Existenzielle Psychotherapie. Irvin D. Yalom

Existenzielle Psychotherapie - Irvin D. Yalom


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– gebildet wird, eine Angst, die kalt, unheimlich und roh ist, eine Angst, die vor und jenseits aller Sprache und allen Vorstellungsvermögens existiert.

      Dem Kliniker begegnet die Todesangst in ihrer krassen Form selten: Diese Angst wird mit üblicher Abwehr gehandhabt (zum Beispiel Verdrängung, Verschiebung, Rationalisierung) und durch einige Abwehrmechanismen, die nur für sie spezifisch sind (s. u. Kap. 4). Natürlich sollte diese Situation uns nicht übermäßig beunruhigen: Sie gilt für jede Theorie der Angst. Primäre Angst wird immer in etwas weniger Giftiges für die Person umgewandelt; das ist die Funktion des ganzen Systems psychologischer Abwehrmechanismen. Es ist selten, dass ein Kliniker unverhohlene Kastrationsangst (um Freuds Bezugsrahmen zu verwenden) beobachten kann; stattdessen sehen wir einige Verwandlungen der Angst. Zum Beispiel kann ein männlicher Patient phobisch auf Frauen reagieren oder kann ängstlich beim Rivalisieren mit Männern in bestimmten sozialen Situationen sein oder kann dazu neigen, sexuelle Befriedigung in anderer Weise zu suchen als über sexuellen Kontakt mit dem anderen Geschlecht.

      Ein Kliniker jedoch, der ein existenzielles Bezugssystem entwickelt hat, wird die »umgeformte« Todesangst erkennen und erstaunt sein, wie häufig und vielfältig sie in Erscheinung tritt. Lassen Sie mich ein paar klinische Beispiele anführen.

      Ich begegnete vor Kurzem zwei Patienten, die Therapie nicht wegen existenzieller Angst suchten, sondern um alltägliche schmerzhafte Beziehungsprobleme zu lösen.

      Joyce war eine dreißigjährige Universitätsprofessorin, die mitten im schmerzhaften Prozess einer Scheidung war. Sie hatte ihr erstes Rendezvous mit Jack, als sie fünfzehn war, und heiratete ihn mit einundzwanzig. Die Ehe war mehrere Jahre lang offensichtlich nicht gut gegangen, und sie hatten sich vor drei Jahren getrennt. Obwohl Joyce eine befriedigende Beziehung zu einem anderen Mann aufgenommen hatte, war sie nicht in der Lage, ihre Scheidung voranzutreiben. Tatsächlich bestand ihre Hauptbeschwerde, als sie die Therapie begann, in unkontrolliertem Weinen, wann immer sie mit Jack sprach. Eine Analyse ihres Weinens deckte mehrere wichtige Faktoren auf.

      Erstens war es von höchster Bedeutung, dass Jack sie auch weiterhin liebte. Obwohl sie ihn nicht mehr liebte und begehrte, wünschte sie sich sehr, dass er oft an sie dachte und sie so liebte, wie er nie eine andere Frau geliebt hatte. »Warum?« fragte ich. »Jeder möchte, dass man sich an ihn erinnert«, antwortete sie. »Es ist ein Weg, wie ich meiner Nachwelt erhalten bleiben kann.« Sie erinnerte mich an das jüdische Kaddish-Ritual, das um die Annahme herum aufgebaut ist, dass man weiterexistiert, solange man in der Erinnerung seiner Kinder ist. Würde Jack sie vergessen, würde sie ein wenig sterben. (Allen Sharp beschreibt in A Green Tree in Geddes einen kleinen mexikanischen Friedhof, der in zwei Teile aufgeteilt ist: die »Toten«, deren Gräber noch mit Blumen geschmückt werden, die die sie Liebenden auf sie legen, und die »wirklich Toten«, deren Grabstätten nicht länger erhalten werden – keine lebende Seele erinnert sich ihrer.35 In einem bestimmten Sinn sterben auch viele andere, wenn eine sehr alte Person stirbt; die tote Person nimmt sie mit. All jene kürzlich gestorbenen, derer sich keiner mehr erinnert, sterben erst in diesem Moment »wirklich«.

      Eine andere Quelle von Joyce’ Tränen war ihr Gefühl, dass sie und Jack schöne und wichtige gemeinsame Erfahrungen hatten. Sie hatte das Gefühl, dass diese Ereignisse ohne ihr Zusammensein zerrinnen würden. Das Schwinden der Vergangenheit gemahnt lebhaft an den gnadenlosen Fluss der Zeit. In dem Maß, in dem die Vergangenheit schwindet, verkürzt sich das Band der Zukunft. Joyce’ Ehemann half ihr, die Zeit einzufrieren – die Zukunft ebenso wie die Vergangenheit. Obwohl sie sich dessen nicht bewusst war, war es klar, dass Joyce Angst hatte, die Zukunft aufzubrauchen. Sie hatte zum Beispiel die Gewohnheit, niemals eine Aufgabe vollständig fertig zu machen. Wenn sie ihre Hausarbeit erledigte, ließ sie immer eine Ecke des Hauses ungeputzt. Sie hatte Angst, »fertig« zu sein. Sie begann niemals ein Buch zu lesen, ohne ein anderes auf ihrem Nachttisch zu haben, das darauf wartete, gelesen zu werden. Man fühlt sich an Proust erinnert, dessen Hauptwerke der Flucht vor »den verschlingenden Klauen der Zeit« gewidmet sind, indem er die Vergangenheit wieder einzufangen sucht.

