Existenzielle Psychotherapie. Irvin D. Yalom
alltäglichen Arbeit begegnen.
Patienten, denen auch nur die kleinste Ermutigung gegeben wird, werden außerordentlich viel Material, das mit der Sorge über den Tod zusammenhängt, einbringen. Sie sprechen über den Tod von Eltern oder Freunden, sie machen sich Sorgen über das Altwerden, ihre Träume werden vom Tod heimgesucht, sie gehen zu Klassentreffen und sind schockiert, wie sehr die anderen gealtert sind, sie bemerken, wie die Kinder die Macht übernehmen; zuweilen merken sie plötzlich, dass sie sich an den Freuden der herumsitzenden alten Menschen erfreuen. Sie sind sich vieler kleiner Tode bewusst: Altersschwäche, Leberflecke auf ihrer Haut, graue Haare, steife Glieder, gebeugte Haltung, sich vertiefende Falten. Die Pensionierung naht, die Kinder verlassen das Haus, sie selbst werden Großeltern, ihre Kinder sorgen für sie, der Lebenszyklus erfasst sie. Andere Patienten mögen von Vernichtungsängsten sprechen: die verbreitete schreckliche Fantasie, dass irgendein mordbegieriger Angreifer sich Zugang zum Haus verschafft, oder angstvolle Reaktionen auf Gewalt im Fernsehen oder Kino. Die Arbeit in der Endphase in der Therapie ist bei jedem Patienten von Unterströmungen der Sorge über den Tod begleitet, wenn der Therapeut nur zuhört.
Meine persönliche klinische Erfahrung bestätigt die Allgegenwart von der Besorgnis über den Tod in hohem Maße. Während der ganzen Zeit, die ich an diesem Buch schrieb, ist mir sehr viel bis dahin unsichtbares klinisches Material aufgefallen. Zweifellos habe ich den Patienten in einem gewissen Ausmaß Stichworte gegeben, damit sie mich mit bestimmtem Beweismaterial versorgen. Aber ich glaube daran, dass es im Großen und Ganzen immer da war; ich war einfach nicht richtig darauf eingestellt. Beispielsweise habe ich weiter oben in diesem Kapitel zwei Patienten, Joyce und Beth, angeführt, die alltägliche klinische Probleme hatten, welche sich auf den Aufbau und die Beendigung zwischenmenschlicher Beziehungen bezogen. Bei gründlicherer Nachfrage zeigten beide Frauen viele Sorgen über existenzielle Fragen, die ich niemals hätte erkennen können, hätte ich nicht den angemessenen psychologischen Rahmen dafür gehabt.
Ein anderes Beispiel des »Sich-Einstimmens« wird von einer Therapeutin angeboten, die eine Samstagsvorlesung, die ich über das Thema der Todesangst hielt, besuchte. Ein paar Tage später schrieb sie in einem Brief:
… ich erwartete nicht, dass das Thema jetzt in meiner Arbeit auftauchen würde, da ich Berater am Reed College bin, und unsere Studenten gewöhnlich bei guter körperlicher Verfassung sind. Aber meine erste Verabredung am Montagmorgen war mit einer Studentin, die zwei Monate vorher vergewaltigt worden war. Sie litt seither an vielen unangenehmen und schmerzhaften Symptomen. Sie gab mit einem verlegenen Lachen den Kommentar von sich, »Wenn ich nicht an dem einen sterbe, sterbe ich an dem anderen.« Es geht wohl teilweise auf ihre Bemerkungen zurück, dass das Interview sich ihrer Angst vor dem Sterben zuwandte, und dass vergewaltigt zu werden und zu sterben Dinge waren, von denen sie glaubte, dass sie nur anderen Menschen zustoßen würden. Sie fühlte sich jetzt verletzlich und überflutet von Ängsten, die gewöhnlich unterdrückt waren. Sie schien erleichtert, dass es in Ordnung war, darüber zu sprechen, dass man vor dem Sterben Angst hat, auch wenn keine tödliche Krankheit im eigenen Körper gefunden werden kann.79
Psychotherapeutische Sitzungen, die eine auch nur vorübergehende Begegnung mit dem Tod berücksichtigen, bieten viel klinisches Material an. Träume sind natürlich besonders fruchtbares Quellenmaterial. Eine dreißigjährige Frau beispielsweise träumte in der dem Begräbnis eines alten Freundes folgenden Nacht: »Ich sitze und sehe fern. Der Arzt kommt herüber und untersucht meine Lungen mit einem Stethoskop. Ich werde wütend und frage ihn, welches Recht er hat, das zu tun. Er sagte, ich würde rauchen wie ein Schlot. Er sagte, ich hätte eine weit fortgeschrittene ›Stundenglas‹-Krankheit in meinen Lungen.« Die Träumerin raucht nicht, aber ihr toter Freund rauchte drei Päckchen am Tag. Ihre Assoziation zur »Stundenglas«-Krankheit der Lunge war, »die Zeit rinnt davon.«80
Die Verleugnung spielt eine zentrale Rolle für die selektive Unachtsamkeit eines Therapeuten für den Tod in der Therapie. Verleugnung ist eine allgegenwärtige und mächtige Abwehr. Wie eine Aura umgibt sie den Affekt, der mit dem Tod assoziiert wird, wann immer er erscheint. (Ein Witz aus Freuds umfangreicher Sammlung verdeutlicht das, als ein Mann zu seiner Frau sagt: »Wenn einer von uns beiden vor dem anderen stirbt, denke ich, werde ich nach Paris umziehen.«)81 Die Verleugnung verschont den Therapeuten nicht, und im Behandlungsprozess gehen die Verleugnung des Therapeuten und die Verleugnung des Patienten eine Kollusion ein. Viele Therapeuten haben ihre persönliche Angst vor dem Tod nicht erforscht und durchgearbeitet, obwohl sie viele Jahre lang selbst in Analyse waren; sie vermeiden diesen Bereich auf phobische Weise in ihrem persönlichen Leben und sind selektiv unachtsam für Material in der psychotherapeutischen Praxis, das offensichtlich mit dem Tode verknüpft ist.
