Resilienzcoaching für Menschen und Systeme. Günther Mohr

Resilienzcoaching für Menschen und Systeme - Günther Mohr


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Ruhe, sondern das innere »Ausfühlen« sämtlicher Gefühle, die mit dem Menschsein zu tun haben. Dazu war Resilienztraining vor allem in Form konkreter Emotionsregulationstechniken für mich sehr hilfreich. Denn die in diesen Prozessen auftauchenden Gefühle reichen weit über das hinaus, was man allein durch seine individuelle Biographie erklären könnte. Es führt bis in archaische Bereiche des menschlichen Daseins. Zu der Art dieser Gefühlsprozesse werde ich unter Resilienzfaktor II (Körper-Geist-Verbindung) Näheres schreiben.

      Der Begriff ›Gefühle ausfühlen‹ im Zusammenhang mit Meditation stammt interessanterweise schon von Johannes Tauler, einem deutschen christlichen Mystiker und Schüler Meister Eckharts, der von 1300 bis 1361 lebte. Meditation und Kontemplation sind nicht vorwiegend etwas Fernöstliches. Sie sind in allen Kulturen bekannt, aber aufgrund der schmerzlichen Konfrontation mit den Gefühlen seltener praktiziert und ins Leben integriert, als es für Menschen günstig wäre. Der Weg der Meditation ist – und davon bin ich mittlerweile sehr überzeugt – ein Königsweg zu gesteigerter Resilienz.

      Insgesamt sind die Wege zur Resilienz zu verknüpfen. Dies kann das Erleben in einem Spannungsgebiet sein und die Reflexion in der Meditation, das zum Vorschein-kommen-Lassen was im Menschen in der Tiefe steckt. Es können natürlich bei jedem Menschen andere Wege sein. Den genannten Zugangsweg »Erleben und Meditieren« hatte mir Bernie Glassman nahegebracht. Der Zen-Meister jüdischer Herkunft bietet seit 20 Jahren ein Meditations-Retreat in Auschwitz an. An die schwierigen Stätten der Menschheit zu gehen und dort nicht gleich alles besser zu wissen, in Agitation zu verfallen oder zu resignieren, sondern innezuhalten und zu spüren, das hatte mich beeindruckt. Im Folgenden werden neben den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Thema Resilienz immer wieder Beispiele für praktische und konkrete Wegerfahrungen eingefügt.

      Resilienz ist ein Begriff, der der Materialwirtschaft entlehnt ist. Damit geht es ihm ähnlich wie dem Stressbegriff, der ebenfalls aus der Physik stammt. Der materialwirtschaftliche Resilienzbegriff gibt an, wie sehr ein Material nach Beanspruchung wieder in der Lage ist, seine Ausgangsposition einzunehmen, etwa bei einer Spiralfeder, die gedehnt wird und sich danach wieder entspannt. Übertragen auf die psychologische Resilienz bedeutet dies, nach sehr widrigen Erlebnissen wieder zu einem einigermaßen erträglichen Empfinden zurückzufinden. Aber dieses Bild ist für die psychologischen Situationen zu ergänzen, da in vielen Fällen als Resultat eines Resilienzprozesses ein neues Gleichgewicht entsteht. Es wird selten ganz wieder so, wie es vorher war. Im günstigen Falle erfolgt ein persönlicher Wachstumsprozess nach dem oder sogar durch das Trauma (posttraumatic growth). Menschen entscheiden sich dann oft, in ihrem Leben andere, ihnen selbst wesensgemäßere Prioritäten zu setzen.

      Der Resilienzbegriff wurde in der Forschung – in den letzten Jahren besonders von dem Psychologen George Bonanno – ganz besonders auch als Reaktion auf traumatische Erlebnisse untersucht (Bonanno 2012). Er spricht von potenziell traumatischen Ereignissen (PTEs), wie z. B. schweren Unfällen, Verlust von nahen Angehörigen oder auch Gewalteinflüssen. Deren Auftretenswahrscheinlichkeit wird nach Auffassung des niederländischisraelische Traumaforschers Daniel Brom von Menschen gerne verdrängt. Brom spricht hier von einer Illusion, die Menschen haben. Jeder Mensch sei mindestens einmal im Leben mit einer solchen Situation konfrontiert (Brom 2014). Insofern ist das Lernen von Resilienz sinnvoll.

      Beeinträchtigungen im Leben können auf zwei Weisen entstehen: durch ein Trauma oder durch »steady poison«. Fundamentale beeinträchtigende Lern- und Erfahrungsprozesse bei Menschen können einerseits durch ein einschneidendes Ereignis bewirkt werden, das alles verändert, andererseits durch eine ständige Konfrontation mit negativen Einflüsse. Dies passiert etwa, wenn einem Kind das Selbstvertrauen oder andere natürliche Fähigkeiten, für die es Wertschätzung braucht, kontinuierlich abgesprochen werden. In der Regel wird im letzteren Falle nicht von Traumatisierung im engeren Sinne der Definition gesprochen; es ist eher eine kontinuierliche, schwere Stresssituation. Der Übergang zwischen schwerem Stress und Trauma gestaltet sich fließend. Interessant ist aber gerade bei den Kindheitserlebnissen, dass hier oft eine Traumatisierung intergenerationell (von Generation zu Generation) weitergegeben wird. Traumata und schwere Stresserfahrungen verschwinden nicht einfach, wenn sie nicht behandelt, sondern verdrängt, abgespalten oder verschwiegen werden. Sie gären unterschwellig weiter und werden mehr oder weniger bewusst weitergegeben. Gerade viele Deutsche haben in diesem Punkt durch die Erfahrungen der Kriegsgeneration und der Nazizeit unbearbeitete Traumata. Die Weitergabe geschieht oft nicht durch ein einschneidendes Erlebnis, sondern subtil. In diesem fundamentalen Zusammenhang der Weitergabe von Traumata zeigt sich schon ein wichtiger systemischer Prozess, der in Systemen wie Familien, Gesellschaften, Bevölkerungen, Staaten auf die Resilienz des Einzelnen Einfluss nimmt.

