Kalte Sonne. Johannes Epple

Kalte Sonne - Johannes Epple


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gewesen bin.«

      »Schon gut«, antwortete er. »Ich melde mich. Ich habe noch andere Fragen.«

      Kurz vor zwei Uhr besuchte Manuel die Mensa im AKH, in der er schon während seines Studiums gegessen hatte. Während er auf die Suppe wartete, rief er jene Freunde und Verwandten an, die morgens nicht abgehoben hatten. Niemand konnte ihm helfen. Die meisten reagierten überrascht, als er ihnen seine Situation erklärte. Er aus der Türkei zurück? Hanna verschwunden? Seine Tochter schon geboren? Wie bitte? Am Ende stocherte er in einem Gulasch und beobachtete das Krankenhauspersonal, das sich vor der Essensausgabe zu einer Schlange aufgefädelt hatte.

      Er verließ das AKH durch einen Nebenausgang. Über die Lazarettgasse erreichte er die Sensengasse und die Währinger Straße, der er bis zum Schottentor folgte. Von dort ging er zu Fuß zum Volkstheater und nahm die Straßenbahn in den siebten Bezirk. In der Neustiftgasse ging er zum Haus mit der Nummer 34, in dem ihm eine kleine Wohnung gehörte, die er von seinem Vater geerbt hatte. Er arbeitete dort an Vorträgen oder Arbeitsberichten. Als Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen bezog er ein lausiges Gehalt. Da seine Österreichaufenthalte nie länger als drei oder vier Monate dauerten, und er deswegen keine reguläre Stelle in einem Krankenhaus annehmen konnte, finanzierte er seine Heimaturlaube mit Vorträgen bei Pharma-Kongressen oder Reportagen, zuletzt von der Grenze zwischen Türkei und Syrien.

      Im Postfach waren Werbebroschüren von Pharmaunternehmen, mit denen er zusammenarbeitete. Pfizer, Ratiopharm, Regeneratio, Bayer. Ohne sie durchzusehen suchte er nach einem Brief oder einer Karte von Hanna. Vielleicht hatte sie ihm hier eine Nachricht hinterlassen. Aber nichts. Nur Altpapier. Manuel warf die Unterlagen in den Container und ging hinauf in den ersten Stock. Vielleicht hatte sie ein Kärtchen unter der Tür durchgeschoben.

      Ein fauliger Geruch stieg ihm in die Nase, als er die Wohnung betrat. Offenbar hatte er bei seinem letzten Besuch den Müll vergessen. Zwei Weinflaschen und ein schwarzer Plastiksack mit Essensresten lehnten an der Toilettentür. Dort mussten sie schon seit zwanzig Monaten liegen.

      Bei seinem letzten Besuch in der Wohnung hatte er eine junge Tirolerin dabei gehabt. Eine Nachwuchsjournalistin, die irgendwas mit Medien studierte und ein Praktikum bei einem Wiener Hipstermagazin absolvierte. Manuel hatte schnell mitbekommen, dass bei der Journalistin seine Credits »Krieg«, »Arzt« und »Dritte Welt« hoch im Kurs standen. Auf das Interview folgten ein Essen, dann eine Nacht und dann eine Coverstory. Alle Beteiligten waren zufrieden gewesen.

      Manuel sah sich um. Kein Kuvert, kein zusammengefalteter Zettel. Vielleicht hatte Hanna von einem seiner kleinen Auswärtsmatches erfahren, und ihr Verschwinden war die Folge davon, dachte er, während er den Müll vor die Tür stellte und ein Fenster öffnete, um den fauligen Geruch aus der Wohnung zu bekommen. Manuel lächelte zögerlich. Schon der Gedanke kam ihm abwegig vor. Es war einfach nicht Hannas Art, beleidigt zu sein und zu verschwinden. Außerdem glaubte Manuel nicht, dass sie sich neben ihrer Arbeit mit profanen Fragen wie der Treue ihres Partners auseinandersetzte. Tief in seinem Inneren wusste er, dass für Hanna zuerst die Medizin kam, dann lange nichts, dann er und dann der Rest der Welt. Alles in allem eine Konstellation, die er durchaus zu schätzen wusste.

      Mit hochgezogenem Kragen ging er in die Innenstadt. Am Donaukanal beobachtete er zwei Skateboarder bei ihren halsbrecherischen Tricks. Am Schwedenplatz kaufte er sich einen Ayran. Auf der anderen Seite des Kanals blitzten die Hochhäuser im Mittagslicht. Weiter oben auf Höhe der Urania knatterte ein Presslufthammer in einer Baugrube.

      Er war lange weg gewesen. Knapp zwei Jahre. Seine Heimaturlaube hatten nie länger als vier Monate gedauert. Wenn er dann mal ein paar Tage Zeit für Hanna gehabt hatte, hatte sie sich freigenommen, und sie waren auf den Semmering oder nach Kärnten gefahren. Ein paar Tage. Wandern, baden. Die Abende verbrachte er vor seinem Notebook. »Unsere Beziehung ist fiktiv«, hatte Hanna einmal zu ihm gesagt und keine Ahnung gehabt, wie recht sie damit hatte.

