Kalte Sonne. Johannes Epple

Kalte Sonne - Johannes Epple


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      Nichts, und ich meine absolut nichts, roch erbärmlicher als ausgeschmolzene Waben. Als Kind empfand ich den Geruch als ein olfaktorisches Inferno, für das ich mich vor meinen Schulfreunden schämte. Heute wurde ich rührselig, als ich im Vorraum meine Wildlederschuhe abstreifte und diesen Gestank in der Nase hatte. Es hatte wohl etwas mit Nostalgie und meinem schlechten Gewissen gegenüber meiner Mutter zu tun.

      »Ich bin’s, Georg«, rief ich, als ich ins Wohnzimmer trat.

      Meine Mutter sah sich eine Sendung über die Naturwunder Amerikas im Bayrischen Rundfunk an. Da sie auf meine Begrüßung nicht reagierte, rutschte ich neben ihr auf die Couch und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Mit leeren Augen starrte sie mich an. »Ich bin’s, Georg«, wiederholte ich.

      Tereza tauchte in der Küchentür auf und schüttelte den Kopf. »Tagsüber war es gut«, sagte sie. »Wir waren in der Stadt beim Friseur, nicht wahr, Frau Neumann?«

      Statt einer Antwort gab meine Mutter ein tiefes Gurgeln von sich. Mit halb offenem Mund starrte sie in eine Dimension jenseits von Raum und Zeit.

      »Georg?« Sie sah zwischen Tereza und mir hin und her.

      Tereza holte eine Tasse heiße Milch aus der Küche. »Schauen Sie, was ich hier habe«, sagte sie.

      Meine Mutter lächelte wie ein fünfjähriges Mädchen vor dem Weihnachtsbaum.

      Ich bat Tereza in die Küche. Ich war schockiert über den Zustand meiner Mutter. Bei meinem jüngsten Besuch hatte sie noch viel klarer gewirkt.

      »Sie ist aufgeregt wegen Ihres Besuches. Es ist nicht immer so schlimm«, sagte Tereza.

      Ich holte mir aus dem Kühlschrank ein kleines Bier und schnippte die Krone in den Mülleimer. »Ist sie noch zu einem normalen Gespräch fähig?«

      »Kommt drauf an, was Sie darunter verstehen.«

      »Ich habe Fragen.«

      »Vielleicht morgen«, sagte Tereza.

      Ich sah zum Küchenfenster hinaus. Im Nachbargarten schraubten zwei Burschen mit umgedrehten Baseballkappen an einem Quad. Im Hintergrund lief deutscher Hiphop. »Ich habe ein Foto von Helene«, sagte ich. »Ich will ihr damit eine Freude machen. Soll ich es ihr jetzt zeigen?«

      »Schön, dass die Kleine wieder da ist. Der Stress nach der Entführung aus dem Krankenhaus hat Ihre Mutter schwer belastet.«

      »Da meine Mutter nicht mehr dazu fähig ist, hat mich die Polizei ersucht, die Vormundschaft für Helene zu übernehmen.«

      »Und?«

      »Ich habe abgelehnt.«

      Tereza kniff die Augen zusammen.

      »Ich bin 46 Jahre alt. Ich lebe alleine und habe einen fordernden Beruf.«

      Tereza verschränkte die Arme vor der Brust.

      »Wo ist überhaupt der Vater?«, fragte ich. »Ist es nicht klüger, den Vater zu suchen, damit er Verantwortung für seine Tochter übernimmt?«

      Tereza nickte. »Wenn Sie Ihrer Mutter das Foto zeigen wollen, machen Sie es jetzt. Sie wird sicher bald müde werden.«

      Ich trank einen Schluck Bier und holte mein Notebook aus dem Wagen. Als ich zurückkam, blieb ich in der Wohnzimmertür stehen. Die Szene, die sich mir bot, war grotesk. Meine Mutter kniete vor dem Couchtisch, mit dem Gesicht in der Popcornschale, und schaffte es dabei auch noch, laut zu schnarchen. Scheinbar wirkte die Honigmilch auf sie wie ein starkes Sedativ. Tereza versuchte, sie hochzustemmen. »Normalerweise schläft sie um sieben Uhr abends. Routinen sind für sie wichtig. Mit Aufregung wie über Ihren Besuch kann sie schwer umgehen.«

      Ich legte mein Notebook auf den Couchtisch und half Tereza, den schlafenden Körper auf die Couch zu heben. Dann zeigte mir Teresa die Untersuchungsergebnisse der vergangenen zwei Wochen und die Medikamente, die meine Mutter täglich nahm.

      Während der Fahrt von Wien hierher war ich so auf das Foto von Helene konzentriert gewesen, dass ich mich nicht auf das Verhalten meiner Mutter vorbereitet hatte. Seit Weihnachten hatte ich sie nicht mehr gesehen. Das war fast vier Monate her.

