Einsiedlerkrebs. Patrick Budgen

Einsiedlerkrebs - Patrick Budgen


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ist ein gesunder Lebensstil wichtig«. Das sollte mir beides nicht so schwerfallen, vor allem zweiteres habe ich bereits vor meiner Krankheit täglich praktiziert. Den Hodgkin hat das leider nicht beeindruckt.

      SONNTAG, 23. FEBRUAR 2020

      Mein Laptop streikt. Vermutlich war ihm das, was ich ihm in den letzten Tagen gefüttert habe, ebenso zu viel wie mir. Auf einmal lässt er sich in meinem Zimmer im Krankenhaus nicht mehr einschalten, deshalb kann ich erst heute weiterschreiben. Eine kleine Pause von den Eindrücken und Erlebnissen der letzten Woche hat mir allerdings eh nicht geschadet. Nach einer Reihe von Infusionen durfte ich am Donnerstag das Spital verlassen. Die Ärzte haben mir gleich zwei gute Nachrichten nach Hause mitgegeben. Die Therapie dauert voraussichtlich »nur« bis Ende Mai, also gut zwei Monate kürzer, als ich zuerst gedacht habe. Ich bin mir dabei nicht ganz sicher, ob ich etwas falsch verstanden habe, oder die Ärzte die Therapie geändert haben. Und die noch viel bessere Nachricht: Schon nach den ersten paar Tagen sind die Entzündungswerte in meinem Blut massiv zurückgegangen. Als mir der Ober-Doc diese Nachricht überbringt, spüre ich zum ersten Mal so etwas wie Erleichterung. Wie aus dem Nichts heraus balle ich meine Hand zu einer Siegesfaust und stoße einen leisen Freudenschrei aus.

      »Das Blutbild ist wirklich schön. Es ist alles so, wie es sein soll«, sagt der Herr Primar und gibt meiner Freude damit neuerlichen Aufschwung. So, jetzt erst einmal nach Hause. Meine Mutter ist gekommen, um mich abzuholen. Mit meinem kleinen Koffer und allerhand Mitbringsel, die mir Freunde ins Spital gebracht haben, machen wir uns auf den Weg. Kurz wollte ich in den Arztbrief hineinlesen, doch die ersten Worte und medizinischen Fachausdrücke haben mich gleich von der Idee abkommen lassen. Es ist zwar nicht so, dass da irgendetwas Neues drinstehen würde, aber alles nochmal schwarz auf weiß zu lesen dreht mir kurz den Magen um.

      Zum Glück nur sprichwörtlich. Denn mein Appetit ist auch nach den Unmengen an Flüssigkeiten, die in den letzten Tagen durch meinen Körper geronnen sind, noch da. In der elterlichen Wohnung bekomme ich Palatschinken mit Marillenmarmelade. Eine herrliche Abwechslung zur Krankenhauskost. Kaum habe ich sie aufgegessen, überfällt mich eine Müdigkeit, die ich in diesem Ausmaß bisher kaum gekannt habe. Wie ein Kartoffelsack liege ich auf der weißen Eckbank und mir fallen die Augen zu. Auch als Alex kommt, um mich abzuholen, werde ich nicht munter und werde es an diesem Tag auch nicht mehr. Das Wochenende, so haben wir beschlossen, verbringen wir im Sommerhaus meiner Eltern in Pitten. Alex hat alles zusammengepackt und wir machen uns mit unserem Auto auf den Weg.

      Kaum verlassen wir die Stadtgrenze, macht sich in mir ein Gefühl der Freiheit breit. Irgendwie spüre ich, wie der Druck, die Angst und die Bilder der letzten Tage hinter mir bleiben. Ich mache die Augen zu und lasse mir von der Sonne in meinem Gesicht das Blut durch meine Lider rot aufleuchten. Die einstündige Autofahrt vergeht wie im Flug, das Wochenende leider nicht. So sehr ich mich auf die Entspannung und Erholung gefreut habe, so sehr will und will sie nicht einsetzen. Die Gedanken in meinem Kopf drehen sich im Kreis, ich merke, wie mein sonst sehr fitter und starker Körper durch die Behandlung geschwächt ist. So soll das jetzt die nächsten Wochen weitergehen? Wie soll ich das schaffen?

      Ich merke, wie sich Verzweiflung in mir breitmacht, die mir auch niemand in meiner Umgebung nehmen kann. Stundenlang liege ich auf der Couch oder im Bett und fühle mich wie ein überreifer Apfel, der nur noch mit einer Faser seines Stängels am Baum hängt und mit aller Kraft versucht, nicht auf den Boden zu fallen. Bisher gelingt es mir, auch durch das Schreiben dieses Tagesbuches.