      Unsere Beziehung ist fiktiv, sagte er jetzt zu sich und leerte den Ayran. Eine Einbildung, nichts weiter. Natürlich war ihm bewusst, dass Hanna während der vergangenen Monate mehr von ihm erwartet hatte. Jeden zweiten Tag ein Dreizeiler per Mail machte ihn nicht zum Vater des Monats. Er konnte selbst nicht sagen, warum er nicht mehr Engagement gezeigt hatte. Er hatte sich ehrlich gefreut. Auf das Mädchen. Auf Hanna. Aber sie waren beide fiktiv, dachte er. Wie Einbildungen. Real war das Lager. Die Verletzten. Die Operationen nachts um drei, wenn Söldner einen zerschossenen Kämpfer brachten. Was hätte er tun sollen? Seine Sachen packen? Einfach abhauen und alles liegen lassen, was er sich in den vergangenen Jahren aufgebaut hatte? Alles, was real war? Blutig und real?

      Gegen vier Uhr fuhr er zurück zum AKH. Er setzte sich in den Krankenhauspark und wartete auf Bergmann. Irgendwann musste sie das Gebäude verlassen. Er heftete seinen Blick auf den Eingang und betrachtete die unzähligen Menschen, die aus dem Krankenhaus strömten. Nach einer halben Stunde war es so weit. Bergmann trat durch die Schiebetür. Sie trug einen olivgrünen Regenmantel. Ein schwarzer Rucksack klemmte unter ihrem Oberarm. Am Weg zum Personal-Parkplatz sah sie konzentriert auf ihr Mobiltelefon. Manuel folgte ihr unauffällig. Als sie den Parkplatz erreichte, machte er drei schnelle Schritte. »Sylvia«, rief er. »Ich hatte da noch einige …«

      Bergmann wirbelte herum und ließ den Rucksack fallen. Manuel wollte ihn aufheben, doch die Pharmakologin drängte ihn zur Seite. »Was willst du noch von mir? Ich habe dir alles gesagt.«

      »Was ist mit Hannas Forschungsprojekten? Die muss sie von daheim aus weiter betreut haben.«

      »Hör doch auf. Hanna hat …«

      »Was hat Hanna?« Manuel merkte, dass er eine Grimasse zog. Sein Gesicht fühlte sich ganz heiß an. »Rede mit mir. Was geht hier vor?«

      Bergmann umschloss den Rucksack mit beiden Händen. »Ich habe keine Zeit«, sagte sie. Sie machte kehrt und lief in einem weiten Bogen zurück zum Krankenhaus.

      Im ersten Moment war Manuel verblüfft. Dann eilte er ihr nach. Bergmann war seine einzige Spur. Er musste an ihr dranbleiben. Er sah, wie sie im Trakt B verschwand. Seine militärischen Ausbildungseinheiten kamen ihm zugute. Schnell machte er Boden gut. Er war nur noch zehn Meter hinter ihr, als sie über eine Rolltreppe zu den Neuroambulanzen hinauflief. »Sylvia … sei doch nicht kindisch«, rief er ihr hinterher, aber die Pharmakologin reagierte nicht.

      Oben bei den Ambulanzen stellten sich ihm drei Jungärzte in den Weg. Den ersten stieß er einfach mit der Schulter zur Seite, den beiden anderen wich er mit einer gekonnten Körpertäuschung aus. Dann lief er weiter die Ambulanz entlang, durch mehrere leerstehende Behandlungskojen bis zum Gipszimmer, wo er eine offenstehende Tür entdeckte. Von innen verschloss er die Tür und sah sich um. Er war allein. Leere Gipshüllen ragten aus einem Mülleimer. Es roch nach Desinfektionsmittel und dem ausgetrockneten Kleber für die Hartbandagen. Auf der anderen Seite des Raumes fand er einen Durchgang, vor dem ein Tuch hing. Vorsichtig zog er es zur Seite und betrat ein Zimmer mit drei Computern und mehreren Röntgenbildern an den Lichtwänden.

      Sylvia stand vor dem offenen Fenster und blickte über den angrenzenden achtzehnten Bezirk. Der Wind fuhr durch ihre kurzen, braunen Haare. Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn.

      Hinter ihm knackte das Schloss und die Jungärzte, die er eben überrannt hatte, betraten das Röntgenzimmer. »Hilf mir, Sylvia«, sagte er. »Ich bin heute aus der Türkei zurückgekehrt. Ich bin müde und ich habe keine Ahnung, was mit Hanna und mit meiner Tochter geschehen ist.«

      Bergmann lachte theatralisch. Sie starrte nach draußen, als würde Manuel für sie nicht existieren.

      Die Ärzte gingen auf ihn zu.

      »Komm schon …«, sagte er.

      Bergmann wandte den Kopf. In ihren Augen blitzte etwas auf, das Manuel nur als Hass auffassen konnte. Er blinzelte unwillkürlich. »Es ist deine Schuld«, schrie sie. »Du bist das Problem.«

      »Was?« Manuel machte einen Schritt zurück. »Was redest du da?«

      Bevor er weitersprechen konnte, stürzten sich die drei Ärzte auf ihn. Einer stieß ihn zu Boden, einer sprang auf seinen Rücken, der dritte umklammerte seine Beine. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen. Mit aller Kraft stemmte


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