Zusätzlich zu der Verleugnung jedes einzelnen Therapeuten gibt es eine kollektive Verleugnung im gesamten Feld der Psychotherapie. Diese kollektive Verleugnung kann am besten verstanden werden, wenn man erforscht, warum der Tod aus den formalen Angsttheorien ausgelassen wurde. Obwohl Angst eine absolut zentrale Rolle sowohl in der Theorie als auch in der täglichen Praxis der dynamischen Psychotherapie spielt, wird dem Tod in den traditionellen dynamischen Theorien der Angst kein Platz eingeräumt. Wenn wir die therapeutische Praxis ändern, die klinische Hebelwirkung, die der Begriff des Todes zur Verfügung stellt, nutzen wollen, wird es notwendig sein, die Rolle des Todes in der Genese der Angst darzustellen. Es gibt keinen besseren Weg, damit anzufangen, als dass man den Spuren der Evolution des psychodynamischen Angstbegriffs folgt und versucht, die systematische Ausklammerung des Todesbegriffs zu verstehen.
Freud: Angst ohne den Tod
Freuds Ideen haben das Feld so sehr beeinflusst, dass die Evolution des dynamischen Gedankenguts zu einem großen Teil die Evolution von Freuds Gedankengut ist. Trotz seines außerordentlichen, der Zeit vorauseilenden Wissens glaube ich jedoch, dass er im Bereich des Todes einen hartnäckigen blinden Fleck hatte, der einige sehr offensichtliche Aspekte der inneren Welt des Menschen für ihn verdeckte. Ich werde einiges Material präsentieren, um zu veranschaulichen, wie Freud den Tod in seinen klinischen und theoretischen Überlegungen vermied, und dann einige Gründe dafür nennen, die hinter dieser Vermeidung stecken können.
Freuds Meiden des Todes
Freuds erster bedeutsamer klinischer und theoretischer Beitrag erschien in den Studien über Hysterie, die er mit Josef Breuer 1895 schrieb.82 Es ist eine faszinierende Arbeit und verdient Aufmerksamkeit, denn sie illustriert auf überzeugende Weise eine selektive Unaufmerksamkeit für den Tod, und sie legt die Grundlage für den Ausschluss des Todes aus dem gesamten Bereich dynamischer Therapie, die aus ihr hervorging. Das Buch führt fünf Hauptfälle auf, einen (Anna O.) von Breuer und vier von Freud. Mehrere andere Fälle tauchen in den Fußnoten und Diskussionsabschnitten in fragmentarischer Form immer wieder einmal auf. Jeder der Patienten beginnt die Therapie mit starken Symptomen, die Lähmung, Anästhesie, Schmerz, Ticks, Müdigkeit, Zwangshandlungen, Erstickungsgefühle, Geschmacks- und Geruchsverlust, linguistische Desorganisationen, Amnesie und so weiter einschließen. Auf Grund der Untersuchung dieser fünf Patienten stellten Freud und Breuer eine Ätiologie der Hysterie und die systematische Form einer Therapie auf, die auf dieser Ätiologie gründet.
Die fünf Patienten litten alle an einem wichtigen emotionalen Trauma, das sich früh in ihrem Leben ereignete. Freud bemerkt, dass ein Trauma, obwohl es störend ist, keine anhaltenden Wirkungen hervorbringt, weil die Emotionen, die dadurch ausgelöst wurden, zerstreut werden: entweder sie werden abreagiert (die Person geht durch eine Katharsis, indem sie die Emotion auf eine effektive Weise zum Ausdruck bringt) oder auf andere Weise durchgearbeitet (Freud stellt fest, dass die Erinnerung an Traumata in »den großen Komplex der Assoziationen eintritt. Sie (Erinnerung) rangiert dann neben anderen, vielleicht ihr widersprechenden Erlebnissen«und wird dann »korrigiert«, richtig gestellt oder einem Realitätstest unterzogen, zum Beispiel indem man mit einer Beleidigung umgehen kann, wenn man an seine Errungenschaften und Stärken denkt.)83
Bei diesen fünf Patienten verteilte sich das Trauma nicht, sondern verfolgte das Opfer stattdessen kontinuierlich. (»Der Hysterische leidet größtenteils an Reminiszenzen.«84) Freud wies darauf hin, dass die Erinnerung an das Trauma und