Kalte Sonne. Johannes Epple

Kalte Sonne - Johannes Epple


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Name war einfach, aber er erzeugte Bilder eines Alltags, der Hanna an ihre eigene Kindheit erinnerte. Butterbrote, Buntstifte, Hausübungsgutscheine. Geburtstagspartys, Faschingskostüme, Wasserfarbenspritzer. Hannas Vergangenheit und Lisas Zukunft.

      »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Brandner.

      Hanna trat an das Gitterbett heran. Der Kopf des Jungen war mit weißem Mullverband verbunden und der Körper war in eine weiße Decke gepackt. Nur das Gesicht lag offen da. Die Haut war rot und an den Wangen von dicken, violetten Adern durchzogen. Die Oberlippe war bis zur Nase gespalten. Die Augen waren geschlossen. Hanna sah, dass sie sich nie öffnen würden. »Er wird sterben«, sagte sie und setzte sich auf einen Hocker neben dem Gitterbett.

      Brandner nickte.

      »Welche Chromosomenstörung ist es? 13 oder 18?«

      »Das klären wir gerade.«

      Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Kleine keinen Ton von sich gab. Inmitten des Geschreis der Frühgeborenen war ihr Sohn vollkommen still. Er wirkte, als sei er noch gar nicht auf der Welt angekommen. Die anderen Kinder kreischten, bis sie rot anliefen und beinahe an ihrer Angst oder ihrem Schmerz erstickten. Ihr Sohn lag einfach da. Blind. Kraftlos. Mit einem Turban aus tausendundeiner Nacht.

      Brandners Pieper ertönte. »Wir reden am Abend«, sagte er. Ehe er ging, drehte er sich noch einmal um. »Der Kleine wird viel Fürsorge brauchen.«

      Hanna sah auf. »Fürsorge? Er braucht Infusionen. Er braucht künstliche Ernährung. Er braucht ein Beatmungsgerät. Das nennst du Fürsorge?«

      Hanna blieb noch eine Stunde bei ihrem Sohn. Seine Hand war feucht und weich wie Plastilin. Sie blickte abwechselnd vom Gesicht des Kleinen zum Monitor, der seinen Pulsschlag aufzeichnete. Er braucht einen Namen, dachte sie. Ihr fiel ein mittelalterlicher König ein, der für seine geringe Körpergröße in ganz Europa bekannt war. Pippin, sagte sie zu sich selbst. Einen passenderen Namen konnte sie sich nicht vorstellen.

      Zu Mittag bat sie Marija, sich bei der kleinsten Veränderung von Pippins Gesundheitszustand bei ihr zu melden. Egal, was von nun an mit dem Jungen geschah, Hanna wollte dabei sein. Das Schlimmste von allem war die Warterei auf der Station gewesen.

      Während sie zum Lift ging, fragte sie sich, ob sie Manuel anrufen sollte. Was sollte sie ihm sagen? Wie würde er reagieren? Hanna vermutete, dass er sehr liebevoll sein würde. Er würde sie trösten. Die Vorstellung, dass sie getröstet werden musste, verursachte ein unangenehmes Gefühl in ihrer Magengegend.

      In der Station verteilten die Pfleger die Tabletts mit dem Mittagessen. Hanna setzte sich mit einem vegetarischen Menü auf den Balkon. Die Sonne stand hoch am Himmel. Die Tannen im Park warfen kaum Schatten. Hanna kostete ihre Ravioli mit Gorgonzolasauce und verzog das Gesicht. Die Nudeln waren weich und schmeckten nach gekochten Styroporplatten. Nach einem zweiten Bissen legte Hanna das Besteck weg und betrachtete die Tannen. Alles war ihr gleichgültig. Die Schmerzen. Der Durst. Die Sonne. Manuel. Nichts hatte Bedeutung. Die Bilder, die Gedanken, die Wünsche, die Hoffnungen, die Hanna in den vergangenen Tagen und Wochen begleitet hatten, waren weg. Sie fühlte sich leer. Sie empfand nicht einmal Schmerz über Pippins Zustand oder Zuneigung zu ihm, es war eher eine Art ungläubige Verwunderung.

      Das ist mein Kind?

      Das wird meine Zukunft sein?

      Hanna wunderte sich. Über die Tannen, die Sonne, die Autos am Parkplatz. Sie wunderte sich, dass die Welt mit der gleichen unerbittlichen Folgerichtigkeit ihrer Zukunft entgegenstrebte. Ein wahnsinniger, irrer Flug ohne Zwischenstopp, ohne Ziel, mit Passagieren, die starr nach vorne blicken.

      Nachdem der Pfleger das Tablett mit ihrem kaum angerührten Mittagessen abgeholt hatte, kontrollierte sie ihre E-Mails. Sie hatte eine Nachricht von Manuels Eltern und eine von Sylvia Bergmann erhalten. Manuels Eltern wussten nichts von der verfrühten Geburt. Sie erkundigten sich nach ihrem Befinden. Bei Sylvia lagen die Dinge komplizierter. Während Hanna am Vortag auf die Rettung gewartet hatte, hatte sie per SMS einen Vortrag und einen Besprechungstermin im AKH abgesagt. Sylvia wusste also von der Geburt. Ihre Mail klang entsprechend aufgeregt. Glückwünsche, Emojis, ein Foto von der Labormannschaft.

