion einer Zielverfehlung?
Die Hinwendung zur ersten Frage (I) verweist auf das improvisierende Handeln, während die zweite Frage (II) – gerade im Hinblick auf individuelles und organisationales Lernen – hinreichend beantwortet wurde und in der Praxis auf breite Anwendung gestossen ist (vgl. hierzu die Ausführungen zum single-, double-loop sowie zum deutero-learning; Argyris & Schön, 1996; Bateson, 1972).
Wer improvisiert, braucht dafür nicht nur Gründe, sondern auch einen Auslöser
Während technische Abläufe so gestaltet werden, dass eine Störung möglichst zum Stillstand des Geräts oder der Anlage führt (v. Neumann, 1967), bemühen sich lebendige Kommunikations- oder Handlungsprozesse darum, dass sich Störungen, Fehler, Irrtümer oder Missverständnisse harmlos auswirken, sodass der Handlungsprozess nicht völlig zusammenbricht, im Fluss bleibt und damit die ursprünglichen Absichten beziehungsweise initialen Wünsche oder Bedürfnisse weiter verfolgt werden können – wenn auch nicht wie geplant. Unabhängig davon, was die Ursachen dafür gewesen sein mögen, warum ein real erreichter Zustand nicht mit den Erwartungen übereinstimmt, lässt sich zufälliges oder chaotisches Weiterhandeln äusserst selten beobachten, ein Sichdurchwursteln schon eher und häufiger improvisiertes Handeln.
Wenn improvisiertes Handeln nicht Selbstzweck ist – was es im Jazz durchaus sein kann (s. den Beitrag von Kuhn, S. 154) – dann braucht es einen Auslöser. Nehmen wir an, eine Dozentin hat in einer bestimmten, gut geplanten Lehreinheit vorgesehen, dass sie von einer Studentin in wichtigen, ebenfalls geplanten und eingeübten Passagen, unterstützt wird. Nehmen wir nun weiter an, dass die Studentin am Unterrichtstag nicht kommt, weil sie krank ist, aber leider keine Ersatzperson eingeplant war: «Die Stunde verschieben, oder improvisieren?» ist dann die Frage. Wer diese Frage mit improvisierendem Handeln beantwortet, kann durchaus erleben: «Nicht gescheitert bin ich, weil ich improvisierte.» Improvisation ist also mehr als eine Verlegenheitslösung, sondern eine Form von Handlungsvermögen, die durch ein nicht antizipiertes kritisches Ereignis ausgelöst wird und zum Erfolg führen kann. Der Geltungsbereich improvisierenden Handelns beginnt demnach dort, wo ein noch so rational geplanter Vorgang zu seinem vorläufigen Ende gekommen ist und wo relatives Scheitern[6] seinen Ausgang nehmen könnte.
Hervorgehoben werden muss an dieser Stelle noch, dass wir – für alltägliches oder berufliches Handeln – davon ausgehen, dass nur, wer umfassend geplant beziehungsweise sich gut vorbereitet hat, auch auf sein improvisierendes Handlungsvermögen zurückgreifen kann – ohne Garantieanspruch, wie beim rational-planvollen Vorgehen auch.
Wenn nun sowohl auf den Auslöser beziehungsweise auf die Gründe für das improvisierende Handeln und damit auch auf den Geltungsbereich hingewiesen wurde, kann noch ein Gedanke bezüglich der Konsequenzen geglückter Improvisation angefügt werden. Der geglückten Improvisationserfahrung sollte nicht ein Planungspessimismus folgen; es gilt vielmehr, «unrealistischen Planungsoptimismus» zu überwinden. Nicht nur Märchenfiguren unterliegen dem «Rumpelstilzchen-Effekt»[7]: Auch menschliche Planerinnen und Planer entwerfen technische oder organisatorische Pläne, bei denen meist der jeweils günstigste Verlauf unterstellt wird und Unwägbarkeiten (Friktionen) nicht bedacht werden (Strohschneider & von der Weth, 2002). Dieser Gedanke ist nicht neu. So findet sich in Kants «Prolegomena» (Kant, 1795, S. 4–10) eine wahrlich planungspessimistische und in Vergessenheit geratene Sentenz:
Pläne machen ist mehrmalen eine üppige, prahlerische
Geistesbeschäftigung,
dadurch man sich nie ein Ansehen von schöpferischem Genie gibt,
in dem man fordert, was man selbst nicht leisten kann,
tadelt, was man doch nicht besser machen kann,
und vorschlägt, wovon man selbst nicht weiss, wo es zu finden ist.