      Ich wusste nicht mehr genau, wann ich das Interesse an meiner Mutter verloren hatte. Seit über zehn Jahren lebte ich in Wien und arbeitete als Herz-Thorax-Chirurg im Donauspital. Dazu gehörte eine Sechzig-Stunden-Woche inklusive Wochenend- und Bereitschaftsdiensten. Zwischendurch hatte ich Beziehungen, wovon keine länger als ein Jahr gehalten hatte. Hätte mich meine Mutter nicht jede Woche angerufen, hätten wir uns ganz aus den Augen verloren. Wenn sie anrief, immer sonntags um 18 Uhr, war es stets dasselbe. Wie geht es dir? Was macht der Beruf? Wie ist das Wetter in Wien? Und ganz schlimm: Hast du Kleider für den Winter? Es wird kalt.

      Beim Blick auf die schnarchende, mit Medikamenten vollgepumpte Frau wurde mir klar, dass Anrufe dieser Art wohl bald ausbleiben würden. Traurigkeit ergriff mich, eine Sehnsucht nach unserer Sonntagsroutine, nach Fragen, deren Sinn es war, eine Verbindung zwischen zwei einander fremd gewordenen Menschen herzustellen.

      Gemeinsam mit Tereza trug ich meine Mutter in den ersten Stock. Alles war wie früher. Die dunkle Holzvertäfelung an der Decke machte das Schlafzimmer bedrohlich. Tereza und ich hievten meine Mutter ins Bett und zogen ihr den Bademantel aus. Sie öffnete die Augen und sah mich an. »Ich weiß schon, wer du bist«, sagte sie.

      Es war ein eigenartiges Gefühl, die Nacht in meinem alten Zimmer zu verbringen. An den Wänden hingen Poster von Fußballern aus den 90er-Jahren. Im Schreibtisch fand ich Klassenfotos aus der Realschulzeit und leere CD-Hüllen. Tote Hosen, Bad Religion, H-Blocks. Dazwischen hingen Hiphop-Poster, die meine Halbschwester Miriam aufgehängt hatte. Nachdem ich Ende 1990 nach Wien gegangen war, hatte Miriam das Zimmer bewohnt. Miriam und ich hatten eine eher schwierige Beziehung. Wir hatten kaum Kontakt zueinander. Ich war der große Bruder und sie die Nachzüglerin. Ihre Existenz erinnerte mich immer an den frühen Herztod meines Vaters. Ich war damals erst 17 gewesen, und meine Mutter hatte kurz danach eine Liaison mit einem IT-Spezialisten gehabt, der zunächst nach Irland und von dort nach Cambridge gegangen war und sich weder bei meiner Mutter noch bei seiner Tochter Miriam je wieder gemeldet hatte.

      Die Erinnerungen an meine Jugend hielten mich wach. Ich starrte an die Decke und lauschte den Regentropfen, die gegen das Fenster prallten. Um zwei und um vier Uhr morgens schrie meine Mutter und ich hörte Tereza durchs Haus eilen. Ich war froh, dass sie mich nicht um Hilfe bat.

      Um sechs Uhr läutete mein Wecker. Beim Frühstück las ich am Handy ein paar Artikel. Um sieben Uhr stand die Sonne über den Dächern der Nachbarhäuser. »Wir müssen um neun im Altenheim sein«, sagte Tereza, die aufgeweckt wirkte, als hätte sie die ganze Nacht durchgeschlafen.

      Im Zimmer meiner Mutter waren die Jalousien heruntergelassen. Am Nachtkästchen blinkte das rote Lämpchen des Notfallpiepsers, mit dem meine Mutter Tereza zu sich rufen konnte. Ein süßlicher Uringeruch hing in der Luft.

      Tereza schaltete das Licht an und klatschte in die Hände. »Guten Morgen«, sagte sie. »Heute ist Ihr großer Tag.«

      Meine Mutter gähnte. Meine Anwesenheit verwirrte sie offenbar. Sie griff nach Terezas Hand und zeigte auf mich.

      »Er ist gestern gekommen«, sagte Tereza.

      Wir machten sie zu zweit für den Tag fertig. Tereza kämmte ihre Haare, steckte sie in einen dunkelbraunen Hosenanzug und schminkte ihre Wangen. Während sie in der Küche mit zittrigen Fingern ein Rührei mit Toastbrot aß, holte ich mein Notebook. »Mama«, sagte ich und sah zu Tereza, die den Geschirrspüler einräumte. »Ich habe ein Foto hier, das ich dir zeigen möchte.«

      »Von mir?«

      »Nein. Von Miriams Tochter.«

      »Miriam«, antwortete meine Mutter. »Miriam ist tot.«

      Die Worte kamen mit kindlicher Naivität über ihre Lippen. Meine Mutter erinnerte mich an eine Fünfjährige, die ein ernstes Gespräch über Weihnachten führen wollte. Ich trank einen Schluck Orangensaft. »Miriam ist nicht tot«, sagte ich.

      Meine


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