Entlehrt euch!. Rolf Arnold

Entlehrt euch! - Rolf Arnold


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Menschen, aus Erfahrungen zu lernen, neue – passendere – Lösungen zu erproben, dadurch immer erfolgreicher im Umgang mit seiner Umgebung zu werden, kann man bereits beim Kleinkind beobachten: Erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit es die Sprache – und wenn es sein muss: auch mehrere Sprachen gleichzeitig! – erwirbt, wie es selbstständig laufen lernt und sich zunehmend sicher in seiner sozialen Umgebung zu orientieren vermag. Sicherlich imitiert es dabei Modelle und folgt Vorbildern. Es übernimmt jedoch nicht bloß das, was überliefert ist, sondern variiert, experimentiert und innoviert seine eigenen Ausdrucksformen. So eignet es sich die Welt in nicht enden wollenden Lernprozessen an, wobei eine kognitiv-emotionale Anverwandlung stattfindet, zu deren Verstehen uns noch die Begriffe fehlen.

      Der Begriff der Aneignung trifft es, wenn auch nicht genau. Er trifft es, da Lernen nach allem, was wir heute wissen, eine aktive Handlung des Subjekts ist, die man anregen und begleiten, nicht aber wirklich erzwingen kann. Menschen lernen, wie sie atmen – in regelmäßigen Zügen, nicht endend, manchmal flach, manchmal tief einatmend, bisweilen stockt ihnen der Atem. So, wie man auch nicht nicht atmen kann, so kann man auch nicht nicht lernen: Der Mensch muss die aktive Aneignung seiner Umwelt ebenso wenig lernen, wie er auch das Atmen nicht erst lernen muss, indem er z. B. eine Atemschulung besucht. Zwar muss der Mensch in extremen Situationen bisweilen beatmet werden, doch ist dies immer bloß eine vorübergehende Maßnahme, wenn die Atemfunktionen seiner Lunge aussetzen. Anders beim Lernen: Hier werden wir auch belehrt, obwohl wir (nur) selber lernen können. Die Folgen sind gravierend: Die ursprünglichen Lernfunktionen unseres Gehirns schalten auf Stand-by, und wir werden mehr und mehr zu hilflosen Lernerinnen und Lernern.

      Der Begriff der Aneignung hilft uns, diese intransitiven Wirkungszusammenhänge unseres Lernens besser zu verstehen. Das Adjektiv »intransitiv« ist dabei bewusst gewählt, obgleich es der Grammatiktheorie entlehnt ist. Es hat sich gewissermaßen von der Grammatiktheorie in die Lerntheorie verirrt. Als »intransitiv« bezeichnet man ursprünglich Verben, die ohne (direktes) Objekt auskommen. Auch »lernen« muss – wenngleich es im grammatischen Kontext zu den transitiven Verben zu zählen ist – ohne Objekt auskommen, denn kein Kind kann etwas lernen, was seine Kognition nicht selbst erarbeitet und aus sich heraus entwickelt. Dies wusste bereits Jean Piaget (1896–1980), der darauf verwies, dass das lernende Kind den Inhalt »vom Grunde seiner Seele« selbst erzeugen muss. Diese intransitive Logik trägt jedoch nicht allein das Lernen des Kindes; es trägt auch das lebenslange Lernen von Jugendlichen und Erwachsenen.

      Seit den 1990er-Jahren begannen die europäischen Bildungsdebatten, einem neuen Lernverständnis nachzuspüren. Sie folgten dabei einem Shift zum Selbst. Man begann, den Sachverhalt deutlicher zu fokussieren, dass es das Leben ist, das die Menschen in ihren inneren Möglichkeiten formt, fördert oder eben behindert. Auch die Kritik an den vorfindbaren Formen der Bildung und Ausbildung des Nachwuchses erlebte dadurch einen neuen Aufwind. Insbesondere nahm man die Lernkulturen der institutionalisierten Bildung in Schule und Hochschule kritisch in den Blick, deren ungewollte und vielfach auch lähmende Nebenwirkungen immer öfter in einen schier unüberbrückbaren Gegensatz zu den Anforderungen an eine zukunftsfähige Kompetenzausstattung geraten waren. Gleichzeitig begann man, sich wieder den informellen und selbstgesteuerten Aneignungs- und Reifungsprozessen, in denen Menschen ihre eigentlichen Potenziale zum Ausdruck bringen, zuzuwenden.

      Nur vereinzelt ging diese Wende zum Selbst mit einer Abwendung von den Formen einer institutionalisierten Bildung einher, wie dies noch für die Reformpädagogik der Jahrhundertwende oder die Antipädagogik der 1970er-Jahre typisch gewesen ist. Deren Impulse mündeten vielfach in einem Antiinstitutionalismus und verpufften deshalb weitgehend wirkungslos. Die »neue Reformpädagogik« wandte sich seit den 1990er-Jahren vielmehr gezielt der Frage zu, wie sich Bildungsorganisationen, wie Schulen und Hochschulen sowie Weiterbildungsstätten mit ihrem jeweiligen Selbstverständnis sowie ihren Aufgaben und Angebotsformen neu – als Orte eines lebendigen und nachhaltigen Kompetenzerwerbs – begründen könnten und welche Transformationsprozesse dafür erforderlich seien.

