Angriff auf die Demokratie. Andre Wolf
liefen ihr einmal mehr über die Wangen. Ihr Mascara war verschmiert. Krampfhaft suchte sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Ich stand auf und nahm sie in den Arm. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass Verschwörungsmythen sogar Familien zerstören können. Vor allem nicht die Familie einer sehr lieben Freundin.
Es dauerte ein paar Minuten, bis Nadine sich wieder gefasst hatte. Das endgültige Ende war für sie an dem Punkt erreicht, als Stephan ihr verbieten wollte, ihre kleine Tochter gegen Krankheiten impfen zu lassen. Zwar lassen sich gegen das Impfen von kleinen Kindern auch vernünftige Gründe anführen. Doch Stephans Gründe waren völlig absurd. Er meinte, Impfungen seien ein Instrument der Kontrolle. Regierungen würden Impfungen fordern, um Kinder bereits früh gleichzuschalten, sodass sie keinen eigenen Willen entwickeln würden. Als es um ihre eigene Tochter ging, war bei Nadine die Grenze überschritten. Sie packte ihre wenigen Sachen, nahm ihre Tochter und zog zu ihren Eltern.
Immerhin erwies sich die Scham, die Nadine mit sich trug, als völlig überflüssig. Ihr soziales Umfeld, insbesondere ihre Eltern, hatten längst bemerkt, dass mit Stephan etwas grob im Argen war. Nun stand sie vor den Scherben ihrer Ehe. Vor einem Haus, dessen Zwangsversteigerung bevorstand. Die Gelder reichten hinten und vorne nicht mehr. Stephan weigerte sich, rechtsverbindliche Ansprüche seitens der Bank zu begleichen. Seiner Meinung nach waren all die abgeschlossenen Verträge ungültig.
Von Stephan war sie mittlerweile auch formell geschieden. Kommunikation gab es, wenn überhaupt, nur mehr schriftlich. Wohin es für Nadine gehen würde? Das wusste sie nicht. Die Hände an die leere Tasse geklammert saß sie da. Sie hatte den Ort verloren, an den sie hinwollte: ihren Mann, ihr Haus, ihr Heim, ihre Familie. Was blieb, war Zukunftsangst.
Wir unterhielten uns noch eine Weile über allerlei unverfängliche Dinge. Dabei vergaßen wir etwas die Zeit. Draußen wurde es bereits dunkel. Leichter Nebel hüllte die Häuser mit seinem weißgrauen Schleier ein. Zeit zu gehen, Zeit, sich erneut zu verabschieden. Es war kein leichter Abschied. Das Gespräch hinterließ bei mir einen Kloß im Hals. Das spätherbstliche Wetter passte genau zu meiner Stimmung. Ich krempelte den Kragen meiner Jacke hoch, um meinen Hals vor der feuchten Kälte zu schützen. Vor dem Café blieb ich stehen und blickte Nadine auf ihrem Weg in die Ungewissheit nach.
WAS ICH MIR MIT DIESEM BUCH VORNEHME
Mein Treffen mit Nadine ist nun genau ein Jahr her. Wir haben uns seitdem nicht mehr gesehen, auch nicht mehr gesprochen. Vieles hat sich verändert in den letzten zwölf Monaten, vieles ist jedoch gleichgeblieben. Draußen liegt wieder ein grauer Schleier am Himmel. Das Jahr neigt sich dem Winter zu. Es war bisher kein angenehmes Jahr, sondern ein Jahr mit vielen Irritationen und einer völlig neuen globalen Situation.
Seit Anfang des Jahres hat das Coronavirus uns alle im Griff. Das Coronavirus und vor allem die Maßnahmen dazu. Gesellschaftlich hat sich einiges verändert. Das Virus und die Maßnahmen haben zu einer Radikalisierung sehr vieler Menschen beigetragen. Der enorme Anstieg an Falschmeldungen auf Social Media ist unübersehbar.
Ein messbarer Indikator für diesen Anstieg sind die eingehenden Fragen der Nutzer auf unserer Website. Kurz erklärt: Wer sich die Arbeit bei Mimikama so vorstellt, dass wir das Internet nach Falschmeldungen durchsuchen, liegt falsch. Das können wir unmöglich leisten, das übersteigt unsere Ressourcen bei weitem. Bereits vor Jahren haben wir einen anderen Weg eingeschlagen. Wir haben unsere Leserinnen und Leser gebeten, uns Falschmeldungen oder Fragestellungen zu Inhalten auf Social Media zu senden. Diese Anfragen beantworten wir dann entweder per Mail oder in Form von Artikeln auf unserer Website.
Anhand der Menge der Anfragen zu bestimmten Themen können wir die Menge an Falschmeldungen relativ gut einschätzen. Bei gleichartigen Fragestellungen können wir sogar die Verbreitung einer Falschmeldung einschätzen. Zum Vergleich: Zu ruhigen Zeiten enthält unser Posteingang ca. 120 Anfragen am Tag. Da ist alles bunt gemischt. Von Fake-Shops im Internet bis hin zu Virenanhängen in E-Mails. Auch Hinweise auf Fake News und Verschwörungsmythen bekommen wir per Mail.