      DIENSTAG, 25. FEBRUAR 2020

      Während der Karneval in Venedig wegen des Coronavirus (da war ja noch etwas, gefühlt allerdings noch ganz weit weg) abgesagt wurde, findet bei mir im Spitalszimmer eine Maskerade der etwas anderen Art statt. Es gibt sozusagen Chemo-Nachschlag in Runde eins. »Ende des ersten Zyklus« nennt sich das in der Medizinersprache. Nachdem mir zeitig in der Früh Blut abgenommen wurde und ich von Blutdruck bis Sauerstoffsättigung durchgecheckt wurde – das passiert von nun an vor jeder Behandlung – klopft es plötzlich an der Tür. Einer der Oberärzte öffnet sie, gefolgt von einer Entourage von Jungärztinnen und -ärzten sowie einer Krankenschwester. Sie alle sind maskiert. Allerdings nicht mit so kunstvollen, handgearbeiteten Masken wie in Venedig, sondern mit hellgrünen Spitals-Schutzmasken. »Wie wir es erwartet haben, ist die Anzahl Ihrer weißen Blutkörperchen durch die Therapie massiv gesunken. Deshalb müssen Sie ab sofort besonders vorsichtig sein. Das heißt, entweder Sie oder alle anderen müssen eine Maske tragen, um eine Ansteckung mit einem Virus oder einem Bakterium zu verhindern. Aber es läuft alles so, wie es sein soll.« Diesen letzten Satz höre ich fast nicht. Vielmehr manifestiert sich in mir der nächste Schock: Isolation. Maske. Immunsystem im Keller. Lauter Dinge, die ich vorher schon wusste, aber wie so oft in diesen Tagen: Wenn sie dann da sind, ist es noch einmal etwas anderes.

      An die hellbraune Türe meines Zimmers wird ein folierter Zettel mit der Aufschrift »Schutzisolierung« geklebt, davor ein kleiner Wagen mit allerhand Hygieneartikel geparkt. Denn ab sofort darf das Krankenhauspersonal sowie Besuch nur noch mit Maske und Handschuhen zu mir ins Zimmer kommen. Ich fühle mich wie ein Aussätziger. Doch eine meiner Lieblingskrankenschwestern beruhigt mich gleich: »Das hat nichts damit zu tun, dass du krank bist, sondern ist dafür da, dass du nicht krank wirst.« Aber immerhin: Meine Blutwerte sind gut genug, damit wir mit der nächsten Infusionsrunde starten können. Der Chemo-Nachschlag ist im Gegensatz zur ersten Ladung fast ein »Portiönchen«. Zwei kleine Infusionen à zehn Minuten rinnen in mich hinein, fertig. Unglaublich, wie schnell ich mich an diesen Vorgang gewöhne, obwohl ich mein Leben lang bisher keine einzige Infusion bekommen habe.

      Zur Sicherheit bleibe ich noch eine Nacht im Krankenhaus, um zu sehen, wie ich das Ganze vertrage. Zum Glück macht mein Körper ganz gut mit und so verbringe ich den Tag im Krankenhaus mit Herumgehen, Zeitunglesen und Fernschauen. Und egal wo ich hinschaue: Ohne Desinfektionsmittel und Schutzmaske komme ich nicht aus. Denn wie die Ironie des Schicksals es will, fällt meine Krankheit zeitlich genau mit dem Ausbruch des Coronavirus zusammen. Nie in meinem Leben habe ich mich mit Hygienemaßnahmen beschäftigt, jetzt tut es die ganze Welt. Wie geht richtiges Händewaschen? Welches Mittel tötet Bakterien und Viren ab? Soll man draußen eine Schutzmaske tragen? Wie gefährlich ist das neue Virus für Menschen? Auf letztere Frage gibt es immer eine Antwort: Vor allem Leute mit schwachem Immunsystem sollen aufpassen.

      Bis vor wenigen Wochen hätte ich nicht zu dieser Gruppe gehört, jetzt ist das anders. Es ist ein komisches Gefühl, plötzlich derjenige zu sein, für den so etwas wirklich gefährlich werden könnte und nicht immer nur über »die anderen« zu sprechen. Nach einer kurzen Nacht im Spital darf ich endlich nach Hause. Die erste Runde ist geschafft und ich darf zum ersten Mal seit zehn Tagen – seitdem der Port-a-Cath in meine Brust operiert wurde – wieder richtig und ausgiebig duschen. Ich glaube, es ist die beste Dusche meines Lebens.

      MITTWOCH, 26. FEBRUAR 2020

      Zwei gute Nachrichten habe ich vor all der Aufregung fast verschwiegen: Die Entzündungswerte in meinem Blut sind weiter zurückgegangen. Laut meinem sympathischen Ober-Doc kamen die ganz eindeutig vom Hodgkin, was bedeutet, dass der Chemie-Anschlag schon Wirkung zeigt. Und einer der geschwollenen Lymphknoten an meinem Hals ist bereits weg. Ich kann es eigentlich gar nicht glauben, doch sooft ich mit meinen Fingern auch taste und suche, er ist nicht mehr da. Es ist ein richtig gutes Gefühl, zu merken, dass diese körperlich anstrengende Tortur bereits nach einer Woche Wirkung zeigt.

      Apropos Wirkung: Die hat die Therapie auch auf meinen Appetit. Während ich mich die letzten Wochen eher zum Essen gezwungen habe und die Frage »Sag, hast du abgenommen?« auch schon gar nicht mehr hören konnte, schmeckt es mir plötzlich so richtig. Ob Schnitzel, Palatschinken, Paprikahendl oder einfach nur Schokolade, ich könnte essen ohne Pause. So oder so ähnlich muss sich das in einer Schwangerschaft anfühlen, denke ich mir oft. Aber nachdem die Ärzte davor gewarnt haben, dass ich keinesfalls Gewicht abnehmen soll und es beim Essen beinahe keine Einschränkungen für mich gibt, lange ich ordentlich zu. Und ich merke, wie mein Körper die Energie, die ich ihm zuführe, braucht. Übel ist mir zum Glück bisher kaum, trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Massen an Kalorien, die ich mir tagtäglich zuführe.

      SAMSTAG,


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