Entlehrt euch!. Rolf Arnold
sicher angesehene Wissen stiftet ihren Schulen, Hochschulen und Berufsbildungs- sowie Weiterbildungseinrichtungen die mehr oder weniger verbindlichen »Bildungsinhalte« (Hof 2016, S. 205). Diese werden ausgewählt, begründet, curricularisiert und didaktisiert – nicht immer unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber – von Ausnahmen abgesehen – in den Schattenbereichen von Ministerien, Lehrplankommissionen und Schulaufsicht. Vornehmes Ziel dieser gesellschaftlichen Konstruktion der Inhalte liegt in der Absicht, den Nachwachsenden sowie den lernenden Erwachsenen die Teilhabe am Diskurs zu ermöglichen und so letztlich auch Gesellschaft als Öffentlichkeit überhaupt erst zu gewährleisten. Denn beide »leben« von anerkannten Inhalten und Formen des Austauschs, der Geltungsbegründung und der Schlussfolgerung. Der hierbei zum Tragen kommende Wissensbegriff ist ein gesellschaftstheoretischer. Er fokussiert auf die Notwendigkeiten und die Vorzüge, die darin liegen, dass die Mitglieder einer Gesellschaft auf einen gemeinsamen Bestand von Lesarten, Formen des Umgangs mit Wissen sowie Argumentationsstile bezogen sind, die sie zur »mündigen« Teilhabe an der Gesellschaft befähigen.
Die Funktionen des Wissens sind damit aber noch keineswegs erschöpfend beschrieben. Zu fragen ist nämlich: Woher kommt dieses Wissen? Wie werden Erkenntnisse und Informationen zu Wissen? Und: Um welche Art von Wissen handelt es sich?
Wissen ist das – jeweils vorläufige – »Insgesamt« der sozial anerkannten Bemühungen um Erkenntnis von Zusammenhängen sowie um die Verbesserung der Wirksamkeit der menschlichen Praxis.
Dieses Wissen tritt uns als Erklärungszusammenhang gegenüber. Es erscheint dabei weniger als Detailwissen, vielmehr bettet es die Details selbst erst in Strukturen, Begriffsklärungen, Regelhaftigkeiten usw. ein. »Die Welt, die gelernt wird« (Göhlich/Wulf/Zirfas 2014, S. 7), begegnet uns deshalb auch nicht als solche, sondern stets im Lichte der jeweils als zeitgemäß angesehenen Erklärungszusammenhänge. Diese verändern und vertiefen sich beständig, denn wir verstehen über die Jahrhunderte und Jahrzehnte viele Zusammenhänge genauer und gewinnen über sie auch oft eine wirksamere Gestaltungsmacht. Dies gilt insbesondere für die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge, aber auch die eigentümlichen Wechselwirkungen der sozialen Praxis können wir heute genauer verstehen als noch vor fünfzig Jahren. In diesem Zusammenhang von Wissen zu sprechen, verweist darauf, dass der Wissensbegriff auch eine Steigerung ausdrückt, indem er sich vom Nicht-Wissen oder Halbwissen unterscheidet und dadurch auch eine Stufenfolge der Weltbildentwicklungen markiert, die zu einer zunehmenden Kohärenz und Konsistenz des Wissens zu führen vermag. Ihre Stufen sind »Beschreibung«, »Erklärungswert«, »innere Widerspruchsfreiheit«, »äußere Widerspruchsfreiheit« sowie »Prüfbarkeit« (Vollmer 1991, S. 765).
Bildung durch Evidenz
Der an solchen Evidenzen gebildete Mensch ist ein Wissensträger der besonderen Art: Seine Fähigkeiten erschöpfen sich nicht in der Kenntnis von Sachverhalten bzw. in deklarativem Wissen (knowing that); vielmehr verfügt er auch über Fähigkeiten zur Handhabung und eigenen Konstruktion von Wissen (knowing how) bzw. über prozedurales Wissen, wie dies bereits Anderson (1976) definierte. Christiane Hof verleiht diesem Ansatz neue Aktualität:
»Mit Bezug auf pädagogische Fragen bezieht sich das deklarative Wissen auf das Lernen domänenbezogenen Sachverhaltswissens und das prozedurale Wissen auf die Aneignung der Fähigkeit, bestimmte Dinge zu tun. Es geht hier also um ein Können bzw. um bestimmte Fertigkeiten und Strategien (Skills), die einen bei der Durchführung von Tätigkeiten unterstützen. Während das deklarative Wissen als bewusst und explizit zu benennen ist, zeichnet sich das prozedurale Handlungswissen dadurch aus, dass es nur teilweise übersetzbar ist und auch implizite Anteile hat.« (Hof 2016, S. 207)
Diese Unterscheidung lässt die Frage entstehen, welches Wissen eigentlich gemeint ist, wenn wir von der Wissensgesellschaft oder der Wissensveralterung sprechen. Veraltern beide Arten von Wissen gleichermaßen? Oder haben wir es letztlich bloß mit einer Wissensverschiebung zu tun, die durch eine wachsende Bedeutung des prozeduralen gegenüber dem deklarativen Wissen gekennzeichnet ist? Eine vertiefte Untersuchung der beobachtbaren Wissensverschiebungen würde schließlich die Frage »Auf welches evidente Wissen kann ich mein Denken und Handeln gründen?« durch die Frage ablösen »Wie kann ich mich selbst in dem, was ich denke und tue, an Evidenzen orientieren?« Die ständige Bemühung um Evidenz würde sich so als prozedurales Wissen darstellen. Es könnte den Eindruck des Deklarativen, dem ja immer auch der Geruch von etwas Endgültigem anhaftet, spürbar hinter sich lassen und die Akteurinnen und Akteure innerlich gegenüber dem Neuen öffnen. Wäre dies nicht die eigentliche Aufgabe einer Bildung in der Wissensgesellschaft?
