Nur vor Allah werfe ich mich nieder. Fatma Akay-Türker

Nur vor Allah werfe ich mich nieder - Fatma Akay-Türker


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dass der Islam eine frauenfeindliche, frauenunterdrückende Religion ist, in der Frauen nichts zu sagen haben. Doch solche Behauptungen sind im Grunde Verleumdungen gegen Allah, seinen Propheten und den Koran. Ich bitte höflichst: Jeder möge sich selbst hinterfragen. Es ist unsere Pflicht als Muslime, das richtigzustellen. Ich betone als eure Schwester, die Allah, den Propheten Muhammed und den Koran liebt, als Historikerin, Islamlehrerin und Doktorandin der Theologie, dass es im Koran absolut keine Beschränkungen für Frauen gibt. Im Gegenteil: Der Koran sieht Demokratie, Menschenrechte und die Gleichberechtigung vor. Deswegen bitte ich euch noch einmal höflichst: Wir alle müssen Verantwortung tragen. Durch unsere Art zu sprechen, zu leben und zu handeln müssen wir das Bild vom Islam in der Welt da draußen korrigieren.«

      Nun kam ich zum historischen Teil.

      »In der Zeit des Propheten war es nicht wie heute. Damals durften Frauen sowohl Freitagsgebete als auch Festtagsgebete gemeinsam mit Männern verrichten. Wenn eine Frau eine Frage oder ein Problem hatte, konnte sie dies mit dem Propheten besprechen und diskutieren«, erklärte ich mit fester Stimme.

      Applaus brandete auf, sowohl auf der Frauen- als auch auf der Männerseite. Ich merkte, wie aufmerksam das Publikum lauschte.

      Nun folgte meine Überleitung zur Sure. »Ich weiß nicht, wie vielen Menschen es bewusst ist, aber wir haben eine Sure namens Al-Mudschadala, eine Sure, in der Allah die Stimme einer Frau erhört. Diese Stimme ist in der Sure offenbart.«

      Zunächst erläuterte ich den Hintergrund der Sure. Bei den Arabern gab es eine Tradition namens Zihar. Ein Ehemann konnte sich einfach dadurch von seiner Ehefrau scheiden, indem er erklärte: »Du bist für mich wie der Rücken meiner Mutter«. Eine nach dieser Tradition geschiedene Frau kam zum Propheten. »Oh Prophet, mein Mann hat sich durch Zihar von mir getrennt«, klagte sie. »Ich habe drei Kinder. Wenn ich sie mitnehme, kann ich sie nicht erhalten. Wenn ich sie zurücklasse, würde niemand auf sie aufpassen. Ich bin hilflos, was soll ich machen?«

      Gegen diese fest verankerte Tradition war selbst der Prophet hilflos. »Es ist schon passiert, wir können nichts mehr tun«, sagte er. Denn auch für den Propheten war es nicht leicht, sich gegen die Tradition zu stemmen.

      Daraufhin fragte die Frau: »Hat Allah in dieser Sache nichts gesagt?«

      »Nein«, erwiderte der Prophet.

      Die Frau ließ jedoch nicht locker und sagte: »Ich warte vor der Tür, bis eine Lösung zu meiner Angelegenheit gefunden wird. Bevor mein Problem gelöst wird, werde ich nicht weggehen.«

      Die Lösung kam von Allah als eine der vielen Offenbarungen, die der Prophet im Laufe von 23 Jahren erlebte, da der Erzengel Gabriel ihm in verschiedenster Gestalt erschien und Gottes Wort übermittelte.

      Ich zitierte die Sure Al-Mudschadala:

      (O Prophet) »Gehört hat Allah die Aussage derjenigen (Frau), die mit dir über ihren Gatten streitet und sich bei Allah beklagt, (…)« (58:1) Gott hörte also die Argumente der durch Rückenschwur Zihar geschiedenen Frau. Im folgenden Vers bezeichnete Gott die Formulierung des Rückenschwurs »Du bist für mich wie der Rücken meiner Mutter« als verwerflich und falsch.

      »Diejenigen von euch, die sich von ihren Frauen durch den Rückenschwur trennen – sie sind doch nicht ihre Mütter. Ihre Mütter sind nur diejenigen, die sie geboren haben. Sie sagen da fürwahr etwas Verwerfliches an Worten und etwas Falsches (…)« (58:2)

      »Gott legte«, fuhr ich fort, »auch eine Strafe für Männer fest, die sich über Zihar von ihrer Frau scheiden ließen. Sie mussten einen Sklaven befreien oder, wenn sie das nicht konnten, sechzig Tage ohne Unterbrechung fasten. Allah tritt hier weder für den Ehemann ein, noch bestärkt er den Propheten, der die Frau bereits abgewiesen hatte, sondern er setzt sich für eine Frau ein.«

      Wieder kam Applaus von beiden Seiten des Saales. Ich sah, wie die Augen der Frauen leuchteten.

