Die Pharma-Falle. Fahmy Aboulenein
im Gießkannenprinzip über möglichst viele Patienten auszuschütten, durchaus legitim sei, dass es aber an uns Ärzten läge, kritischer Gegenpol zu sein, die Daten selbst zu interpretieren und mit unserem Erfahrungsschatz abzugleichen, um selbst zu entscheiden.
Die Stimmung kippte. Die Mehrheit meiner Kollegen schloss sich nicht nur meiner Meinung an, sondern sie bestätigten auch, dass sie ebenfalls bei ihren Patienten sehr sorgfältig und sicher nicht im »Gießkannenprinzip« Medikamente verschreiben würden.
Als der Forschungsleiter und die anwesenden Pharmareferenten des Konzerns unruhig wurden, ergriff der Sitzungsleiter, das heißt einer unserer Kollegen, das Wort und meinte, dass uns die Diskussion entglitten sei und dass wir uns doch wieder auf das Wesentliche konzentrieren müssten und nicht vergessen sollten, wer dieses Treffen hier organisiert und uns eingeladen habe. Zumindest als »Gebot der Höflichkeit« sollten wir das Medikament unseres Gastgebers nicht schlechtreden. Mit ernstem Gesicht kam er zum Punkt: »Das Medikament ist ein sehr gutes und lang bewährtes Basistherapeutikum mit sehr guter Wirksamkeit, wie wir alle aus den Studien und vor allem aus unserer Praxis wissen und auch hier festgestellt haben«, sagte er. »Das Problem sind die neuen, modernen, anderen Medikamente der Konkurrenz. Diese neuen, modernen Medikamente lassen den Markt für das Medikament unseres Gastgebers einbrechen.«
Genau in diesem Moment war ich froh und dankbar, vor Beginn dieser Expertenrunde den großformatigen weißen Umschlag, in dem die Honorarnote enthalten war, zurückgewiesen zu haben.
Nein, ich hatte die Sache nicht zu dramatisch gesehen.
Es ging hier nicht um Fachwissen, sondern um Marktanteile. Ich verschrieb das betreffende Medikament regelmäßig, und obwohl es vergleichsweise kostengünstig war, setzte der Hersteller allein durch meine Verschreibungen an die 1400 Euro pro Patient und Monat um, das hieß zehntausende, vielleicht auch hunderttausende Euro pro anwesendem Experten und Monat. Insofern waren die Ausgaben für das noble Meeting hier ein Klacks.
Jetzt ärgerte ich mich über meine Naivität. Fachwissen? Das interessierte hier anscheinend keinen. Die Diskussion wäre wahrscheinlich genau die gleiche gewesen, selbst wenn die Konkurrenzprodukte doppelt so gut gewirkt, weniger Nebenwirkungen gehabt und auch nur die Hälfte gekostet hätten. Wir sollten das Medikament des Gastgebers weiterhin großflächig und sehr frühzeitig verschreiben. Dem neuen Produkt der Konkurrenz sollten wir möglichst keine Chance geben. Wir sollten das Medikament des Gastgebers in höchsten Tönen loben, ohne über die Medikamente der Konkurrenz schlecht zu reden, und natürlich sollten wir unser Lob »wissenschaftlich« untermauern.
Was hier stattfand, war aus meiner Sicht nichts anderes als ein getarnter Bestechungsversuch. Zumindest wüsste ich nicht, wie ich es sonst nennen sollte. Das wissenschaftliche Drumherum sollte doch nur den objektiven Anstrich garantieren.
Nach der Sitzung plauderte ich noch eine Weile mit meinen Kollegen an den Stehtischen. Neuerlich kam der Pharmareferent mit dem weißen, großformatigem Umschlag lächelnd auf mich zu. »Sie brauchen sich deshalb keine Gedanken zu machen. Warum haben Sie ein schlechtes Gewissen? Am Ende bekommt das Geld noch jemand, der gar keine Ahnung hat«, sagte er. Seine Worte brannten sich in der Sekunde ein, in der sie ausgesprochen waren. Er schien über uns Ärzte anders zu denken, als er stets vorgab. Wir, die Experten, schienen für ihn tatsächlich nur Statisten zu sein, die gar keine Ahnung zu haben brauchten. Es schien auszureichen, dass wir hier in einem formellen Kreis zusammenkamen und als Expertengremium einem Impulsreferat des Pharmakonzerns lauschten, nachher ein bisschen plauderten und vor allem das Medikament und den Pharmakonzern beweihräucherten und dafür einen Umschlag mit einer üppigen Honorarnote bekamen. Anscheinend war es für ihn ganz normal, dass Ärzte Geld beziehungsweise Honorarnoten in Umschlägen von ihm entgegennahmen.
«Nein danke, immer noch nicht. Ich halte das für moralisch bedenklich. Sie brauchen mir auch nichts mehr anzubieten«, sagte ich.