      Die Angst vor dem Versagen war noch ein anderer Grund, warum Joyce weinte. Das Leben war bis vor kurzem eine ununterbrochene Erfolgsleiter gewesen. In ihrer Ehe zu versagen bedeutete, dass sie, wie sie es oft formulierte, »genau wie jede andere« sein würde. Obwohl sie beachtliche Talente hatte, waren ihre Erwartungen doch zu grandios. Sie stellte sich vor, internationalen Ruhm zu erringen, vielleicht sogar den Gewinn eines Nobelpreises für ein Forschungsprogramm, das sie in Angriff nehmen wollte. Sollte dieser Erfolg nicht innerhalb von fünf Jahren eintreten, plante sie, ihre Energie der Literatur zu widmen und ein neues You can’t go home again (dt.: Es führt kein Weg zurück; Erfolgsroman von Thomas Wolfe aus dem Jahr 1940; [Anm. Übers.]) zu schreiben – obwohl sie niemals schriftstellerisch tätig war. Doch es gab einen Grund für ihr Gefühl der Besonderheit: Bis jetzt hatte sie bei keinem Erreichen jedes ihrer Ziele versagt. Das Scheitern ihrer Ehe war die erste Unterbrechung ihres Aufstiegs, die erste Herausforderung für ihre solipsistische, anmaßende Welt. Das Scheitern der Ehe bedrohte ihr Gefühl der Besonderheit, das, wie ich im vierten Kapitel erörtern werde, einer der verbreitetsten und mächtigsten, den Tod verleugnenden Abwehrmechanismen ist.

      Joyce’ allgemeines Problem hatte also Wurzeln, die zur ursprünglichen Todesangst zurückführten. Für mich als existenziell orientiertem Therapeuten hatten diese klinischen Phänomene – der Wunsch, geliebt und ewig erinnert zu werden, der Wunsch, die Zeit einzufrieren, der Glaube an die persönliche Unverletzlichkeit, der Wunsch, miteinander zu verschmelzen – alle die gleiche Funktion für Joyce: die Todesangst zu mildern. Als sie jedes von ihnen analysierte und die gemeinsame Quelle dieser Phänomene allmählich verstand, besserte sich Joyce’ klinisches Bild beträchtlich. Am überraschendsten war, dass sie, als sie ihr neurotisches Verlangen nach Jack aufgab und ihn nicht länger dafür benutzte, dem Tod zu trotzen, in der Lage war, sich ihm zum ersten Mal in einer wahrhaft liebevollen Weise zuzuwenden und die Ehe auf einer völlig neuen Basis zu gestalten. Aber das ist ein anderes Thema, das ich im achten Kapitel ansprechen werde.

      Dann gab es da eine dreißigjährige alleinstehende Frau, Beth, die wegen ihrer Unfähigkeit, eine befriedigende Beziehung mit einem Mann herzustellen, zur Therapie kam. Sie hatte bei vielen vorhergehenden Gelegenheiten »schlecht gewählt«, wie sie es nannte, und hatte die Beziehung abgebrochen, weil sie ihr Interesse an dem Mann verlor. Während sie in Therapie war, wiederholte sie diesen Zyklus: Sie verliebte sich in einen Mann, geriet in einen quälenden Zustand der Unzufriedenheit und war schließlich nicht in der Lage, sich auf ihn einzulassen.

      Als wir ihr Dilemma analysierten, wurde deutlich, dass sie sich gedrängt fühlte, eine dauerhafte Beziehung herzustellen: Sie hatte die Einsamkeit satt, hatte es satt, allein zu leben, und wünschte sich verzweifelt, Kinder zu haben. Der Druck nahm zu, weil sie sich Sorgen darüber machte, dass sie älter wurde und das gebärfähige Alter vorüberging.

      Als ihr Liebhaber jedoch mit ihr über die Heirat sprechen wollte, geriet sie in Panik; und je mehr er sie drängte, desto ängstlicher wurde sie. Beth verglich die Ehe damit, an der Wand festgenagelt zu werden: Sie wäre für immer in der gleichen Art festgelegt, wie Tiere in der Biologie durch Formaldehyd fixiert werden. Es war wichtig, weiter zu wachsen, jemand anderes zu werden, jemand anderes zu werden als sie war; und sie fürchtete, ihr Liebhaber wäre zu genügsam, zu zufrieden mit sich und dem Leben. Allmählich wurde Beth die Bedeutung dieses Motivs für ihr Leben bewusst. Sie hatte nie in der Gegenwart gelebt. Selbst wenn sie aß oder ein Mahl servierte, war sie schon einen Gang voraus; wenn sie das Hauptgericht aß, waren ihre Gedanken bei dem Nachtisch. Sie hatte oft mit Schrecken über das »sich Niederlassen« nachgedacht, das sie mit »sich zur Ruhe setzen« gleichsetzte. »Ist das alles, was es im Leben gibt?« fragte sie sich oft selbst, wenn sie über Heirat oder irgendeine andere Form des Sich- Einlassens nachdachte.

      Als Beth in der Therapie in diese Bereiche eintauchte – ihr Zwang, immer einen Schritt weiter zu sein, ihre Angst vor dem Altwerden, vor dem Tod und dem Stillstand – wurde sie noch ängstlicher als je zuvor. An einem Abend nach einer Sitzung, in der wir besonders tief geforscht hatten, erlebte sie außergewöhnliche panische Angst. Als sie ihren Hund ausführte, hatte sie das unheimliche Gefühl, dass sie von irgendeinem unwirklichen Wesen verfolgt wurde. Sie schaute nach


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