Entlehrt euch!. Rolf Arnold
Der vorliegende Text ist ein Aufruf. Sein Titel »Entlehrt euch!« klingt vielleicht zu martialisch. Er mag die Leserin, den Leser auch an den Aufruf »Indignez-vouz!« (»Empört euch!«) des ehemaligen französischen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel (2011) erinnern, hat damit aber inhaltlich nichts gemeinsam. Mit dessen Verve allerdings schon! Angesichts der zählebigen Traditionen, Sichtweisen und Routinen, welche die Praxis in den allermeisten Bildungseinrichtungen prägen, sind Ungeduld und Empörung angezeigt. Bildung folgt vielerorts immer noch administrativen Vorgaben, gegenüber denen die Einsichten der Lern- und Hirnforschung zur Nachhaltigkeit der Kompetenzentwicklung und zur Kraft des informellen und selbstorganisierten Lernens sich nur schwer Gehör verschaffen können.
Vereinzelt trifft man auf Veränderungs-Skeptiker und -Skeptikerinnen, deren Argumentationen aber selten über einen bildungspolitischen Fundamentalismus oder über Polemik hinausreichen. Neben theorielosen Mahnungen, dass Disziplin notwendig und machbar sei, begegnen dem bildungspolitisch interessierten Leser, der bildungspolitisch interessierten Leserin häufig Untergangsszenarien, in denen von »Dämmerungen« die Rede ist (vgl. Liessmann 2016). Deren Urheber möchten die Gefahr finsterer Zeiten heraufbeschwören und glauben die Verantwortlichen für den Verfall genau zu kennen. Sie sehen sie in den beherzten Versuchen, die Lernkulturen unserer Gesellschaft zu transformieren und an die Stelle von Belehrung professionelle Formen der Begleitung von Identitäts- und Kompetenzentwicklung zu setzen. Damit droht diesen Skeptikerinnen und Skeptikern genau das verloren zu gehen, was ihnen ein sicherer Besitz zu sein scheint: die gelingende Bildung der Nachwachsenden ebenso wie die der Erwachsenen.
Kaum geraten dabei die tatsächlichen Wirkungen der in Bildungsinstitutionen verbrachten Zeiten in den Blick. »Es ist gut, wie es war!«, lautet die restaurative Parole, deren Zynismus der interessierten Öffentlichkeit allerdings kaum verborgen bleiben kann. Zu fragen ist:
•Was bleibt uns tatsächlich von den Jahren, die wir in belehrenden und nicht selten auch kränkenden Kontexten zubringen mussten?
•Was haben wir von diesem Vermögen wegen und was entgegen diesen Kontexterfahrungen aus uns herausbilden können?
•Was verlernen wir in diesen Kontexten, und welche Ich-Stärkung und welche Selbstorganisationsfähigkeiten verpassen wir?
•Welche Konsequenzen ziehen wir aus der bildenden Kraft des Suchens und Erprobens, die uns mit bleibenden Fähigkeiten auszustatten vermag?
•Wie können Bildungsinstitutionen sich zu Räumen des Selbstlernens, der Selbstorganisation und des Kompetenzerfolges wandeln? Und:
•Wie können wir als Einzelne und als Gesellschaft die Potenziale erschließen (helfen), die in den Menschen schlummern?
Der Aufruf »Entlehrt euch!« stärkt die These, dass sich die Formen der Begegnung und Begleitung in den Bildungsinstitutionen grundlegend ändern müssen, damit den Einzelnen bessere Möglichkeiten zur eigenen Bildung oder Gestaltung des lebenslangen Lernens geboten werden können. Disziplinierung und Belehrung dürfen nicht länger die mehr oder weniger verborgenen Erfahrungskontexte bleiben, denen wir die Nachwachsenden und uns selbst aussetzen. Zu offensichtlich ist bereits der Widerspruch zwischen den Selbstorganisationserwartungen von Gesellschaft und Arbeitsmarkt und den skandalösen Vergessenseffekten, an die wir uns vielerorts gewöhnt zu haben scheinen. Ganz zu schweigen von der sozialen Selektivität des Bildungswesens. Das Faktum der sozialen Selektivität führt uns nicht vor Augen, welche Menschen in unserem Bildungssystem versagt haben, es zeigt uns vielmehr, an welchen Menschen unser Bildungssystem tagtäglich versagt – mit subtilen Mechanismen und nicht selten mit einer zynischen Umkehrung der Schuldzuweisung.