Er lachte aufgesetzt und versuchte, die Contenance zu wahren. Nervös spielte er mit dem Umschlag.
Zwei Wochen später erhielt ich die Druckfahne einer Publikation zugeschickt, die der Konzern, der die Expertensitzung in dem Fünfsternehotel organisiert hatte, herausgeben wollte. In der Hochglanzbroschüre ging es um die Ergebnisse unserer Expertensitzung. Die Broschüre titelte unter anderem mit »Praxisorientierte Empfehlungen von Meinungsbildnern«. Ferner war an anderer Stelle zu lesen, dass die in dieser Publikation dargestellten Empfehlungen das Wissen und die Erfahrungen der teilnehmenden Ärzte darstellten und dass die Publikation dieser Broschüre durch die finanzielle Unterstützung des Pharmakonzerns ermöglicht wurde.
In der Broschüre fand ich unter der Rubrik »Statements aus der Praxis« Fotos von mir und allen anderen Kollegen, die an der Expertensitzung teilgenommen hatten, sowie diverse uns zugeordnete Statements. Kein einziges der Statements passte zu der sehr kontroversen Diskussion, die wir geführt hatten. Ich konnte mich jedenfalls nicht erinnern, solche Statements bei dieser Expertensitzung gehört zu haben.
Unter anderem fand ich bei meinem »Statement aus der Praxis« angeführt, dass die gute Verträglichkeit und hohe Sicherheit einen sehr frühzeitigen Therapiebeginn möglich mache, da schwere Nebenwirkungen nicht zu erwarten sind. Und dass ich bei weniger sicheren Therapieoptionen mit einer frühzeitigen Therapieentscheidung sehr zurückhaltend wäre.
Im allerersten Moment dachte ich sogar noch, dass hier eine Verwechslung vorliegen musste, mein Porträtfoto und mein Name falsch eingefügt worden waren. Aber so war es natürlich nicht.
Ich begann mich zu ärgern, denn mein »Statement aus der Praxis«, schön unterlegt mit einem Porträtfoto und natürlich mit Bildunterschrift von mir, war genau das Gegenteil von dem, was ich bei der Sitzung gesagt hatte und was ich auch bei jeder anderen Gelegenheit öffentlich sagte und schrieb. Ich trat und trete stets für die individuell maßgeschneiderte Therapie meiner Patienten ein. Dafür, dass sich Ärzte jeden Patientenfall genau ansehen und sehr sorgfältig abwägen und entscheiden, ob, und wenn ja, mit welchem Medikament eine Behandlung notwendig ist, oder ob kontrolliertes Zuwarten möglich ist. Dies umso mehr, da viele Medikamente beträchtliche Nebenwirkungen haben und ich ein Gießkannenprinzip für gefährlich und nicht gerechtfertigt halte. Dies wussten auch die Verantwortlichen des Pharmakonzerns, der diese Expertensitzung organisiert und bezahlt hatte.
Ich verlangte, dass die Herausgeber der Broschüre mein »Statement aus der Praxis« entsprechend korrigieren sollten, und auch, dass sie anführten, dass ich keine finanzielle Unterstützung von dem Pharmakonzern bekommen hatte. Ferner bat ich, die Teilnehmerliste auf der Titelseite zu korrigieren, da die entschuldigte Kollegin ebenfalls darauf zu finden war. Schließlich regte ich noch an, etwaige Interessenkonflikte aller Teilnehmer offenzulegen, das heißt anzuführen, wer ein Honorar oder andere Vergütung für seine Teilnahme an dem unabhängigen Expertengremium bekommen hatte. Eine solche Offenlegung, die sogenannten disclosures, sind in der Wissenschaft üblich. Also sah ich nicht ein, warum das bei dieser Broschüre »unabhängiger« Experten nicht so sein sollte.
Als ich schließlich die endgültige Version bekam, waren mein Name aus der Teilnehmerliste und mein »Statement aus der Praxis« samt meinem Porträtfoto verschwunden.
Dafür fand ich nun ein neues »klinisches Statement aus der Praxis« in der Broschüre – jenes der Kollegin Dr. Elisabeth Hardt. Zumindest war ihr Name nun von der Teilnehmerliste genommen worden und angeführt, dass sie verhindert und deshalb bei der Expertensitzung nicht anwesend gewesen war. Ihr »klinisches Statement aus der Praxis« war meinem nunmehr entfernten Statement zum Verwechseln ähnlich.
DER WAHRE $KANDAL
Denken Sie an Ihren letzten Arztbesuch. Vielleicht waren Sie bei Ihrem praktischen Arzt, vielleicht auch bei einem Facharzt. In jedem Fall ist er Ihnen bestimmt höflich begegnet und hat Ihnen, so gut er konnte, geholfen. Zuerst sprach er mit Ihnen über Ihre Symptome, dann stellte er eine Diagnose und am Ende verschrieb er Ihnen ein Medikament.
Darauf, welches Medikament er Ihnen verschrieb, hatten Sie vermutlich