Die Anatomie des Schicksals. Johannes Huber

Die Anatomie des Schicksals - Johannes Huber


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am Nachthimmel gezählt hat. Touristen verdampfen nicht gerne, wenn sie eine Woche all-inclusive gebucht haben.

      Als interstellares Prachtexemplar musste die Venus ihre Vormachtstellung aufgeben, und ein anderer Stern in unserem Sonnensystem übernahm dieses Los. Die Erde.

      Das zeigt, wie ausgeliefert wir kosmischen Entwicklungen, wie machtlos wir ihnen gegenüber sind. Das Schicksal hat so entschieden. Oder ein Weltenbaumeister, der sich architektonisch neu orientieren wollte. Der seinen Fokus auf etwas anderes gerichtet hat. Glück für uns, Pech für die Venus.

      Nehmen wir die Dinosaurier. Millionen von Jahren herrschten sie über die Erde. Vor rund 65 Millionen Jahren kam ihr Schicksal in Form eines Asteroiden, der im Golf von Mexiko niederging. Sein Einschlag änderte das Klima weltweit, es wurde eiskalt auf der Erde, ein Massensterben unter Dinosauriern und zahlreichen anderen Arten begann.

      Dinge entstehen, Dinge vergehen. Planeten wie auch Lebewesen. Der Kreislauf der Dinge. Das Schicksal, möchte man meinen, sei gnadenlos, willkürlich und unerbittlich. In Wahrheit gibt es zwei verschiedene Arten davon.

      Entweder unabwendbar. Oder veränderbar.

      Das heißt, es gibt Schicksalsschläge, vor denen können wir uns nicht schützen, die kommen wie eine Axt, krachen mitten ins Leben hinein, unausweichlich treffen sie uns, es gibt kein Entrinnen. Und es gibt hausgemachte Schicksale, die wir in die Hand nehmen können, die sich sehr wohl ändern lassen.

      Schicksalhaft der Kategorie Unausweichlich war der Untergang der Venus. Einst blühender Planet, dann, am Ende ihres Lebenszyklus, hat sich alles verändert. Als Mensch bleibt einem nur der staunende Blick durchs Fernrohr.

      Aber da ist auch dieses andere Schicksal, das wandelbare.

      Es gibt Dinge, die können wir formen, die entwickeln sich, und sie lassen sich begleiten. Wir können sie im Voraus in die richtige Spur bringen, sie lenken und auf ein gutes Fundament stellen.

      Das ist die gute Nachricht.

      Eine tröstliche Erkenntnis.

      Eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens.

      Der Mensch kann das Ruder übernehmen, das Ziel neu definieren und die Reiseroute bestimmen. Es funktioniert, und dieses Buch wird zeigen, was dazu beitragen kann. Wie nicht nur das Schicksal uns einen Wink geben kann, sondern auch wir ihm.

      Das ist der Unterschied zwischen Aktiv und Passiv. Warten auf bessere Zeiten oder einen Weg dorthin suchen und losgehen. Hoffen, dass alles gut geht, oder selbst etwas dazu tun. Das Wissen, das wir dazu brauchen, ist da, immer mehr davon bringt die moderne Wissenschaft ans Tageslicht. Der Damm ist bereits gebrochen, die Forschung arbeitet im Akkord. Je mehr Zusammenhänge sie versteht, desto öfter können wir dem Schicksal auf die Finger klopfen, ihm Schnippchen schlagen. Einfach nur, weil wir mehr wissen und früher eingreifen können. Sehr viel früher.

      Schicksale sind keine Momentaufnahmen. Sie entwickeln sich stetig, laufend, langsam und schon lange vor unserer Zeugung. Mit Myriaden Möglichkeiten, hierhin abzuzweigen oder dorthin wegzudriften. Mehrdimensionale Verschiebungen, parallele Verwerfungen, unendlich viele Möglichkeiten, bis einem schummrig wird vor Augen. Weil jede Frage zehn weitere Fragen aufwirft. Wenn das passiert ist, muss dann nicht jenes eintreten? Und wenn jenes eintritt, muss dann nicht dieses stattfinden? Und wenn dieses stattfindet, ist dann nicht alles ganz anders? Ein Webteppich unendlicher Verknüpfungen.

      Zeit ist eine Variable. Sie existiert für uns nur als Richtschnur. Während sich das Jetzt zum nächsten Jetzt wandelt. Und sich gleich wieder ein neues Jetzt materialisiert.

      Die schwindende Macht des Schicksals

      Schicksale sind Konsequenzen scheinbarer Bedeutungslosigkeiten. Und das über Generationen hinweg. Sie entwickeln sich in einem großen holistischen System, das bei unseren Eltern beginnt, über unser adultes Leben führt und bis in unseren Tod hinein wirkt, sogar darüber hinaus. Ein Baukasten der Ewigkeit.