»Entlehrt euch!« beinhaltet kein eigenes Bildungsprogramm. Es schlägt keine – für alle möglichst einheitliche – neue Jugendschule vor, da solche Strukturvorschläge sich in der Vergangenheit als kaum konsensfähig in einer Gesellschaft erwiesen haben, der es oft mehr um Berechtigung als um Bildung zu gehen scheint. Die Gleichheit der Bildungschancen kann zwar durch eine verbesserte Durchlässigkeit (z. B. durch die Anerkennung beruflich erworbener Kompetenzen) zwischen den unterschiedlichen Bildungswegen gesteigert werden, Strukturreformen selbst werden aber meist in ihren möglichen Wirkungen überschätzt, denn sie gehen keineswegs automatisch mit einer größeren Wirksamkeit des Lernens selbst einher. Der vorliegende Text plädiert deshalb für eine innere – didaktische – Organisationsentwicklung der Bildungsinstitutionen. Es spricht viel dafür, dass es die Ermöglichung einer nachhaltigen Selbstbildung und die Lernkulturen sind (vgl. Arnold 2013b; 2016), von denen die für eine Kompetenzgesellschaft notwendigen Veränderungen ausgehen.
Veränderungen sind dringend notwendig. Um die Kompetenzen ist es nämlich keineswegs zur allgemeinen Zufriedenheit bestellt, wie John Erpenbeck und Werner Sauter in ihrem Buch »Stoppt die Kompetenzkatastrophe! Wege in eine neue Bildungswelt«[1] schreiben:
»Deutschland ist auf dem direkten Weg in die Kompetenzkatastrophe. Es vertrödelt seine Bildungszukunft, weil es die Entwicklung zur Kompetenzgesellschaft völlig ignoriert. Es leistet sich ein Bildungssystem, das sich nur im Schneckentempo weiterentwickelt, während sich die Welt ringsum in einem rasenden Tempo verändert. In allen Bildungsbereichen, von den Schulen über die Hochschulen bis zu den Betrieben, werden immer noch überwiegend die skandalös ineffektiven Methoden des Seminarlernens, häufig in Form von Frontalunterricht, praktiziert. Lernen findet Großteils noch immer in abgeschlossenen Schulräumen, Lehrsälen oder Seminarhotels statt anstatt dort, wo die Herausforderungen zu bewältigen sind. Das zukünftige Lernen soll lebenslang sein, die zukünftige Welt kommt darin aber kaum vor.
Wissensweitergabe gilt immer noch als der Weisheit letzter Schluss, geprüft wird nach den Prinzipien des Bulimielernens: Wissen aufnehmen, in Prüfungen und Klausuren ausspucken – und sofort vergessen. (…) Kompetenzen – die Fähigkeit, selbstorganisiert und kreativ Herausforderungen zu bewältigen – interessieren die meisten Bildungsverantwortlichen nur in Sonntagsreden. Der durchaus sinnvolle Ansatz der Bologna-Reformen wird ins glatte Gegenteil verkehrt. Erfolgreiche Kompetenzentwicklung setzt Eigenverantwortung und Selbstorganisation, Lernen in realen Herausforderungssituationen sowie die Anwendung und Bewährung in der eigenen Lebenswelt voraus. Die heutigen Bildungssysteme in Schulen, Hochschulen und Unternehmen ignorieren diese Anforderungen und verhindern damit die notwendige Entwicklung der Kompetenzgesellschaft.« (Erpenbeck/Sauter 2016, S. 1 f.)
Diese Kompetenzkatastrophe ist Anlass für den vorliegenden Text. Er spitzt die kritische Bestandsaufnahme nicht weiter zu. Es geht ihm nicht um eine Kritik und Infragestellung der Bemühungen der zahlreichen Lehr- und Ausbildungskräfte in Schule und Betrieb, Hochschule und Weiterbildung. Sein Ziel ist es vielmehr, die Zielmarken einer inneren Entwicklung der Bildungsinstitutionen in den Blick zu rücken und Ansatzpunkte für den dringend notwendigen Lernkulturwandel zu identifizieren.
Der Text besteht aus zwei unterschiedlichen Textsorten. Zum einen folgen die den einzelnen Kapiteln vorausgestellten Thesen dem Duktus eines Manifestes. Sie sind durch seitliche Balken gekennzeichnet, und die eilige Leserin, der eilige Leser findet in ihnen die grundlegenden Positionen, von denen die innere Entwicklung unserer Bildungsinstitutionen ausgehen sollte. Jedem dieser Manifestteile folgen Überlegungen, in denen einzelne Aspekte der jeweiligen These im Hinblick auf die einschlägigen Debatten und Forschungsbezüge vertieft, ergänzt und weiterentwickelt werden. Wer genauer »hinliest«, erhält dadurch zusätzliche Anregungen und Konkretisierungen zur Reflexion seiner eigenen Bildungsgeschichte und zur Veränderung seiner eigenen Bildungspraxis in Schule, Berufsausbildung, Hochschule und Erwachsenenbildung.
1 Der Mensch ist das lernfähige Tier
Es ist schon verwunderlich: Der Mensch, dieses schwache Tier, das unfertig auf die Welt kommt und eine lange Hege und Pflege braucht, um zu sich selbst und zu Kräften zu gelangen – dieser evolutionäre Schwächling hat den Wettkampf der Gattungen um die Spitzenposition der Nahrungskette ganz offensichtlich für sich entschieden. Fragt man nach der Erklärung für diesen Erfolg, so stößt man insbesondere bei Anthropologen und Expertinnen der menschlichen Universalgeschichte