      Mittlerweile wird daher das Resilienzkonzept auf Individuen (Kinder und Erwachsene) aber auch auf Systeme allgemein und Organisationen im Speziellen angewendet. Jessica Di Bella hat beispielsweise die Resilienz von kleinen Unternehmen in einer vergleichenden Studie untersucht, die von fünf italienischen Brüdern geführt wurden (Di Bella 2014). Immer geht es darum, die Faktoren zu ermitteln, die zur Robustheit gegenüber widrigen Ereignissen und Einflüssen führen. Zahlreiche Untersuchungen haben sich mit Resilienz bei Kindern beschäftigt, aber auch im Erwachsenenalter ist es möglich, Resilienz zu entwickeln. Resilienz hat mit der Bewältigungsfähigkeit von Ereignissen und Situationen zu tun. Deshalb zunächst ein kurzer Einblick in die Anforderungsbedingungen, die der Mensch heute zu bewältigen hat.

      Schneller, unberechenbarer und gefährlicher? Schon die normale Welt ohne traumatische Schicksalsschläge stellt gerade hohe Anforderungen. Dies wird heute manchmal ›VUCA-Welt‹ genannt. Volatilität (die schnellen Veränderungen), Unsicherheit, Complexity bzw. Komplexität und Ambiguität (Uneindeutigkeit der Vorkommnisse) kennzeichnen den Beginn des 21. Jahrhunderts.

      Die Geschwindigkeit der Veränderungen in der Welt hat sich erhöht. Dies wird mit der Volatilität, dem Begriff für die schnellen Schwankungen von relevanten Daten und Kontexten, zu erfassen versucht. Ob die Sicherheitslage in einem Land oder auch die Seriosität und damit Kreditwürdigkeit eines Kunden (siehe VW oder Deutsche Bank) – schnelle Veränderungen sind die Herausforderung. Was zunächst nur für die Börsenschwankungen angenommen wurde, ist nun für viele Lebensbereiche zum Thema geworden. Gleichzeitig wird in einer Art Gegenbewegung versucht, alles zu berechnen. Das menschliche Verhalten wird in Algorithmen gepackt, die möglichst viel voraussagen sollen. Wie sich diese Algorithmen wiederum auf das Leben auswirken, erklärt der Journalist Christoph Drösser in seinem Buch Total berechenbar (Drösser 2016). Auch diese »berechnende Welt« erscheint den Menschen nicht gerade geheuer, weil sie mit dem Ziel unserer Beeinflussung erfolgt. Manche glauben gar, ein Überwachungsstaat wie in George Orwells legendärem Buch 1984 werde Wirklichkeit. Ein Ergebnis ist eine große Unsicherheit, die das Empfinden vieler Menschen kennzeichnet. Die Erwartung in Wohlstandsgesellschaften ist aber gerade ein Gefühl der Sicherheit. Wohlstand bedeute Sicherheit. Täglich wird suggeriert, man könne alles versichern, sich gegen alles absichern. Man muss nur dafür bezahlen, dann verliert das Leben seine Bedrohungen. Und wer das nicht hinbekommt, hat eher selbst ein Problem. Der Mensch ist in seiner Schwankung zwischen dem lange Zeit vorhandenen Schicksalsglauben und der Machbarkeitsidee zu sehr auf den zweiten Pol fokussiert worden. Manche nennen es den »Machbarkeitswahn«. Diese Polarität zwischen Schicksalsglauben und Machbarkeitswahn wird von der Daseinsanalytikerin Alice Holzhey-Kunz (2001) sehr schön beschrieben. Die Sozialwissenschaftlerin Herrad Schenk (2000) spricht gar vom Machbarkeitsmythos. Seit der Aufklärung hat der Glaube an ein vorherbestimmtes Schicksal und das Annehmen der höheren, eingreifenden Macht nachgelassen. Das Zurückweichen des Schicksals führt zunehmend zu der Ideologie, dass alles machbar sei. Die ungeheure Schöpferkraft des Menschen, die gerade im Bereich der Technik die segensreichsten, aber gleichzeitig potenziell gefährlichen (z. B. Atomkraft, Gentechnik) Erfindungen macht, steigert die Unsicherheit des Menschen. Das Ausgeliefert-Sein des Menschen an den Zufall, zumindest an das Leben mit allen seinen unberechenbaren Seiten wird mit verschiedenen Mitteln zu bewältigen versucht. Der Philosoph Odo Marquard nennt es so: »Früher wurde nichts gemacht, dann wurde einiges gemacht,


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