Bock auf Lernen (E-Book). Andreas Müller
beides hat sehr direkt damit zu tun, weshalb es nicht so funktioniert, wie es sollte. Denn der Motivationsfaktor »gute Noten« oder »guter Schulabschluss« korrumpiert das Lernen als Tätigkeit. Das heißt: Wenn man die guten Noten kriegen würde ohne das, was als »Lernen« bezeichnet wird, würde man es glattweg überspringen. Was heißt »würde«? Abschreiben, kopieren und einfügen, Dinge nur tun, wenn es Noten gibt, sind bereits gängige Formen dafür. Und damit umgeht man genau das, worum es eigentlich ginge: das Lernen nämlich.
Das hängt direkt damit zusammen, dass die meisten Beteiligten sich wenig bis keine Gedanken darüber machen, was »Lernen« überhaupt ist, wie es funktioniert, wer es wie beeinflussen kann. Was bei anderen Aktivitäten selbstverständlich ist, wird beim Lernen der Einfachheit halber ausgeblendet. Die als Lernen bezeichnete Aktivität in der Schule beschränkt sich auf die Ergebnisse. Nein, das ist eigentlich zu unpräzis. Es geht nicht in erster Linie um die Ergebnisse. Es ist die Beurteilung dieser Ergebnisse, um die sich (fast) alles dreht. Und die Verbindung mit dem Temporaladverb »später«. Das heißt: Die Motivation schöpft sich aus abstrakten Beurteilungen, die später einmal irgendwie nützlich sein sollen. Sagt man.
Damit wird das ganze Geschehen auf der Ebene des »Lernens« auf eine fatale Weise beziehungslos. Es geht sehr häufig um Dinge, die mit der Lebenswirklichkeit wenig zu tun haben, um flüchtige Wissensfetzen von geringer Halbwertzeit, die irgendwie fremd und unwirklich die Luft im Unterricht belasten und das Atmen erschweren.
Daraus entwickeln sich Unterrichtssituationen nach dem Muster verbaler Lückentexte. Die Aufgabe der Lernenden beschränkt sich darauf, erraten zu können, was der Lehrer hören oder sehen will, um stante pede eine Antwort aus dem Hut zaubern zu können, wenn man gefragt wird. Das ist denn auch eine der schulischen Kernkompetenzen: sich in den schulischen Abfrageritualen clever zu verhalten und nicht in die Fallen zu tappen.
Um diesem Anforderungsprofil an schulisches »Lernen« gerecht zu werden, haben die Schüler eine Menge Strategien entwickelt, die sich unter dem Sammelbegriff »So-tun-als-ob« zusammenfassen lassen. Interesse heucheln, das passt zum Beispiel gut ins Kalkül, am besten nonverbal, damit man sich nicht zu sehr aufs Glatteis begeben muss. Mit einem interessierten Blick kommt man schon ziemlich weit. Und was sich auch immer sehr bewährt: so aussehen, als würde man nachdenken. Als besonders hilfreich hat sich erwiesen, die Augenbrauen leicht anzuheben, die Stirn leicht in Falten zu werfen und vielleicht den Kopf auf die Finger der linken Hand leicht aufzustützen. Das Schlüsselwort heißt: leicht. Nicht übertreiben, das ist wichtig. Sonst besteht die Gefahr, von einer hilfsbereiten Lehrerseele angesprochen zu werden. Und genau das gilt es ja tunlichst zu vermeiden.
Flucht vor dem Schreckgespenst: In die Schule geht man gerne – wenn das Lernen nicht wäre
So entwickelt sich schulisches Lernen mit zunehmender Schuldauer zu einer Art Vermeidungsverhalten, zu einem Optimierungsprozess, bei dem es gilt, Kontakte mit den Themen und Inhalten auf ein Minimum zu beschränken, so als seien sie kontaminiert.
Das verbindet sich auf unheilvolle Weise mit der Vorstellung, Lernen sei eine temporäre Aktivität. Hirnschalter auf ON: »Ich lerne jetzt«. Hirnschalter OFF: »Fertig gelernt.« Da manifestiert sich ein Verständnis von Lernen, das an Schlichtheit kaum zu überbieten ist. Eigentlich logisch deshalb, dass dabei Sinn und Spaß nachhaltig auf der Strecke bleiben.
Nein: Für jetzt!
Wenn Schüler wirklich in die Schule gehen sollen, um zu lernen, dann müssen zwei Dinge passieren: Sie müssen erstens verstehen, was das ist, was sie tun sollen. Und sie müssen zweitens die Erfahrung machen, dass es ihnen gut tut. Also, was ist es, das Lernen? Lernen ist etwas, das sich pausenlos vollzieht. Das Gehirn lernt immer. Es kann nicht anders. Nichtlernen geht nicht.Lernen manifestiert sich darin, dass man nachher etwas weiß oder kann, was man vorher nicht gewusst oder gekonnt hat. Und das fühlt sich ja schon mal gut an. Auch und gerade deshalb, weil Lernen an eigene Leistungen und Aktivitäten gebunden ist. Der Mensch kann nur selber lernen. Lernen lassen geht nicht.