Improvisiertes Handeln ist anschlussfähig
Beim Verweis auf die handlungstheoretischen Ansätze blieb bis jetzt unerwähnt, dass anfangs die emotionalen, sinnlichen Anteile des Handelns zugunsten der rational-planbaren Regulationsaspekte ausgeblendet wurden. Auch wenn dies in späteren Arbeiten (vgl. Volpert, 1992) nachgeholt wurde, bildete sich parallel dazu eine handlungstheoretische Perspektive, die das «erfahrungsgeleitete Handeln» (Wehner & Waibel, 1997; Waibel-Fischer et al., 2004) und das «subjektivierende Handeln» (Böhle, 1989) in den Fokus rückte und in der betrieblichen Lebenswelt intensiv erforschte. Beide empirisch breit und gut untersuchten Perspektiven (Fischer et al., 2004; Böhle, 2017) sind durchaus anschlussfähig an das Konzept des improvisierenden Handelns. Das Konzept des subjektivierenden Handelns soll deshalb hier noch skizziert werden. Subjektivierendes Handeln wird in Böhle (2017, S. 27 ff.) durch besondere Umschreibungen der Vorgehensweise, der sinnlichen Wahrnehmung, des Denkens sowie der Beziehung zur Umwelt charakterisiert und vom objektivierenden Handeln abgegrenzt. Zu den genannten Charakteristika im Einzelnen, und zwar im Wortlaut:
«Vorgehensweise: Planmässig-rationales Handeln verläuft nach dem Grundsatz ‹erst entscheiden, dann handeln›. Der praktische Vollzug des Handelns beruht demnach auf der Durch- und Ausführung von ex ante getroffenen Entscheidungen über Ziele und Mittel. Das subjektivierende Handeln beruht demgegenüber auf einem explorativ-dialogischem Vorgehen. Leitend sind Intentionen (Absichten), wobei die Ziele sowie insbesondere Mittel und Wege (erst) im praktischen Handeln und durch das praktische Handeln eruiert und festgelegt werden. Man tritt dementsprechend ‹in einen Dialog› mit den Dingen und wartet die ‹Antwort› des Gegenübers ab. Aktion und Reaktion, Entscheiden und praktisches Handeln sind unmittelbar verschränkt und in einem kontinuierlichen Fluss.»
«Sinnliche Wahrnehmung: Das explorativ-dialogische Vorgehen ist mit einer besonderen Art der Wahrnehmung verbunden. Sie richtet sich beim Erkennen und Beurteilen der jeweiligen Gegebenheiten nicht nur auf exakte und eindeutig definierbare Informationen, sondern vor allem auf diffuse und nicht präzise beschreibbare Eigenschaften und Ausdrucksformen».
«Denken: Mentale Prozesse sind unmittelbar ins praktische Handeln eingebunden. Sie sind solchermassen wahrnehmungs- und verhaltensnah. Sie erfolgen weniger in Begriffen und logisch schlussfolgernd, sondern in Bildern und Assoziationen. Konkrete Ereignisse und Abläufe werden ‹wie in einem Film› vergegenwärtigt. Dies bezieht sich auch auf akustische Vorgänge und Bewegungsabläufe. Assoziative Verknüpfungen entstehen dabei nicht beliebig, sondern ergeben sich aus ‹der Sache› und hiermit verbundenem