Angriff auf die Demokratie. Andre Wolf
der rechtsextremen Ideologie ist die Ungleichheit das zentrale Element. Die Vorherrschaft gebühre einer durch Biologie und »Rassenzugehörigkeit« oder »Kultur« bestimmten Gruppe. Diese müsse zum Besten aller Menschen die anderen beherrschen und naturgemäß die Gleichwertigkeit aller Menschen ablehnen. Um die Herrschaft über die Minderwertigen zu etablieren oder zu schützen, seien auch Gewalt und Unterdrückung legitim.
Mit diesem Selbstverständnis agiert auch die Neue Rechte. Neue Rechte, das ist ein Sammelbegriff für intellektuelle, zumeist männliche Konservative. Sie lehnen demokratische Werte ab und versuchen, mit ihren Schriften und Ideologien das demokratische System zum Sturz zu bringen. Sie wissen, dass sie strategisch vorgehen müssen. Der grobe Umsturz hat keine Priorität, weil er einstweilen zu wenig Chancen auf Erfolg hat. Daher konzentriert sich die Neue Rechte auf kulturelle und mediale Vorbereitung des Umsturzes. Daran arbeiten sie beharrlich und erfolgreich seit vielen Jahren.
Sie präsentieren ihre Ansichten als »normal«, obwohl dahinter menschenverachtende Ideologien stecken. Wenn sie diese Inhalte über alltägliche Themen vermitteln (wie eben mit einem weißen Lieferwagen), entstehen Anknüpfungspunkte zu Menschen in der Mitte der Gesellschaft. Viele sind Männer wie Nadines Ex-Mann Stephan, ursprünglich eher konservativ und mit ausgeprägtem Ego, dann aufgrund sozialen Abstiegs oder einer anderen Lebenskrise radikalisiert. In ihrer Wut werden sie zum harten Kern der neuen rechtsextremen Szene.
Ebenfalls eine Rolle spielen die Social-Media-Auftritte von Politikern der rechtspopulistischen Parteien. Die Accounts von deren Spitzenpolitikern sind von enormer Wichtigkeit. Das konnten wir beispielsweise beim Bruch zwischen HC Strache und der FPÖ erkennen. Beide Seiten haben Anspruch auf Straches reichweitenstarken Facebook-Account erhoben. Auch die Löschungen der Social-Media-Auftritte von US-Präsident Trump haben gezeigt, wie wichtig Social Media für die Politik der Rechtspopulisten sind. Über Social Media haben sie eine direkte Verbindung zu ihrem Wahlvolk, ohne von den Medien abhängig zu sein.
Durch diese direkte Verbindung können die parlamentarischen Arme der Rechtsextremen ungefiltert für die stetige Ausweitung des Sagbaren sorgen. Provokationen beherrschen die Veröffentlichungen von Rechtspopulisten und Extremisten. Damit schaffen sie eine moralische Desensibilisierung. Was 2015 vielleicht noch als skandalös galt, können heute die meisten Menschen nur mehr müde belächeln.
Aber es sind nicht nur Falschmeldungen und Provokationen, die schleichend den Diskurs vergiften. Auf Social Media greifen die Rechtsextremen vorzugsweise jene Menschen an, die sich gegen Falschmeldungen zur Wehr setzen oder sich für die Werte der Demokratie einsetzen. Angesichts von Untergriffen aller Art schwindet die Diskussionsfähigkeit auf Social Media. Gerade wenn es um politische Themen geht, steht nicht mehr der Kompromiss oder die Arbeit an einer Lösung im Vordergrund. Stattdessen verwenden die Rechtsextremen Lügen und menschenverachtende Strategien, um ihre Gegner zum Schweigen zu bringen.
Diese Vorgänge, die ich in diesem Buch im Detail erläutern werde, zeugen von einem recht beängstigenden Comeback der extremen Rechten. Mehr als 75 Jahre nach Ende des Dritten Reiches treten Rechtsextreme wieder offen in der Mitte der Gesellschaft auf. Sie halten Reden auf Demonstrationen. Sie waren beim Sturm auf das Kapitol in den USA dabei. Ich habe das Gefühl, je weiter wir uns zeitlich vom Holocaust und dem Dritten Reich entfernen, desto lauter werden Rechtsextreme. Über Social Media dringen sie mit ihren Botschaften in den letzten Jahren immer massiver in die Mitte der Gesellschaft ein.
Dies gelingt ihnen umso besser vor dem Hintergrund der Coronakrise, die uns alle in eine völlig neue Situation gebracht hat. Die Angst ist allgegenwärtig. Angst vor gesundheitlichen Problemen, Angst vor wirtschaftlichen Folgen. Dazu kommt die diffuse Angst vor vielerlei Dingen, die Mythen und Falschmeldungen den Menschen nahebringen. Ja, viele Menschen haben Angst. Die Rechtsextremen nutzen Angst und auch Frust als starke Emotionen, um Menschen auf Social Media und darüber hinaus zu manipulieren.