      »In einem anderen Vers des Koran, 9:71, steht: »Die gläubigen Männer und Frauen sind einer des anderen Freunde und Helfer. Sie gebieten das Rechte und verbieten das Verwerfliche, verrichten das Gebet und entrichten die Abgabe und gehorchen Allah und Seinem Gesandten. Sie sind es, derer Allah Sich erbarmen wird. Gewiss, Allah ist Allmächtig und Allweise.«

      Ich nannte noch ein paar Koranverse in Bezug auf Frauen, in denen Männer und Frauen von Gott auf der gleichen Ebene angesprochen sind, vor allem die Sure 49:13, welche die Geschlechtergerechtigkeit betont. Dann kam ich zum Schluss.

      »In diesem Sinne bitte ich alle Verantwortlichen: Geben Sie bitte den Frauen, die ohnehin die Last dieser Religion auf ihren Schultern tragen, die Gelegenheit und die Möglichkeit zur Mitsprache und zur Teilhabe an der Gesellschaft, wie es in der Zeit des Propheten üblich war.«

      Wieder brach tosender Beifall los. Als ich von der Bühne stieg, sah ich, wie berührt Cansu war.

      »Habe ich zu lange gesprochen?«, fragte ich.

      »Nein, das war toll und voll mit Inhalten«, antwortete sie.

      »Die Stimme einer Frau ist nicht haram«, sagte ich zu ihr mit leiser, aber fester Stimme. »Das war auch in der Zeit des Propheten nie der Fall.«

      Sie sah mich bewundernd an.

      Nach den Vorträgen sammelten sich Frauen um mich, gratulierten mir und umarmten mich. Einige wollten Fotos mit mir machen. Die jungen Organisatorinnen der Tagung hatten ein prächtiges Buffet mit türkischen Spezialitäten hergerichtet. Beim Essen unterhielten wir Frauen uns. Ich erzählte, dass ich einen Frauenrat gegründet hatte und mich weiterhin sehr stark für die Frauen einsetzen würde.

      Was ich damals, im Februar 2019, zwei Monate nach meinem Einstieg als Frauensprecherin, noch nicht wusste, war, dass dieser erste Auftritt gleichzeitig mein letzter sein sollte. Von sich aus schickte mich die IGGÖ nie wieder als ihre Vertreterin oder als offizielle Repräsentantin der muslimischen Frauen irgendwo hin.

      DAS SPRACHLOSE MÄDCHEN

      Als ich 13 Jahre alt war, lebte ich noch in einem beschaulichen Dorf in Anatolien. Es sind schöne Erinnerungen, die mich mit dieser Zeit verbinden.

      Mein alter Onkel Mehmet saß mit anderen zusammen in der Herrenrunde vor dem Geschäft des Schuhmachers. »Avukat Fatma, bist du schon bereit für morgen?«, rief er zu mir herüber. Avukat bedeutet Advokat, Rechtsanwalt. Diese Bezeichnung hatten sie mir gegeben, weil ich angesichts von Ungerechtigkeiten nie schwieg.

      »Ja, Onkel«, antwortete ich, »ich bin bereit für morgen.« Ich war auf dem Weg zur Schule. Am nächsten Tag war der 23. April, der Tag, an dem im Jahre 1920 erstmals der türkische Nationalrat zusammentrat. Kemal Atatürk, der Gründer der Türkischen Republik, widmete diesen Tag der nationalen Souveränität den Kindern. Daher gab es jedes Jahr an diesem Tag ein großes Kinderfest in den Volksschulen.

      Die Männer, die da in der Runde beisammensaßen, wussten alle, dass ich an solchen Feiertagen meist im Zentrum der Aktivitäten stand. Ich sagte vor vielen hundert Menschen Gedichte auf, leitete den Chor, die Volkstanzgruppe und die Parade mit der Trommel.

      In der Schule war ich die beste Schülerin und schon ab der ersten Klasse Volksschule die Klassensprecherin. Unser Dorf hatte damals dreitausend Einwohner. Da kannte jeder jeden. Die Dorfbewohner versammelten sich Tag für Tag und erledigten gemeinsam nach der Reihe die anstehenden Arbeiten. Das ging von Frühling bis Herbst so. Im Winter waren alle zu Hause. Da empfingen wir entweder Besuch oder wir waren auf Besuch. Jede Familie war jederzeit bereit, Besuch zu empfangen. Für die Gäste hoben alle die besten Vorräte auf. Es war jedes Jahr im Herbst vor allem für uns Kinder ein Fest, wenn Weintrauben, Sirup, Marmelade und Tomatenmark im Garten in den ganz großen Kesseln auf der Feuergrube kochten.

      Es gab nie eine strenge Trennung zwischen den Geschlechtern. Die Männer trugen durchwegs dunkle Hosen und Hemden. Die Frauen bevorzugten traditionell gemusterte, farbenfrohe Stoffe. Dazu trugen sie ein locker gebundenes, leicht durchsichtiges Kopftuch. Der Haaransatz war zu sehen. Bei den meisten erwachsenen Frauen hingen hinten lange geflochtene Zöpfe herunter. Die Mädchen,


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