      Neu war auch das Ziel dieser Bemühungen. Man beschwor kaum irgendwelche Ideale von Selbstverwirklichung und Persönlichkeit, sondern fragte nüchtern nach den Kompetenzen, welche die Gestaltung einer unsicheren Zukunft ermöglichen. Dabei gerieten nicht allein die tatsächlichen kompetenzvernichtenden Wirkungen einer hochselektiven Bildungspraxis in Verdacht, gerade dieser Aufgabe mehr zu schaden als zu nützen. Man begegnete auch den rasch sich verbreitenden Forderungen, die Herausbildung eines »flexible man« (Sennett 1998) zu fördern, mit einiger Skepsis. Unübersehbar verbargen sich nämlich hinter dieser Forderung auch alte linear-mechanistische Hoffnungen. Diese folgten der Vermutung, dass es möglich – und auch zulässig! – sei, einen Menschentypus zu »erzeugen«, der in der Lage sei, sich bereitwilligst an die wechselnden Zumutungen von Arbeitsmarkt und Gesellschaft anzupassen. Dass ein solcher Mensch auch selbst einen Zugang zu dem finden sollte, »was Menschsein eigentlich bedeutet« (oder für ihn bedeuten kann), war nicht Teil solcher Hoffnungen. Die Urheber der erwähnten linear-mechanistischen Konzepte waren vielmehr bereit, billigend in Kauf zu nehmen, dass auf geeigneten Wegen – wieder einmal – universal einsetzbare Menschen entstehen könnten, die ihre Kompetenzen nicht nach den Maßgaben der Vernunft, Humanität und Solidarität zu nutzen in der Lage sind.

      Glücklicherweise verdampften solche eingeschränkt funktionalistischen Konzepte nahezu wirkungslos an dem mittlerweile erstarkten gesellschaftlichen Bewusstsein von der notwendigen Wertorientierung sowie der öffentlichen Verantwortung in Bildungsfragen. Beides verpflichtet die verantwortlichen Akteurinnen und Akteure nämlich dazu, Bildungsangebote so zu gestalten, dass den Erwartungen der oder des Einzelnen und der Gesellschaft – und nicht nur einer bestimmten Gruppe – Rechnung getragen werden kann. Die Gebote der Gerechtigkeit und Chancengleichheit sind dafür ebenso unhintergehbare Maßstäbe des Gelingens von Bildung wie die Eröffnung beruflicher und persönlicher Optionen für die Zukunftsgestaltung und Lebensformung. Diesen Maßstäben sind auch Bildungstheorie und Didaktik verpflichtet, die deshalb – anders als das naturwissenschaftliche Objektivitätsideal – normativ gebunden beobachten, deuten, verstehen und vorschlagen. Sie prüfen und bewerten deshalb auch die Bildungsmöglichkeiten nicht allein bezüglich ihrer Übereinstimmung mit den Anforderungen von Arbeitsmarkt und Gesellschaft, sondern zugleich und in erster Linie nach Maßgabe der Förderung und Begleitung der Individuierung, d. h. Selbstwerdung. Ihr Leitbild ist nicht der »flexible man«, sondern der »reflexive man« – oder besser: der »reflexible man«.

      Dieser weiß um die selbsterfüllende Kraft seiner Gewohnheiten und der eigenen Traditions- sowie Routinenverhaftung. Er ist sich der Tatsache bewusst, dass diese ihn immer wieder dazu verführen, an seinen Gewissheiten festzuhalten und sich die Zukunft auf der Basis der eigenen Erfahrungen zu konstruieren, wodurch er dazu beiträgt, dass auch die Zukunft mehr oder weniger so wird, wie die Vergangenheit bereits gewesen ist. Der »reflexible man« ist deshalb nicht bloß flexibel, sondern auch um Reflexion bemüht. Er weiß, dass er seine Welt bloß verändern kann, wenn es ihm gelingt, sich selbst zu verändern. Indem er lernt, die Gegebenheiten weniger rasch zu beurteilen, öffnet er sich auch dem Fremden, Unbekannten und vielleicht bereits Verworfenen gegenüber. Er vergleicht wertschätzend, wo er früher durch Beurteilungen Eindeutigkeiten herstellte. Dadurch schafft er zumindest die Voraussetzungen dafür, dass sich ihm die Wirklichkeit in anderer Weise – als andere Wirklichkeit – zu zeigen vermag. Damit erreicht der »reflexible man« eine Flexibilität eigener Art. Diese verdankt sich seiner Eigendrehung, keiner bloßen Anpassung an vermeintlich oder tatsächlich Gegebenes. Und diese Eigendrehung ist Ausdruck der Lernfähigkeit, die er als Potenzial in sich trägt.

      Auch der reflexible Mensch benötigt Wissen, um sachgemäß prüfen, beurteilen und handeln zu können. Sein Wissen ist jedoch von anderer Substanz. Es integriert die sachgemäßen Zusammenhänge mit seinen eigenen Fähigkeiten, diese aufzugreifen und bei der Entwicklung eigener Stellungnahmen oder der Ingangsetzung eigener Lösungsversuche konstruktiv zu gebrauchen. Um diese Fähigkeiten zum Umgang mit Wissen und zu dessen Nutzung entwickeln zu können, bedarf es anderer Vorgaben als bloße Lehrpläne oder Modulhandbücher (i. S. von Inhaltsauflistungen). Erforderlich ist vielmehr die Stärkung des methodischen und sozialen sowie emotionalen und reflexiven Vermögens der


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