      Wir tun gut daran, das Schicksal nicht an einzelnen Punkten festzumachen, sondern zu beobachten, wie sich alles entwickelt. Das Schicksal bereitet sich vor. Langsam, als läge es auf der Lauer. Das Schicksal bereitet sich immer vor.

      Letzten Endes durch das, was wir tun. Das ist ein wichtiger Grundgedanke dieses Buches.

      Dennoch müssen wir zunächst den Begriff Schicksal klären, was eine Geschichtsbetrachtung erfordert: Was war früher das Schicksal? Oder: Was haben die Menschen früher als Schicksal gesehen?

      Aus dem Blick eines Mediziners lässt sich das an vielen Beispielen zeigen. Denn für die Betroffenen sind Schicksalsschläge meistens Attacken gegen die Gesundheit, schwere Erkrankungen, der Tod. So sehen es die Menschen. Die Wissenschaft aber hat in dieser zweiten Gruppe der Schicksale, in jener mit den veränderbaren, vieles getan, um das Schicksal zu verbessern. Um es abzufedern und aus Schicksalsschlägen wieder Normalität zu machen. Heilung durch die Medizin.

      Gehen wir einmal zurück im Kalender der Jahrhunderte. Wir halten im Mai 1349, als in Florenz die Pest zu wüten begann.

      Schicksal.

      Die Menschen starben, oder sie starben nicht. Im Mittelalter war die Pest eine Geißel des Schicksals. Todbringend, unwiderruflich.

      Und dann eliminierte die Wissenschaft dieses Schicksal. Es war nicht länger unwiderruflich todbringend. Heute muss niemand mehr an der Pest sterben. Weil die Medizin die Möglichkeit geschaffen hat, dieses Schicksal zu verändern. Einzugreifen. Mit völlig neuem Wissen eine Alternative zu schaffen, wo keine war.

      So ist es auch heute. Es gibt völlig neues Wissen. Was wir eben noch für Schicksal hielten, ist es nicht mehr.

      Ein Stichwort ist die evolutionäre Entwicklungsbiologie, Evo-Devo genannt. Sie hat bahnbrechende Erkenntnisse gewonnen, auf die ich im Laufe des Buches noch genau eingehen werde. Sie zeigt: Die Umwelt hat anscheinend mehr Einfluss auf die Entwicklung von Lebewesen als die Gene selbst. Das heißt: Unsere Umwelt bestimmt stärker über unser Leben als unsere Gene. Was faszinierende Möglichkeiten eröffnet, unser Schicksal in die Hand zu nehmen. Denn unsere Umwelt können wir gestalten.

      Ein anderes Stichwort lautet microRNA. Sie ist eine Variante der herkömmlichen RNA, also der Ribonukleinsäure. Sie ist an der so genannten Genexpression beteiligt, kann also gewisse Eigenschaften der Gene ein- oder ausschalten. Das neue Wissen darüber hat zu einem ganz neuen Bild von praktisch allem geführt.

      Wir haben heute ein ganz anderes Verständnis für astrophysikalische Abläufe. Früher wussten wir nichts über den Kometeneinschlag vor 65 Millionen Jahren, der die Dinosaurier ausgerottet und die ganze Erde schicksalhaft verändert hat. Biochemische Veränderungen, wahrscheinlich rund um die microRNA, mit der wir uns noch beschäftigen werden, führten damals bei vielen Spezies, vor allem bei den Säugern dazu, dass sie sich den Klimaveränderungen anpassen konnten, und zwar besser als die Reptilien und Saurier. Dadurch kam es zu einer explosionsartigen Verbreitung der Kleinsäuger. Zu den Lebewesen, die wir heute sind.

      Willkommen unter uns, im Übrigen.

      Leben ist Veränderung und Veränderung ist Schicksal.

      Weiterentwicklung verändert den Lauf der Dinge. Wissenschaft ist Evolution, und Evolution gibt dem Schicksal einen anderen Drall mit etwas mehr Effekt. Die Pest ist besiegt. Die Wissenschaft hat das Ringen mit diesem Tod gewonnen.

      Ebenso wie mit dem Tod durch das Kindbettfieber. Auch hier war es früher die Unwissenheit, die zur Schicksalsfrage für unzählige Frauen wurde. Wo werde ich entbinden? Ja, das war in Wien einmal die alles entscheidende Frage, so einfach konnte es sich das Schicksal machen.

      Denn es gab nur zwei Möglichkeiten: die erste oder die zweite Frauenklinik. Die Antwort entschied über Leben und Sterben. Wenn Frauen auf der ersten Frauenklinik entbanden, war ihr Risiko groß, dem Kindbettfieber zu verfallen. Der Tod kam auf diese Weise damals schicksalhaft. Wenn sie ihr Kind auf der zweiten Frauenklinik bekamen, dort, wo es keine Studenten gab, die vor ihrer Assistenz bei einer Geburt Leichen seziert hatten, dann waren sie gerettet.


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