Deshalb ist es natürlich gut, wenn das, was getan wird, in hohem Maße auf die eigenen Ziele abgestimmt ist – oder umgekehrt. Und: Wenn sich in irgendeiner Weise die Freude am Tun mit einer nachhaltigen Entwicklung verbindet. Wenn es also spürbar etwas bringt, wenn Aufwand und Nutzen aus der Innenperspektive in einem gutem Verhältnis zueinander stehen.
One size fits not all: Weder bei Kleidung noch beim Lernen ist der Durchschnitt das Maß der Dinge
Zwar geschieht Lernen jederzeit und überall. Aber: In jedem Menschen anders, ganz einfach deshalb, weil jeder Mensch anders ist. Und: Lernen ist ein wechselwirksamer Prozess zwischen dem, was in einem Menschen »drin« ist und dem, was durch die Umwelt an ihn herangetragen wird. Er macht Erfahrungen und die Erfahrungen machen ihn.
Vieles passiert zwar einfach so. Das Gehirn bildet sich Muster und Zusammenhänge mit den Informationen, die nicht schon auf dem Weg zu den grauen Hirnzellen auf der Strecke bleiben. Und das ist das Schicksal der allermeisten Informationen. Das ist die schlechte Nachricht. Es gibt aber auch eine gute: Was vom Gehirn verarbeitet wird und wie das geschieht, das ist immerhin zu einem Teil beeinflussbar. Durch die eigene Aktivität. Denn Menschen lernen, was sie tun. Und klar: Je besser man weiß, wie man sein Lernen beeinflussen kann, desto wahrscheinlicher ist der entsprechende Erfolg.
Apropos Erfolg: Erfolgserfahrungen bilden die Scharnierstellen im Lernprozess. Lernen ist, wie alles, was Menschen unternehmen, abhängig vom gefühlten Erfolg. Niemand ist gerne ein Loser. Es braucht das Erleben von Kompetenz (als Folge eigener Leistungen etwas geschafft zu haben), damit sich Selbstwirksamkeit einstellt. Dabei reicht es nicht, wie ein blindes Huhn einmal ein Korn zu finden. Lernen muss in der Wahrnehmung der Lernenden immer und immer wieder zur Erkenntnis führen: Es geht! Das ist wie eine Spirale: Ein Erfolg führt zum nächsten. Denn sonst läuft die ganze Sache in die umgekehrte Richtung.
Erfolgserfahrungen und der sich damit entwickelnde Glaube an die eigenen Fähigkeiten gehören zu den Voraussetzungen, damit Menschen Widerstandsressourcen aktivieren. Und genau das brauchen sie beim schulischen Lernen. Denn Lernen ist prinzipiell widerständig. Noch kann man den Kopf nicht einfach an die Lernsteckdose anschließen und dann flutscht es quasi von alleine. Noch – und wahrscheinlich noch lange – ist Lernen gebunden an eigene Aktivitäten. Der Lernerfolg entwickelt sich in Abhängigkeit zum Gefühl, der Sache gewachsen zu sein. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, positive Bezüge herstellen zu können zu dem, was man tut und wie man es tut.
Erfolgserfahrungen lassen sich unter dem Stichwort »positive Bezüge« subsummieren. Aber auch das Gefühl dazuzugehören, ge- und beachteter Teil einer Gemeinschaft zu sein. Soziale Eingebundenheit nennt sich das in der Fachsprache. Das verlangt nach Kooperation, nach Kooperation als durchgängigem Prinzip. Es reicht nicht, ab und zu eine Gruppenaufgabe zu inszenieren. Denn ohne eine Kultur des Miteinander- und Voneinander-Lernens schaut da ohnehin meist wenig raus. Eingebundenheit, das ist keine neumodische Methodenkarte aus der didaktischen Trickkiste. Da steckt deutlich mehr dahinter. Da geht es letztlich ums Verständnis von Lernen. Denn klar: Wenn die Hauptbotschaft heißt »Ihr sollt nicht miteinander schwatzen!«, dann manifestiert sich in dieser Botschaft eine Haltung, eine Einstellung, eine Vorstellung, wie das zu geschehen hat, was als Lernen bezeichnet wird. Es ist das Konzept des Einzelkämpfers auf der einsamen Unterrichtsinsel. Aber schulisches Lernen braucht den gedanklichen ebenso wie den emotionalen Austausch, braucht die Interaktion, braucht soziale Beziehungen. Das verleiht Sicherheit – zum Beispiel die Sicherheit, Fehler machen zu dürfen und nicht gleich alles wissen zu müssen. Oder so zu tun als ob. Sich in einer Gemeinschaft vorzufinden, wo es cool ist, im Nichtwissen und in den Fehlern Chancen zu erkennen. Und sie zu nutzen.
Es ist dieses selbstverständliche und sich aus den Bedürfnissen heraus ergebende Wechselspiel von kooperativer Verpflichtung und