Zu meiner Person
Wissen baut Ängste ab. Ängste verschwinden, wenn deren Anlass sich als Falschmeldung entpuppt. Aus leidiger Erfahrung weiß ich, wie ein Fake aufgebaut sein muss, damit er sich optimal verbreitet. Falschmeldungen entlarve ich täglich. Damit versuche ich, Ängste zu reduzieren. Außerdem beobachte ich die Entwicklung der partizipativen Kulturen auf Social Media.
Zu diesem Job bin ich nicht gekommen, weil jemand gerufen hat: »Hey Wolf, wir brauchen dich!« Es waren vielmehr zwei unterschiedliche Wege, die sich schließlich gekreuzt haben, weil sie gut zusammenpassen. Ursprünglich habe ich evangelische Theologie studiert. Auf den ersten Blick mag das seltsam erscheinen. Was hat das Theologiestudium mit dem Faktenprüfen zu tun? Sehr viel, wenn wir genauer hinschauen.
Es gibt kaum ein Buch auf dieser Welt, das so oft und intensiv auf Fakten, Traditionen, Herkünfte und Aussagen hin geprüft wurde wie die Bibel. Ganz besonders von der Evangelischen Theologie. Es gehört zum Grundhandwerkszeug dieses Studiums, Inhalte auf Herkunft und Überlieferung hin zu prüfen. Aus dem Studium habe ich zwei wichtige Arbeitselemente übernommen, die Teil der täglichen Arbeit eines Faktenprüfers sind. Erstens den Aufbau einer Exegese, zweitens die Synopse.
Bei der Exegese handelt es sich um eine wissenschaftliche Auslegung verschiedenster Texte. Hauptaufgabe ist es, herauszufinden, was die zentrale Aussage eines Textes ist, wo sie verändert wurde und warum sie verändert wurde. Natürlich suchen die Exegeten auch nach Anhaltspunkten, wer diese Aussage verändert hat und was diese Veränderung bewirken sollte. Typischerweise sind Texte aus der Bibel Gegenstand der Exegese. Aber sie funktioniert nach denselben Prinzipien auch bei allen möglichen anderen Texten.
Bei einer Synopse handelt es sich um eine vergleichende Arbeit. Wir betrachten verschiedene Texte nebeneinander und beurteilen, was sie gemeinsam haben oder was sie unterscheidet. Dabei kristallisiert sich heraus, wer Änderungen gemacht hat. Es ist erkennbar, welcher Text der älteste ist und welcher Text Sondergut trägt. Klassischerweise dient eine Synopse dem Vergleich der Evangelien, lässt sich aber genauso mit allen möglichen Texten machen, die Ähnlichkeiten aufweisen.
Obwohl ich Theologie studiert habe, kam Pfarrer als Beruf für mich später nicht mehr in Frage. Meine berufliche Laufbahn begann ich als Verantwortlicher für Medien und Kommunikation in einem mittelständischen Betrieb. In diesen Jahren war es auch meine Aufgabe, als Administrator die IT des Unternehmens zu betreuen. Schlussendlich waren es sieben Jahre, die nichts mit der Theologie zu tun hatten, in denen ich viel technisches Wissen sammeln und umsetzen konnte.
Dann kam Mimikama, ein kleiner Verein, 2011 gegründet, um Menschen auf Social Media zu helfen. Ursprünglich ging es darum, Menschen vor Fallen auf Facebook zu bewahren. Mimikama ist ein Verein gegen Internetmissbrauch, wo niemand am Anfang mit einem Sack voll Geld gestanden hat und gesagt hat: »Mimikama, Ihr müsst jetzt was gegen Internetmissbrauch tun«. Nein, das war anders. Der Verein ist aus reinem Eigenantrieb entstanden. Der Gründer wollte andere Menschen vor einer Falle bewahren, in die er selbst getappt war. Das hat so gut funktioniert, dass er weitergemacht hat. Nein, natürlich nicht in eine Falle tappen, sondern andere davor warnen.
Es war diese Arbeit des Vereins, in der meine beiden beruflichen Wege sich vereint haben. Die Suche nach den Ursprüngen von Behauptungen, die Prüfung, ob jemand etwas verändert oder manipuliert hat, aber auch die Analyse technischer Abläufe von Social Media und des Internets, hier kommt alles zusammen, was ich bis dahin in meinen verschiedenen Laufbahnen erlernt habe.
Gleichzeitig hat die Arbeit auch etwas menschlich Befriedigendes. Der Job hier macht zwar nicht reich und auch nicht schön, er macht aber in einem gewissen Umfang glücklich. Denn ich darf Menschen helfen und ihnen ihre Ängste nehmen. Andererseits stimmt der Job auch nachdenklich. Das ist mein großes Problem.
Im Zuge meiner Arbeit habe ich den anfangs schleichenden, mittlerweile recht lauten Angriff auf unsere demokratischen Werte mitverfolgt. Da werden Menschen zum Schweigen gebracht. Da werden mithilfe von Lügen ganze Gruppen von Menschen zum Feindbild deklariert und angegriffen. Mittlerweise sehe ich unsere pluralistische und offene Gesellschaft in Gefahr, wenn Rechtsextreme über Social Media ganz unverhohlen ihre Umsturzpläne propagieren. Das kann ich nicht einfach tolerieren.
Das Schlimme daran ist, dass diese