Nach Anschlägen oder Katastrophen können wir einen kurzfristigen, jedoch starken Anstieg der Anfragen an uns beobachten. Das ist typisch und damit rechnen wir mittlerweile bereits. Im Fahrwasser solcher Vorfälle tauchen häufig Falschmeldungen auf, die Unsicherheit schaffen. Dann haben wir über einen Zeitraum von zwei bis vier Tagen einen Anfragestrom von ungefähr 200 Anfragen am Tag.
Dann kam Corona. In den ersten Wochen hatten wir eine Sondersituation, die nicht nur kurzfristig angedauert hat. Über einen Zeitraum von mehreren Wochen explodierte die Menge der Anfragen an uns auf über 450 Anfragen am Tag. Sie waren größtenteils monothematisch, sodass wir die Schwerpunkte der Falschmeldungen auf Social Media gut erkennen konnten.
Es waren nicht nur Falschmeldungen. Vor allem die Verbreitung von Verschwörungsmythen hat dazu geführt, dass Menschen sich von Fakten abwenden, ihren Blick auf unbewiesene Mythen richten und sich radikalisieren. In unzähligen Diskussionen bin ich damit konfrontiert. Wissenschaft zählt häufig nicht mehr viel, Meinungen überwiegen vielfach. Meinungen, die leider allzu oft auf falschen Angaben basieren oder aus Verschwörungsmythen resultieren.
Auch an mir selbst habe ich Veränderungen bemerkt. Ich bin nicht mehr so offen und kommunikativ, wie ich es vor einem Jahr noch war. Oder vor zwei Jahren. Der viele Hass und die vielen Lügen haben mich verschlossener gemacht. So habe ich mir während der Lockdown-Phasen angewöhnt, abends teilweise stundenlang zu laufen. Ich laufe alleine, um mit mir und auch meinen Gedanken ins Reine zu kommen. Vieles, was in diesem Buch steht, habe ich in diesen Stunden bereits in meinen Gedanken geschrieben.
In diesen Stunden habe ich mich häufig gefragt, wie es soweit kommen konnte. Eine wichtige Rolle spielen dabei natürlich Social Media als Trägermedien. Social Media sind zu einem Ort geworden, an dem nahezu alle Menschen in unserem Umfeld teilnehmen. Mit Social Media meine ich nicht allein den Dinosaurier Facebook oder das eitle Twitter, sondern alle Plattformen, auf denen Menschen digital miteinander kommunizieren. Denn das zeichnet Social Media aus. Auch WhatsApp und YouTube gehören dazu. Wer von sich behauptet, bei Social Media nicht mitzumachen, übersieht wahrscheinlich die eine oder andere Plattform. Social Media sind im Internet mittlerweile allgegenwärtig.
Aber Social Media allein sind nicht die Ursache für die Radikalisierung. Sie sind lediglich die Plattformen, auf denen immer mehr Menschen radikale Inhalte versenden und empfangen. Daher ist die Frage berechtigt, wie es dazu kommen konnte, dass so viele Menschen sich auf einmal durch Falschmeldungen und Mythen radikalisiert haben. Auch in meinem Freundeskreis habe ich bemerkt, dass einige Menschen tatsächlich überzeugt sind von völlig schwachsinnigen und skurrilen Mythen.
Seit mittlerweile über sieben Jahren übe ich die Tätigkeit des Faktenprüfens aus. Dabei konnte ich beobachten, dass die Falschmeldungen zunehmend politisch motiviert sind. Ich kann mich noch recht gut an das Jahr 2014 erinnern. Es war im Februar, als ich zum ersten Mal eine Falschmeldung entlarvt habe, die Rechtsextreme verbreitet haben. Im Grunde war das nicht schwer. Es ging um die »Eingliederungshilfe«. Rechtsextreme haben behauptet, allen Flüchtenden würden über 2.000 € »Eingliederungshilfe« zustehen. Doch das ist Unsinn. Sie haben den Begriff absichtlich falsch interpretiert. Bei dieser Eingliederungshilfe handelt es sich um eine finanzielle Unterstützung für Menschen mit wesentlicher körperlicher oder geistiger Behinderung. Sie hat also nichts mit Asylbewerbern zu tun. Dennoch war dieser Artikel wichtig: Zu diesem Zeitpunkt habe ich zum ersten Mal bemerkt, wie Manipulation von Menschen mithilfe von bewusster Fehlinterpretation eines Begriffes funktioniert.
Seitdem ist mir die stetig zunehmende Intensität aufgefallen, mit der Rechtsextreme Social Media nutzen, um manipulative Inhalte und Desinformationen zu verbreiten. Doch wer sind diese »Rechtsextremen«? Wir müssen uns von dem alten Bild des Skinhead-Springerstiefel-Nazis verabschieden. Nein, den finden wir auf Social Media kaum vor. Wir haben es mit einer ganz anderen Gruppe von rechtsextremen Aktivisten zu tun. Sie wissen sich gut im Netz und auf Social Media auszudrücken. Bei der Mehrzahl lässt sich eine mittlere oder höhere Bildung vermuten. Diese Gruppe beinhaltet vor allem Männer, jüngere und ältere gleichermaßen. Sie treten meist rechthaberisch und verbal aggressiv auf und nutzen bewusst die Probleme