      Hanna strich sich eine Strähne aus der Stirn. Das Letzte, was sie jetzt wollte, war ein Besuch ihrer Arbeitskollegen. Sie hatte keine Ahnung, was sie in die Mail an Sylvia schreiben sollte. Am liebsten wäre ihr: Lass mich. Aber das würde Sylvia nur neugierig machen.

      »Geht’s Ihnen gut?«

      Hanna fuhr herum.

      Marija. Sie hatte die Ärmel ihres blassblauen Schwesternkleides hochgekrempelt. Das Tattoo an ihrem Handgelenk zeigte eine blaue Rose. »Ich habe etwas für Sie«, sagte sie mit weicher Stimme und gab ihr einen Folder des Kriseninterventionszentrums für Eltern von behinderten Kindern.

      Hanna blätterte darin. Sie empfand die darin zelebrierte Kopf-hoch-Haltung als entwürdigend.

      »Im dritten Stock finden Sie Frau Dr. Bayer«, sagte Marija. »Sie ist Psychologin. Die Dienstzeiten stehen auf der Rückseite. Reden Sie mit ihr. Es wird Ihnen guttun.«

      Psychologie? Hanna hatte eine Abneigung gegen dieses Fach. Es war eine halbe Geisteswissenschaft, ein Hort von schiefen Wahrheiten und kruden Thesen. Schon an der Uni hatte Hanna die Psychologiestudenten belächelt. Meist waren es junge Frauen gewesen, halbe Mädchen, die schon einen ausgeprägten Mutterinstinkt zu haben schienen und bei jedem noch so großen Unsinn, den jemand von sich gab, verständnisvoll nickten.

      Hanna brauchte kein Verständnis. Sie hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen. Sie hatte Pech gehabt. Das war alles.

      Nachdem Marija mit einem fürsorglichen Lächeln im Gesicht wieder abgezogen war, überlegte Hanna, was sie Sylvia schreiben sollte. Dabei betrachtete sie den Folder. Die erste Seite zeigte ein Kind mit Trisomie 21. Hanna betrachtete das runde Gesicht mit den schmalen Lippen und den charakteristisch geschwungenen Augen. Pippin würde wohl nie so gesund aussehen. Wenn er tatsächlich Trisomie 13 oder 18 hatte, würde er nicht älter als ein oder zwei Jahre werden.

      Hanna starrte auf ihr Handy. Draußen am Gang hörte sie Kindergeschrei. Eine Frau mit Blumen trat aus dem Lift. Ein Pfleger brachte ihr frischen Früchtetee. »Alles ist gut«, schrieb sie. »Alles ist so, wie es sein soll. LG, H.«3

      Anfang August, 2015

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      Das Nachmittagslicht gab den Dingen eine sanfte Aura. Es nieselte, der Gehsteig war nass. Es roch nach verdampfendem Wasser und feuchtem Gras. Ich ging die Alser Straße hoch zum Gürtel und nahm die U6 zur Burggasse. In der Station kaufte ich ein Falafel-Sandwich und einen Ayran. Ich aß auf meinem Innenhofbalkon, startete mein Notebook und lud die Fotos von der Kleinen aus dem Kinderdorf hoch. Ein 14 Monate altes Mädchen, die Haare braun und noch etwas dünn, die Augen groß und blau.

      Ich kontrollierte meine Mails und schrieb Tereza, der Pflegerin meiner Mutter, dass ich heute noch nach München fahren würde, um bei ihrem morgigen Umzug ins Pflegeheim dabei zu sein. Meine Mutter war fast achtzig und wurde langsam senil. Vergangene Woche hatte sie vom Supermarkt, in den sie seit zwanzig Jahren ging, nicht mehr heimgefunden. Da ich nach meinem Medizinstudium gleich die Stelle im Wiener Donauspital bekommen hatte und selten nach München kam, war sie die meiste Zeit auf sich gestellt. Seit drei Jahren kümmerte sich Tereza um das Nötigste, aber die war allmählich auch überfordert.

      Die Fahrt nach München dauerte länger als sonst. In Salzburg geriet ich in den Abendverkehr. Erst bei Freilassing löste sich der Stau auf. Kurz nach acht Uhr bog ich in die Wohnsiedlung in Ottobrunn ein. Meine Mutter lebte gegenüber einem Fußballplatz in einem zweistöckigen Haus mit einem drei Meter breiten Grasstreifen als Garten und freiem Blick in das Badezimmer des Nachbarn. Seit dem Tod meines Vaters hatte die Pflege des Gartens stark gelitten. Die Hainbuchenhecken mussten längst geschnitten werden und der Kirschbaum war verwildert.

      Im Haus stieg mir ein altbekannter Geruch in die Nase. Mein Vater war Imker gewesen, und zu seiner Arbeit hatte auch das Ausschmelzen der Bienenwaben gehört. Er erledigte diese Säuberungsaktionen


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