Auch Evidenzen gibt es bloß vorübergehend. Und nicht jede als evidenzbasiert ausgegebene Einschätzung hält der Überprüfung auch Jahre später noch stand, wie die Beispiele von Samuel Arbesman (2012) zeigen. Aber anderes als die Mechanismen einer sozialen Konstruktion der Evidenz haben die Menschen nicht. Evidenzbasiertes Denken und Handeln geht somit von bewährten, nicht von wahren Erkenntnissen aus – eine Differenzierung, die bisweilen vergessen wird. Die Begründung von Evidenzen folgt sozialen Regeln, wie etwa denen, dass
•Interessen in Beurteilungs- und Entscheidungskontexten über das, was gilt bzw. gelten soll, ausgeklammert bleiben müssen,
•die Prüfung der Gültigkeit einer Einschätzung stets vorläufig, d. h. ohne Ansehen der Person dessen, von dem diese Einschätzung stammt, zu geschehen habe und
•dass anerkannte Expertinnen und Experten darüber wachen, welche neuen Einsichten den fachlichen und methodischen Standards eines Faches entsprächen und welche nicht – eine durchaus ambivalente »Sicherung«, da sie das Neue am Leisten des Alten misst und vielleicht genau dadurch Innovationen ausschließt.
Insbesondere in den Naturwissenschaften haben sich dabei Formen einer sozialen Kontrolle entwickelt, mit denen die Scientific Community einer Disziplin darüber wacht, wer welche Ergebnisse ihrer Forschung in den anerkannten Fachzeitschriften veröffentlichen darf und wer nicht. Zugleich weisen diese Zeitschriften unterschiedliche »Impact-Faktoren« auf – mit der Folge, dass nur deren Chancen auf Berufung und Forschungsmittel steigen, die in Zeitschriften mit einem hohen Impact-Faktor veröffentlichen. Dass diese Praxis auch der Willkür, Manipulation und Macht Tür und Tor öffnet und die Verfasserinnen und Verfasser z. B. bisweilen zu »erzwungenen Zitationen« (aus der jeweiligen Zeitschrift selbst, um deren Impact-Faktor zu erhöhen) gedrängt werden, haben zahlreiche Studien der letzten Jahre aufgedeckt (vgl. Kaube 2008). Eine soziologische Kritik gelangt deshalb zu der eher vernichtenden Bewertung, dass
»der Peer-Review kein wissenschaftliches Messverfahren für die Güte von Publikationen [ist], sondern eine soziale Einrichtung zur Kalibrierung der Lesezeiten einer Disziplin« (Hirschauer 2004, S. 62).
Mittlerweile lässt sich die Kritik an der eigentlichen Qualität der Peer-Review-Praxis nicht mehr übersehen. Bereits 1982 wurden in zwölf psychologischen Fachzeitschriften Aufsätze, die schon eineinhalb Jahre zuvor erfolgreich publiziert worden waren, nochmals (bei denselben Zeitschriften) eingereicht, was bloß drei von 38 Referees überhaupt auffiel. Von diesen Aufsätzen wurden acht von neun wegen »schwerwiegender methodologischer Mängel« abgelehnt – wohlgemeint: Aufsätze, die einige Monate davor das Reviewverfahren erfolgreich passiert hatten (Peters/Ceci 1982). Solche Ergebnisse stärken die Zweifel an der qualitätssichernden Wirkung dieser Art von Publikationskontrolle. Diese ist nicht bloß durch die erwähnten beschämenden Widersprüchlichkeiten – um nicht zu sagen: Willkürlichkeiten – bei erneuter Begutachtung diskreditiert, sondern auch durch ihre Unfähigkeit, Übertreibungen oder Irrtümer in berichteten Forschungsergebnissen sicher auszuschließen, wie John P. A. Ioannidis im Jahre 2005 bei mindestens einem Drittel der in Peer-reviewed Journals veröffentlichten medizinischen Arbeiten herausfand (Ioannidis 2005). Ist es vor dem Hintergrund solcher Widersprüchlichkeiten abwegig, der evidenzsichernden Wirkung von Peer-Review-Verfahren und sogenannten Impact-Faktoren gründlich zu misstrauen? Und auch die Frage nicht außer Acht zu lassen, wie es um die Kreativität und Innovativität von wissenschaftlichen Disziplinen bestellt sein kann, deren Nachwuchs sich bei der Publikation seiner Ergebnisse gültigkeitssichernden Verfahren unterziehen muss, deren Gültigkeit selbst in Zweifel steht, und die darüber hinaus dazu